Einige Fragen richtig gestellt

Einar Schleefs Verratenes Volk am Deutschen Theater in Berlin

Einar Schleefs fünfeinhalbstündige Marathoninszenierung am Deutschen Theater ist eine Provokation - im positiven Sinne. Sie regt dazu an, über einige einschneidende gesellschaftliche Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts nachzudenken.

Genaugenommen spannt sich der Bogen in diesem Stück von der Zeit der frühbürgerlichen Kultur im siebzehnten Jahrhundert bis in das Zwanzigste Jahrhundert zu einem herausragenden literarischen Werk - Alfred Döblins Romantrilogie November 1918: Eine Deutsche Revolution. Darin behandelt der Autor den Verrat und die Niederlage der Revolution 1918-19 nach dem Ersten Weltkrieg. (Einer der Bände trägt den Titel Verratenes Volk, den Schleef seinem Stück gab.)

Das Stück besteht aus vier sehr unterschiedlichen Abschnitten und beginnt mit einer Lesung aus Miltons Das Verlorene Paradies (Paradise Lost).Dem folgt eine lange Auswahl von Textstellen des Philosophen Friedrich Nietzsche, dessen 100stem Geburtstag zur Zeit in Deutschland durch zahlreiche Veranstaltungen und Publikationen gedacht wird. Den dritten Abschnitt bildet ein Text von Edwin Erich Dwinger über die grauenvollen Erlebnisse der deutschen Soldaten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Der letzte, mehr als die Hälfte ausmachende Teil des Stücks enthält Texte aus Döblins Roman, vor allem aus dem letzten Band mit dem Titel Karl und Rosa, der sich mit der Rolle Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs während des Krieges und der Ereignisse von 1918 auseinandersetzt.

Zu Beginn sitzt die alte Schauspielerin Inge Keller in einem weißen fließenden Kleid vor einer leeren, weißen Bühne. Sie liest etwa eine Viertelstunde lang mit ruhiger, getragener Stimme aus Miltons Klassiker Das verlorene Paradies, in dem er die Freuden des Paradieses, die Versuchung und schließlich die Vertreibung Adams und Evas aus dieser Idylle beschreibt.

Sie verlässt die Bühne, und an ihre Stelle tritt die dunkel gekleidete Person Friedrich Nietzsches (gespielt vom Regisseur Einar Schleef selbst).

Schleefs Nietzsche

In der nächsten Dreiviertelstunde spricht Schleef als Nietzsche zum Publikum, gelegentlich ruhig und gemäßigt, aber meist in demagogische Anwürfe ausbrechend, die Nietzsches letztem autobiographischen Text Ecce Homo entnommen sind. Ein Jahr nach der Vollendung von Ecce Homo 1889 verfiel Nietzsche dem Wahnsinn. In Ecce Homo betrachtet er sein eigenes literarisches Werk in sehr ich-bezogener Weise - nichts Besseres sei geschrieben worden, erklärt er und fährt dann fort mit der Behauptung, seine Schriften hätten das höchste auf Erden erreichbare Ziel erreicht: den Zynismus.

Der Text ist gewürzt mit Nietzsches Tiraden gegen die Deutschen im Allgemeinen (nach seiner tiefen Enttäuschung über Bismarcks Politik der deutschen Vereinigung), seiner Verherrlichung des Krieges und Banalitäten über die miserable deutsche Küche.

Am Berliner Schlosstheater wird aus Anlass von Nietzsches hunderstem Todestag gegenwärtig ebenfalls ein ihm gewidmetes Stück aufgeführt. Sein Autor, Alexander Widner, hat aus Nietzsches Werken einzelne Stellen herausgesucht und daraus ein Skript zusammengebastelt, das uns einen ganz anderen Nietzsche präsentiert als Schleef - Nietzsche als wahrhaftiger Renaissancemensch, ein Liebhaber des Weines und des Tanzes, ein grimmiger Kritiker der dekadenten Deutschen, der verzweifelt nach Süden in sein geliebtes Italien reist.

