Thesenpapier der CDU/CSU-Fraktion zur Einwanderungspolitik:

"Nationales Interesse" soll oberste Priorität vor humanitären und demokratischen Grundsätzen erhalten

Der schreckliche Erstickungstod von 58 chinesischen Flüchtlingen bei ihrer Überfahrt in einem luftdicht abgeschlossenen LKW von Belgien nach Dover Anfang letzter Woche hat weltweit Bestürzung ausgelöst. Vertreter von Flüchtlingsorganisationen wiesen auf den Zusammenhang zwischen der europäischen Abschottungspolitik gegenüber Asylsuchenden und dem Aufblühen des kriminellen Schlepperwesens hin. So äußerte sich Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl, gegenüber der Frankfurter Rundschau vom 20. Juni: "Das perfekte System der Flüchtlingsabwehr in Deutschland und der EU" lasse Flüchtlingen "fast nur die Wahl, die illegale Einreise mit Hilfe von Schleppern zu versuchen." Tausende von Menschen haben ihre versuchte Flucht nach Europa in den letzten Jahren mit dem Leben bezahlt.

Die Reaktionen der verantwortlichen Politiker auf das Flüchtlingsdrama von Dover bestanden ohne Ausnahme nur in einem erneuten Ruf nach noch stärkeren und effektiveren Polizeimaßnahmen und noch strengeren Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen und in den Ländern der EU-Beitrittskandidaten, um die "illegale Einreise" von Menschen in Not zu verhindern.

Vor dem Hintergrund dieser Tragödie fand auch die Klausurtagung des geschäftsführenden Vorstands der CDU/CSU-Fraktion am 20. /21. Juni in Luckenwalde statt. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach legte dort ein ausführliches Diskussionspapier zur Einwanderungs- und Asylpolitik vor. Es wurde beraten und die Schlussfolgerungen daraus als "Luckenwalder Erklärung" mit der Überschrift "Zur Zuwanderungsbegrenzung und Zuwanderungssteuerung im Interesse unseres Landes" verabschiedet.

Die CDU/CSU-Fraktion ändert damit ihre Position. Bisher hatte sie mit der Begründung, Deutschland sei "kein Einwanderungsland", jede gesetzliche Regelung der Einwanderung abzulehnen. Nun vollzieht sie einen Schwenk zur sozialen Selektion.

So fordert die "Luckenwalder Erklärung" die "Begrenzung der ungesteuerten Zuwanderung von denjenigen, die uns brauchen, um Spielraum für Zuwanderung für diejenigen zu gewinnen, die wir brauchen." Im nächsten Punkt wird nochmals erläutert, dass es ein "bloßes Nebeneinander der bereits vorhandenen ungeregelten Zuwanderung und einer hinzutretenden gezielten und gewollten Zuwanderung" aus wirtschaftlichen Gründen nicht geben dürfe.

"Die Interessen unseres Landes müssen dabei selbstverständlich genauso ihren Rang einnehmen wie die unbestrittenen humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands", heißt es weiter. Während der letzte Teil des eben angeführten Satzes nur der notdürftigen Verschleierung dient, wird im nächsten Punkt gefordert, die Reste des Asylrechts, die nach dem Asylkompromiss von 1993 noch übrig geblieben sind, nicht zum Tabu zu erklären.

In seinem ausführlichen Papier schlägt Bosbach vor, das Grundgesetz zu ändern und das Individualrecht auf Asyl in eine institutionelle Garantie umzuwandeln. Dies hatte Innenminister Otto Schily (SPD) bereits letzten Oktober in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit gefordert: Die Abschaffung des Asylrechts als ein durch den Asylsuchenden einklagbares demokratisches Grundrecht und seine Umwandlung in einen Gnadenakt, womit der Staat willkürlich umgehen kann.

Neu an dem Papier der CDU/CSU-Fraktion ist die Unverblümtheit, mit der die Abschaffung eines demokratischen Grundrechts und die Nichtberücksichtigung humanitärer Grundsätze gefordert wird. Vorrang vor allen anderen Erwägungen bei der Einwanderungspolitik soll das nationale Interesse haben. Dies wird in dem letzten Punkt der "Luckenwalder Erklärung" nochmals hervorgehoben: "Gesenkt werden müssen Anreize für diejenigen, die nicht im Interesse unseres Landes oder aus anerkannt humanitären Gründen zuwandern."

Die renommierte Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juni reagierte mit regelrechter Begeisterung auf das Papier der CDU/CSU zur Einwanderung. Sie würdigte es mit einem Leitartikel und Kommentar auf der ersten Seite, die nur allzu deutlich vorführen, welche Niedertracht in den herrschenden Kreisen als seriös gilt.

