SPD beschließt Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung

Mit dem Beschluss von SPD-Vorstand und -Bundestagsfraktion, die Rentenreform ihres Bundesarbeitsministers Walter Riester umzusetzen, besiegelten die Sozialdemokraten den Einstieg in den Ausstieg aus der von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte getragenen gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Versicherung war in Deutschland vor rund 100 Jahren eingeführt worden - damals unter dem Druck der von der Sozialdemokratie geführten Arbeitermassen.

Nachdem das vom ehemaligen IG Metall-Vizevorsitzenden Riester vorgelegte Konzept vom 30. Mai dieses Jahres anfangs heftig kritisiert worden war, hat er jetzt einen sogenannten "Kompromiss" durchsetzen können. Mit 19 zu 9 Stimmen bei mindestens 13 Enthaltungen sprach sich am Montag der SPD-Vorstand für das überarbeitete Konzept aus. Einen Tag später in der Bundestagsfraktion stimmten bereits 70 Prozent dafür. Trotz aller Bedenken und Kritik wollten offensichtlich nur die wenigsten Sozialdemokraten gegen Bundeskanzler Schröder auftreten, der sich hinter Riester gestellt und sich gemeinsam mit diesem weitere Zugeständnisse verboten hatte. Auch die grünen Regierungspartner beeilten sich, ihre Unterstützung für das Modell aus Riesters Ministerium zu verkünden.

Im Prinzip hat sich am jetzt beschlossenen Reformkonzept allerdings überhaupt nichts geändert. Lediglich einige nichts sagende bzw. zu nichts verpflichtende Wörter sowie minimale Änderungen bezüglich der sozialen Auswirkungen sind in das Konzept eingefügt worden.

So wurde die staatliche Förderung der Eigenvorsorge von 400 DM auf maximal 1000 DM jährlich, bzw. von 33,30 DM auf höchstens 83,30 DM monatlich erhöht. Wer über ein zu versteuerndes Einkommen bis jährlich 35 000 DM (Ledige) bzw. 70 000 DM (Verheiratete) verfügt, soll vom Staat einen Zuschlag erhalten. Ledige/Verheiratete ohne Kinder sollen jährlich 350/700 DM erhalten, mit einem Kind 450/900 DM, mit zwei oder mehr Kindern 500/1000 DM.

Es bleibt nach wie vor bei der Zusicherung für die Unternehmen, dass ihr Beitragssatz bis zum Jahre 2020 10 Prozent und bis 2030 11 Prozent nicht übersteigt. Die Beschäftigten hingegen müssen durch die vorgesehene private Altersvorsorge mit einem Beitragssatz von 14 bis 15 Prozent rechnen. Bei diesem Modell sollen bereits ab dem nächsten Jahr die Beschäftigten 0,5 Prozent ihres Bruttolohns und dann in jährlichen Steigerungen um ein halbes Prozent bis zum Jahre 2008 "möglichst" (eines der neu hinzugefügten Wörter) vier Prozent ihres Bruttolohnes freiwillig in private Rentenversicherungsfonds einzahlen.

Wie weit es mit der Freiwilligkeit bestellt sein wird, zeigt ein Blick auf den beibehaltenen aber leicht modifizierten "linearen Ausgleichsfaktor". Nun soll "erst" ab 2011 über diesen Faktor die Rente jährlich um 0,3 Prozent von jetzt rund 70 Prozent des letzten Nettogehaltes auf 64 Prozent im Jahr 2030 gesenkt werden. Mit anderen Worten, die Beschäftigten, die sich die freiwillige private Altersvorsorge nicht leisten können, werden trotzdem mit einer Kürzung ihrer Rente bestraft.

Hinzu kommt eine "modifizierte" Nettolohn-Berechnung. Im nächsten Jahr müssen die Rentner wie bereits in diesem Jahr eine Erhöhung ihrer Renten um die Höhe der Inflationsrate hinnehmen. Ab 2002 soll die Rentensteigerung "im Prinzip" wieder an die Entwicklung der Nettolöhne gekoppelt werden. "Im Prinzip", denn der statistische Anstieg der Nettolöhne soll um die private Eigenvorsorge gekürzt werden. Auch künftige Steuer- oder Abgabensenkungen sollen nicht mehr eingerechnet werden. All diese Maßnahmen werden den Anstieg der Renten weiter drücken und selbst die errechneten 64 Prozent in Frage stellen.

Was nach 2030 sein wird, darüber schweigt sich die Bundesregierung jetzt aus. Vor einem Monat hatte Riester seine für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlichen Parteikollegen noch mit Hochrechnungen bis zum Jahre 2050 erschreckt. Bis dahin sollte das Rentenniveau auf 54 Prozent fallen. Soweit wird nun einfach nicht mehr gerechnet. Voraussagen über 50 Jahre seien nichtssagend, erklärte Schröder kurzerhand.

In der Tat sind die kosmetischen Änderungen an Riesters Rentenreform für Schröder und die Wirtschaft leicht zu verkraften. Ihnen geht es um den Systemwechsel, die Einführung einer privaten Altersvorsorge. Was mit den Renten später - beispielsweise im Jahre 2003 nach der nächsten Bundestagswahl - passiert, ist unsicher. Der gesamte SPD-Vorstand ist sich laut Frankfurter Rundschau vor allem über eines im Klaren: dass das Riester-Modell "nicht lange trägt", weil Variablen wie Wirtschaftsentwicklung, Erwerbsverhalten und tatsächliches Rentenalter nicht kalkuliert seien. Schon sorgte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering für Aufregung, weil er im Tagesspiegel auf die Frage, ob die Menschen künftig länger arbeiten würden, antwortete: "Darüber muss man ehrlich reden. Das faktische Rentenalter wird steigen - wenn die Arbeitslosigkeit sinkt."

