Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung

Eine soziale Bilanz

Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist es an der Zeit, eine gesellschaftliche, politische und soziale Bilanz zu ziehen. Das World Socialist Web Site veröffentlicht dazu in den kommenden Wochen in loser Reihenfolge mehrere Beiträge. Der erste befasst sich mit den sozialen Folgen der Vereinigung.

Als vor zehn Jahren Währungsunion und Wiedervereinigung das Ende der DDR besiegelten, hatten nicht wenige Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute zeigt eine nüchterne Bilanz: Das Gegenteil ist eingetreten. Die Mehrheit der Bevölkerung in Ost und West hat seitdem einen drastischen sozialen Niedergang erlebt, und statt der damals prophezeiten Angleichung der Gebiete der früheren DDR an die westdeutschen Bundesländer hat sich die soziale Spaltung vertieft.

Bundesländer wie Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern haben sich mittlerweile zum Mezzogiorno der Bundesrepublik entwickelt, zu einem Gebiet, in dem Armut, Massenarbeitslosigkeit und kultureller Niedergang vorherrschen. Am schärfsten widerspiegelt sich diese Lage in der Tatsache, dass die Auswanderung aus dem Osten in den Westen vor allem unter jungen Menschen wieder zugenommen hat.

Ein anschauliches Bild für die Trostlosigkeit, die heute vor allem in kleineren ostdeutschen Orten zu finden ist, liefert Bischofferode, vor wenigen Jahren noch als Ort des Widerstands gegen die Schließung des Kalibergwerks in aller Munde. Seit der Beendigung des Hungerstreiks der Bergleute und der Schließung ihres Bergwerks Ende 1993 hat der Ort zwischen 500 und 600 Einwohner verloren, das sind über 20 Prozent. Von den 700 bis 1000 versprochenen Dauerarbeitsplätzen für die Kaliwerker sind gerade zehn Prozent entstanden. Von den ehemals knapp 700 Bergleuten sind heute noch 106 mit den Stillegungsarbeiten in der Grube beschäftigt. Wenn sie demnächst fertig und damit arbeitslos sind, werden sie trotz mehrerer Jahrzehnte Arbeit unter Tage nur ein Übergangsgeld erhalten, das 40 Prozent ihrer späteren Bergmannsaltersrente ausmacht.

Schon die neuesten Arbeitslosenzahlen machen die immer tiefere Kluft zwischen einigen Gebieten des Westens und des Ostens deutlich. Lag die Arbeitslosigkeit im Juni in Westdeutschland bei 8,2 Prozent, so verzeichnete der Osten mit 17,8 Prozent mehr als doppelt so viele Arbeitslose. Während in Sachsen-Anhalt knapp 20 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos waren, ein Niveau wie auf der verarmten italienischen Insel Sardinien, gibt es in Bayern und Baden-Württemberg nur 5 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenzahlen sind in den letzten beiden Monaten als Folge wachsender Exporte im Westen gesunken, im Osten blieben sie auf unverändert hohem Niveau.

Allerdings sind diese Zahlen nur die halbe Wahrheit. Das ganze Ausmaß der sozialen Misere in Ostdeutschland ist damit noch nicht erfasst. Der Sozialreport 1999, herausgegeben im vergangenen Sommer vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V. (SFZ), liefert Daten und Fakten, die die Lage in Ostdeutschland etwas umfassender und detaillierter beleuchten.

So ist die Zahl der Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern von 1989 bis 1998 von 9,7 Millionen auf 6,1 Millionen gesunken, die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer sogar von 9,5 auf 5,5 Millionen, das heißt um vier Millionen! Weitere 350.000 Arbeiter sind zwar beschäftigt, aber in Betrieben im Westen, zu denen sie pendeln müssen.

Eine Umfrage des SFZ ergab, dass 53% der arbeitsfähigen Ostdeutschen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren bis 1998 einmal oder mehrmals arbeitslos waren. Ein großer Teil der Beschäftigten, insgesamt 12,6%, hatte im Jahr 1998 nur ein befristetes Arbeitsverhältnis, zumeist eine öffentlich geförderte ABM-Stelle. Im Westen waren zur selben Zeit nur 7,4% der Beschäftigten in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM).