Unter der Überschrift "Ehrlich machen" fordert sie die CDU auf, keine falsche Scham walten zu lassen. Ihr Papier liege richtig mit seinen Aussagen; Einwanderung könne auch eine Bereicherung sein, "Zuwanderung dürfe sich nicht nur an den Bedürfnissen derjenigen orientieren, die es in ihrem eigenen Land nicht mehr aushalten, sondern auch an ,den Interessen unseres Landes'. Im Zusammenhang mit dem Asylrecht klingt das für manche verstörend. Es ist aber unausweichlich, dass Deutschland nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik nationale Interessen definiert, sondern sich auch innenpolitisch erreichbare Ziele setzt. Geißlers Hinweis, das Asylrecht sei Menschenrecht, befreit nicht davon, sich darüber Gedanken zu machen, wie dieses Recht am besten zu schützen ist."

Der Hinweis darauf, dass Einwanderung auch eine Bereicherung sein könne, stellt mit Sicherheit eine Reaktion auf die deutliche Ablehnung von Seiten der Wirtschaft auf die Rüttgers-Kampagne im NRW-Wahlkampf "Kinder statt Inder" bzw. "Ausbildung statt Einwanderung" dar. Diese althergebrachte Form der ausländerfeindlichen Demagogie kollidierte mit dem dringenden Bedarf der Konzerne an hochspezialisierten Fachkräften in der Informationstechnologie und anderen Bereichen. Nun wird eine neue Form entwickelt: Jegliche Einwanderung soll darauf abgeklopft werden, ob sie dem Interesse der deutschen Wirtschaft dient. Demokratische Rechte und Menschenrechte werden ganz explizit dem wirtschaftlichen Interesse untergeordnet bzw. geopfert.

Angesichts von Formulierungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der "ungeregelte Zustrom unerwünschter und sozial belastender Ausländer" gestoppt werden müsse, fragt man sich, was in den Augen dieser Leute zum Beispiel in nächster Zeit aus sozial benachteiligten oder kranken Menschen, die nicht von unmittelbarem wirtschaftlichen Nutzen sind, geschehen soll. Lesen und Hören wir in naher Zukunft wieder von "Untermenschen" und "unwerten Leben"?

Das Papier der CDU/CSU fügt sich ein in die seit Monaten immer wieder aufflammende Diskussion über das Asylrecht und die Forderungen, es zugunsten eines Einwanderungsgesetzes abzuschaffen oder zumindest noch mehr einzuschränken. Auch Innenminister Otto Schily forderte vor kurzem erneut in einem Spiegel-Interview (Nr. 24/2000) eine "Diskussion ohne Tabus".

Im Einvernehmen mit Bundeskanzler Schröder wird jetzt eine Sachverständigenkommission einberufen, die Richtlinien zur Einwanderungspolitik, die Integration ausländischer Arbeitskräfte und die Überprüfung des Paragrafendschungels im Asylrecht erarbeiten soll. Rita Süssmuth (CDU) wurde von Gerhard Schröder zur Vorsitzenden der Kommission ernannt. Schilys Innenministerium begrüßte die von der CDU vorgelegten Positionen zur Einwanderungspolitik als eine gute Grundlage für die Mitarbeit der Union in dieser Kommission - ein Angebot, das die CDU-Spitze bisher ausgeschlagen hatte. "Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung, die die Sozialkassen erheblich belastet, und Zuwanderung, die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht", betonte Schily - fast wortgleich mit der CDU/CSU-Fraktionsspitze - in einem Interview mit der Berliner Zeitung am 26. Juni.

In dem bereits erwähnten Spiegel -Interview bejaht Schily die Frage, ob die Kommission ähnlich arbeiten solle, wie die Weizsäcker-Kommission zur Reform der Bundeswehr. Auf die Frage des Spiegel: "Erwarten Sie vor allem pragmatische Lösungen, oder soll eher eine Grundsatzdiskussion nachgeholt werden?" antwortet Schily: "Mir geht es um praktische Lösungsvorschläge, wie wir die Zuwanderung besser als bisher unter Wahrung unserer humanitären Grundsätze und zugleich entsprechend unseren wirtschaftlichen und politischen Interessen steuern können."

Ähnlich wie diesbezügliche Vorschläge und Überlegungen in England, stellt Schily in dem Interview Überlegungen an, mögliche Asylbewerber bereits in ihren Heimatländern abzuwehren oder nach bestimmten Kriterien aufzunehmen. Dabei sollten dann alle beteiligten staatlichen Stellen - Außenministerium, Auslandsvertretungen, Bundesamt für die Anerkennung von Asylbewerbern bzw. (demnächst) Einwanderung, Arbeitsämter, Polizeibehörden, Gemeinden, usw. - zusammenwirken und vernetzt werden.

Um den Abbau bzw. die Einschränkung des demokratischen Rechts auf Asyl zu rechtfertigen, wird immer wieder die Europäische Union und die Harmonisierung des Asylrechts angeführt. Als die EU-Kommission vor kurzem gemeinsame Mindeststandards für den Zuzug von Bürgern aus Drittstaaten in die EU vorlegte, die unter anderem die Familienzusammenführung von bereits in der EU lebenden Ausländern erleichtern würde, stieß dies auf erbitterten Widerstand von Bundesinnenminister Schily und seinen Länderkollegen.

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