Es zeichnet sich bereits hier ab, dass die von den Regierungsparteien abgesegnete Reform die Voraussetzungen schafft, eine Dynamik in Gang zu bringen, bei der sich die jährliche Rentenanpassung willkürlich nach Wirtschafts- und Marktlage richtet und somit den Druck auf die Beschäftigten erhöht, die private Vorsorge aufzustocken Sie haben dann die Wahl, entweder im arbeitsfähigen oder im Rentenalter arm zu werden.

Um so schändlicher ist die Haltung der Kritiker in den Reihen der SPD und Gewerkschaften, die Schröder und Riester nichts entgegenzusetzen haben. Die Sozialpolitiker und selbsternannten Linken in der SPD hatten für die Fraktionssitzung einen Gegenvorschlag eingebracht, der sich im Grunde kaum von Riesters Reform unterschied. Vieles hatten sie aus dem Modell von Riesters Vorgänger Norbert Blüm (CDU) übernommen. Der Gegenvorschlag sah vor, dass die Beiträge zur Rentenversicherung auf 23 anstatt auf 22 Prozent steigen und die Privatvorsorge auf 2,5 Prozent beschränkt bleibt. Für die Beschäftigten hätte dies ebenfalls ein Ansteigen der Beiträge auf 14 Prozent ihres Bruttolohnes bedeutet. Das Rentenniveau sollte so auf 65,6 Prozent gehalten werden.

Doch selbst dieser oberflächlichen Veränderung erteilte Schröder eine Absage. Immerhin hätte dieses Konzept einen Anstieg der Unternehmensbeiträge auf 11,5 Prozent anstatt auf 11 Prozent bedeutet. Auch Riester wischte die Einwände gegen seine Reform vom Tisch. Sie seien "Reflexe von Sozialpolitikern, die in Denkschablonen erstarrt sind". Die Unverfrorenheit des einstigen Gewerkschafters scheint gefruchtet zu haben. Die Berliner Zeitung zitiert eine der Kritikerinnen, Anke Fuchs, kurz vor der Fraktionssitzung am vergangenen Dienstag: "Die Sache ist praktisch entschieden. Ich werde mich der Mehrheit beugen."

Auch die Kritik der Gewerkschaften, allen voran der IG-Metall und ihres Vorsitzenden Klaus Zwickel, ist halbherzig. Zwickel kritisierte zwar, die Korrekturen seien noch nicht ausreichend, sieht aber in dem jetzt verabschiedeten Konzept eine "positive Bewegung". Die IG Metall will dennoch an ihren geplanten Protesten gegen die Rentenreform in den Betrieben festhalten.

Zwickels Kollege, der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai, warnte hingegen vor Protesten gegen die Bundesregierung. Er hat schon in der jüngsten Tarifrunde im öffentlichen Dienst bewiesen, dass er bereit ist, bei der Durchsetzung von Kürzungen eng mit dieser zusammen zu arbeiten. Er riet auch Zwickel, statt auf Konfrontation auf den "Dialog mit Rot-Grün" zu setzen, zumal sich seine Kritik ja nicht grundsätzlich gegen die Privatvorsorge richte.

Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie, Hubertus Schmoldt, hat sich von Anfang an hinter die Rentenpläne der Regierung gestellt. Er nannte es "bedauerlich", wie sich manche Gewerkschaften in der Rentenfrage verhielten, und warf ihnen vor, sie würden die Grundrechenarten nicht beherrschen.

Zwickel ist für eine private Zusatzversorgung, fordert aber - ebenso wie die SPD-Sozialpolitiker um Ottmar Schreiner und Wolfgang Dreßler - eine Obergrenze von 2,5 Prozent und außerdem eine paritätische Beteiligung der Arbeitgeber. Das käme einer Beibehaltung des jetzigen Systems mit einer Erhöhung der Beiträge in Form einer Art Rentenzusatzversicherung gleich. Die privaten Rentenversicherer werden dies Zwickel nicht allzu übel nehmen, flössen doch auch nach seinem Vorschlag Milliardenbeträge auf ihre Konten statt in die öffentlichen Rentenkassen. Doch Schröder steht nicht nur bei den privaten Versicherern im Wort, sondern bei der gesamten Wirtschaft.

Dass niemand innerhalb der SPD weit vom Wirtschaftsmann Schröder entfernt ist, beweist auch die Tatsache, dass das Verschwinden der im vergangenen Jahr beschlossenen Grundsicherung aus dem jetzigen Entwurf von allen stillschweigend akzeptiert wurde. Ganz zu schweigen sei hier von dem Gedanken, dass die Unternehmen, deren Gewinne sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Gegensatz zu den Arbeitseinkommen vervielfacht haben, für den Lebensabend ihrer Beschäftigten und ihrer Familien auch nur teilweise aufzukommen haben. Solche Überlegungen kommen in der Sozialdemokratie des Jahres 2000 der Ketzerei gleich.

Siehe auch:
Riesters Rentenreform - Massive Einschnitte in die Renten
(10. Juni 2000)
Loading