In der Tat ist Schleefs egozentrischer, übersprudelnder Nietzsche, der den Tiefpunkt der Degeneration der deutschen Romantik des neunzehnten Jahrhunderts repräsentiert, weit überzeugender. "Warum, ich ein Schicksal bin... Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit... Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist... es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden große Politik."

Der Schrecken des Krieges, die Saat der Revolution

Nietzsche tritt von der Bühne ab und der dritte Teil des Stücks beginnt. Er beruht auf Auszügen aus Edwin Erich Dwingers Armee hinter Stacheldraht, die ein Bild der Grausamkeiten des ersten Weltkriegs aus dem Jahren 1915/16 vermitteln. Bis dahin war das Stück von einzelnen Schauspielern bestritten worden. Jetzt tritt ein Chor von zehn Soldaten in abgerissener Kleidung auf, die einzeln oder als Gruppe eine Reihe von Brutalitäten aufzählen. Die Unterhaltung der Soldaten ist eine Mischung aus Banalem und Obszönitäten. Ihre eigenen Erinnerungen und ihre Sehnsucht, nach Hause zu kommen, kontrastieren mit dem Schmutz und der Zerstörung des Schlachtfelds. In der brutalen Schlussszene - ein Abbild der Brutalität des Krieges - vergewaltigt der Chor einen aus der Gruppe. Einer der Soldaten zögert, sich an dieser Barbarei zu beteiligen, wird aber von seinen Kameraden dazu gezwungen mitzumachen.

Schleef setzt wiederholt in seinem Stück den Chor ein, ein Element der griechischen Tragödie (wiederbelebt im zwanzigsten Jahrhundert von Bertolt Brecht) - entweder um ihn Texte rezitieren oder gewaltige Choralarrangements singen zu lassen. Zeitweilig bevölkern in Verratenes Volk bis zu 60 Schauspieler und Schauspielerinnen die Bühne, um im Chor zu singen oder zu sprechen. Dies erinnert stark an Brechts und Eislers Einsatz von Massenchören in ihren Lehrstücken der späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahre.

Der letzte und längste Teil des Stücks stellt die Frage nach dem Charakter der Russischen Revolution und den Aussichten auf eine Revolution in Deutschland. Schleef greift hier fast ausschließlich auf Texte aus dem Band Karl und Rosa aus Alfred Döblins Romantrilogie November 1918zurück. In der ersten Szene tritt Rosa Luxemburg (wundervoll gespielt von Jutta Hoffmann) auf. Sie ist wegen Antikriegspropaganda im Zuchthaus. In dieser und anderen Szenen wird Döblins literarische Schöpfung Rosa Luxemburgs sehr lebendig. Während ihres Gefängnisaufenthalts (sie wurde 1915 verhaftet, später freigelassen und ein Jahr später erneut in "Schutzhaft" genommen) verliert Rosa Luxemburg enge Freunde und Vertraute - Opfer des Blutbads an der deutschen Front.

Verdammt zu politischer Untätigkeit knüpft Luxemburg im Zuchthaus eine Beziehung zu einer Wärterin, einer jungen Frau, an. Hoffmanns Luxemburg zeigt tiefes mitfühlendes Interesse für alles Lebendige um sie herum. Aber sie macht zugleich unmissverständlich klar, dass ihr Leben ohne soziale Revolution keinen Sinn hat.

In einer späteren Szene erkennt Luxemburg den Mut und die Entschlossenheit an, die Lenin und die Bolschewiki in Verlauf der Russischen Revolution bewiesen haben. Im nächsten Augenblick geht sie über zu vernichtender Kritik an einigen Maßnahmen, mit denen die russische Regierung demokratische Aktivitäten eingeschränkt hatte. Sie warnt vor den Gefahren, die entstehen können, wenn die Partei die Möglichkeiten zu Diskussionen und Erörterungen beschneidet. Luxemburgs Nachdenken über die Revolution wird unterbrochen vom Chor junger Männer und Frauen, die an die Rampe treten und über den Aufstand der Arbeiter und Soldaten im Herbst und Winter 1918-19 in Berlin berichten.