Solche Maßnahmen waren nach der Wiedervereinigung massiv eingesetzt worden, um die Abwicklung der DDR-Betriebe und die Vernichtung Hunderttausender von industriellen Arbeitsplätzen sozial abzufedern und auf diese Weise möglichst reibungslos durchzuführen. Sogenannte Beschäftigungsfördergesellschaften, die unter Beteiligung der Arbeitsämter und der Gewerkschaften gebildet wurden, sollten, so hieß es damals, die entlassenen Arbeiter vorübergehend auffangen, bis neue Arbeitsplätze geschaffen sind. Statt in neue Arbeitsplätze wechselten allerdings die meisten Betroffenen in neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Förderprojekte. "Ein Wechsel findet in hohem Maße von einem befristeten Verhältnis ins nächste statt als ein Übergang in unbefristete Arbeitsverhältnisse", konstatiert der Sozialreport(S. 140).

Neben Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden Fortbildungsmaßnahmen benutzt, um die Entlassenen aufzufangen. In der Altersgruppe der 25- bis 59jährigen haben bis 1998 57% an Umschulungen teilgenommen, davon 27% einmal und 30% zwei- und mehrmals. Auch hier dasselbe Bild: Man wechselt von einer Fortbildungsmaßnahme zur nächsten. "Ebenso wie andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen werden in den neuen Bundesländern Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen mehrheitlich als Unterbrechung der Arbeitslosigkeit verstanden und nicht als reale Chance auf Neueingliederung ins Erwerbsleben." ( Sozialreport, S. 152)

Die weitgehende Vernichtung der großen Industrie in den letzten zehn Jahren hat das Gebiet der ehemaligen DDR von einer Industrieregion in ein hauptsächlich dienstleistungsorientiertes Gebiet verwandelt. Waren 1989 45 Prozent der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe tätig, so sind es jetzt nur noch 33,3 Prozent (davon jeder dritte in der Bauwirtschaft), während 63,2 Prozent im Dienstleistungsbereich beschäftigt sind. Der durch den hohen Dollarkurs bedingte Exportboom der letzten Monate hat daher in dieser Region keinerlei Auswirkung. Gleichzeitig schrumpft inzwischen die Bauwirtschaft, und auch die Quote der Neugründungen von Kleinbetrieben ist rückläufig. Der Sozialreport dazu: "Anfängliche Neugründungen, vor allem im Klein- und Kleinstgewerbe (Imbissstände, Gebrauchtwagenhandel, Videoläden etc.) schufen für ehemalige Arbeitnehmer kurzfristig zwar eine neue Existenzgrundlage, aber die Überlebenschancen dieser Unternehmen erweisen sich als gering." (S. 138)

Nach der anfänglichen Euphorie über die Einführung der Marktwirtschaft, die zahlreiche ehemalige Angestellte zu Existenzgründungen veranlassten, überwiegt nun der Katzenjammer. Im Frühjahr vergangenen Jahres kam es zu ersten Demonstrationen von Handwerkern und Kleinunternehmern. Im März 1999 demonstrierten Kleinunternehmer in Erfurt unter der Losung "Deutschland brennt und keiner löscht". In Reden und Interviews berichteten die Teilnehmer, immer häufiger würden sie durch nichtzahlende Großauftraggeber in den Konkurs getrieben.

Beispielsweise Monika Schönemann: Ein Großunternehmen, für das die Heizungsfirma ihres Mannes gearbeitet habe, ließ eine Niederlassung in Konkurs gehen und sie auf einem Schuldenberg von mehreren 100.000 Mark sitzen. Ihr Mann sei nun arbeitslos und ohne Bezüge, berichtete sie unter Tränen. Das Großunternehmen, das mit einem Streich 1000 Arbeitsplätze in Handwerksbetrieben vernichtet hatte, arbeite unter anderem Namen weiter und habe nach ihren Unterlagen sechs Millionen Mark an der Steuer vorbeigeschmuggelt.

Auch in den Restbetrieben ehemals großer Kombinate wird weiter entlassen, so dass sich diese ebenfalls in mittlere und Kleinunternehmen verwandeln. Allein von 1994 bis 1998 sank der Anteil der Betriebe mit über 100 Beschäftigten von 47% auf 38,5%, berichtet der Sozialreport. Für die Angestellten hat dies vor allem zu massiven Einkommensverlusten geführt. Untertarifliche Bezahlung greift um sich. Vom Winter 1993/94 bis Anfang 1998 stieg der Anteil der ostdeutschen Industriebeschäftigten, die untertariflich vergütet werden, von 12 auf 28%. (S. 181)

Laut einer Befragung des WSI von 1997/98 hatten 46% alle ostdeutschen Betriebe ab fünf Beschäftigte weder einen Betriebsrat noch unterlagen sie einer Tarifbindung (im Westen 29,5%). Bei einer Betriebsgröße bis zu 20 Beschäftigten traf dies im Osten auf mehr als die Hälfte zu (im Westen 32.8%). Stundenlöhne von 15 Mark und weniger bei nur 20 Tagen Urlaub und null Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld sind mittlerweile an der Tagesordnung, und im Schnitt wird im Osten zwei Wochenstunden länger gearbeitet. 1999 lag das durchschnittliche Nettoeinkommen der Haushalte mit 3.960 Mark um 25 Prozent unter dem Westniveau (5.250 Mark).