In einer anderen Szene, die Anfang Januar 1919 spielt, befindet sich Luxemburg in einer hitzigen Diskussion mit Liebknecht. Luxemburg ist überzeugt, dass die neugegründete Kommunistische Partei eine wichtige Gelegenheit verpasst hat, eine Revolution in Deutschland auf den Weg zu bringen. Ärgerlich zieht sie Liebknecht zur Rechenschaft, weil bei einem geplanten Anschlag auf das Polizeipräsidium Arbeiter ihr Leben verloren. Liebknecht weist ihre Vorwürfe zurück: Die Verantwortung für das Blutbad tragen offensichtlich die SPD-Regierung und die von ihr zu Hilfe gerufenen Freikorpstruppen. Trotz der Schärfe dieser Diskussion versöhnen sich die beiden rasch wieder.

Sie teilen das gleiche Schicksal und wissen aus Zeitungen und Flugblättern, dass die SPD zum Pogrom gegen die Spartakisten und ihre beiden herausragenden Führungspersönlichkeiten aufstachelt. Während sie ihrem Schicksal entgegensehen und wir bemerken, dass das Stück sich seinem Ende nähert - geschieht etwas Bemerkenswertes.

Die Bühne füllt sich mit den jungen Schauspielern und Schauspielerinnen, eine lebhafte Musik ertönt und das gesamte Ensemble tanzt eine wilde Gigue. Der Regisseur Schleef tanzt in vorderster Reihe mit und klatscht sein Ensemble in den Tanzrhythmus. Im Gegensatz zu einem allenthalben feststellbaren Trend in neueren deutschen Inszenierungen endet das Stück ohne Götterdämmerung, es gibt keinen Weltuntergang, kein Blut spritzt an die Wände, doch die Gigue deutet die Unverwüstlichkeit des menschlichen Lebenswillens an. Die Schauspieler verlassen die Bühne. Zwei bleiben auf dem Boden liegen - Luxemburg und Liebknecht. Die übrigen gehen zu den Seiten und nach hinten ab und recken ihre Hände schutzlos gegen die Wände des Bühnenbilds - ein geschlagenes und verratenes Volk.

Das Stück bietet auch diesen oder jenen Anlass herumzunörgeln. Da gibt es zum Beispiel viel Nacktheit (männliche) - offensichtlich um die Figur Adams darzustellen. In der Szene der Massenvergewaltigung, die die Schrecken des Ersten Weltkriegs symbolisiert, scheint Schleef einen Zusammenhang zwischen sexuellem Triebverhalten und den gewaltsamen Exzessen des Krieges anzudeuten, den er aber nicht näher erklärt.

Zwischen den verschiedenartigen Bestandteilen (z. B. Nietzsche - Luxemburg), die Schleef in seinem Stück zusammenfügt, bestehen keine leicht nachvollziehbaren Zusammenhänge. Hinter einem derartigen Eklektizismus verbirgt sich oft die eigene Unsicherheit des Regisseurs (immerhin ist er selbst für den Endfassung der Texte dieser Bühnenbearbeitung verantwortlich).

Dennoch, im Gedächtnis haften bleiben der dynamische Einsatz des Chores und die Musik, seine Behandlung des Kriegsthemas, der Leiden Rosa Luxemburg und ihre leidenschaftlichen, aber klaren und engagierten Argumente zum Verlauf der Russischen Revolution - Argumente, die bis heute nichts von ihrer Gütigkeit verloren haben. Wie auch bei dem Theaterstück Berlin Alexanderplatz(das immer noch erfolgreich am Gorki Theater aufgeführt wird) erweist sich Alfred Döblin, der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schrieb, als eine der fruchtbarsten Quellen für das deutsche Theater am Beginn dieses neuen Jahrhunderts.

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