Kein Wunder, dass sich die Armutsquote 1999 im Vergleich zu 1990 mehr als verdreifacht hat. Jeder zehnte Ostdeutsche lebt (gemessen an der Armutsgrenze von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens in den neuen Bundesländern) derzeit in Einkommensarmut (S. 187). Auch die Zahl der Sozialhilfeempfänger, die im Westen zur Zeit noch höher liegt, nimmt im Osten inzwischen rapide zu. Im August 1999 war die Zahl um 7,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen (im Westen um 1,6 Prozent gesunken).

Einige in Ostdeutschland haben es allerdings auch zu Reichtum gebracht und zählen heute zu den Einkommensmillionären. Mit 260 Personen ist diese Schicht allerdings äußerst dünn. Zum Vergleich: In den alten Bundesländern sind es fast 25.000 Personen.

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen findet man den sozialen Niedergang ausgedrückt: Die Zahl der Geburten, die bis 1994 auf knapp 50 Prozent des Niveaus von 1989 gesunken ist, stagniert nun auf etwas über 50 Prozent. Die Lebenserwartung hat im Osten abgenommen. Bei Männern liegt sie bei 72 Jahren (im Westen bei 74), bei Frauen bei 79 (im Westen bei 80). In den Plattenbausiedlungen stehen inzwischen bis zu einer Million Wohnungen leer. Einige ostdeutsche Städte klagen über Leerstände von knapp einem Drittel des gesamten Bestandes. Immer weniger Menschen wollen in Ostdeutschland leben. Bis 1999 ist die Bevölkerungszahl um 1,144 Millionen Menschen zurückgegangen.

Die Bilanz nach zehn Jahren ist jedoch nicht nur für die Bevölkerung in Ostdeutschland negativ. Die Wiedervereinigung hat gleichzeitig den Abbau West eingeleitet und zu einer immer tieferen sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt. Von Beginn bis Mitte der 90er Jahre wuchs im Westen nach Beobachtung des Frankfurter Armutsforschers Richard Hauser der Anteil all jener, die von weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens leben müssen - bei einer Familie mit einem Kind waren das 1997 rund 2500 Mark - von knapp 19 Prozent auf fast 22 Prozent (im Osten von fast elf auf knapp 14 Prozent). Dabei sind immer mehr Angehörige der Mittelschichten vom sozialen Abstieg betroffen.

Eine Studie des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) stellt fest, dass sich seit 1991 fast die Hälfte der Personen mit mittleren Einkommen sozial verschlechtert haben. Berechnungen der Armutsforscherin Irene Becker zufolge verfügen die oberen zehn Prozent der Haushalte in Deutschland "über fast die Hälfte des Gesamtvermögens", während die untere Hälfte der Deutschen gerade einmal vier Prozent der von der Bundesbank bilanzierten zwölf Billionen Mark Privatvermögen ihr Eigentum nennen kann. Hauser spricht in diesem Zusammenhang nicht mehr von der Zweidrittel-, sondern der Vierfünftel-Gesellschaft.

Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland wieder sichtbar eine Klassengesellschaft, in der die übergroße Mehrheit der Bevölkerung immer ärmer wird und eine kleine Minderheit astronomische Einkommen anhäuft. Mit dem Untergang der DDR ist auch die "soziale Marktwirtschaft" der Nachkriegszeit untergegangen.

Unter der Oberfläche haben sich scharfe gesellschaftliche Konflikte angehäuft, auf die keine der traditionellen Parteien eine Antwort hat. Die Aufspaltung in reichere Bundesländer und wirtschaftliche Armutsregionen birgt viel Zündstoff. Während Politiker in wohlhabenderen Gegenden wie Bayern vehement den Stopp der Fördergelder für den Osten fordern und Missgunst gegen die ostdeutsche Bevölkerung schüren, treten im Osten immer massiver rechtsradikale Tendenzen auf, die die soziale Misere für sich zu nutzen versuchen.

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