Anmerkungen zum Artikel "Japan: Mord an Zweijähriger zeigt wachsende soziale Entfremdung"

Liebe Angela Pagano!

Ich habe deinen Artikel in der wsws mit großem Interesse gelesen, da auch ich diesen Fall aufmerksam verfolgt habe. Ich stimme mit deinem Artikel und deinen Schlussfolgerungen voll und ganz überein.

Zweifellos befindet sich die japanische Gesellschaft und mit ihr die Familie und das Erziehungssystem in einer tiefen Krise. Deren Ursachen liegen einerseits in dem scharfen Niedergang der japanischen Wirtschaft und andererseits darin, dass das überkommene patriarchalisch autoritäre Wertesystem, das in Zeiten des sogenannten japanischen Wirtschaftswunders relativ gut mit den kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen in Einklang gebracht werden konnte, jetzt vollkommen unterhöhlt wird.

Wir haben auf der wsws in letzter Zeit mehrere Artikel veröffentlicht, die sich mit der wirtschaftlichen und politischen Krise in Japan auseinandersetzen.

Auf dieser Grundlage ist das düstere Bild der modernen japanischen Lernkultur zu verstehen. Die wirtschaftliche Krise verschärft die sozialen Gegensätze der japanischen Gesellschaft enorm. Arbeitsplätze auf Lebenszeit gibt es nicht mehr und der mörderische Wettbewerb weitet sich bis in das Jugend-, ja, wie der Fall Mitsuko Yamada zeigt, bis ins Kleinkindalter aus.

Folgt man der Berichterstattung diverser Medien, so ist in der letzten Zeit immer wieder von Schülerselbstmorden, Gewalt an Schulen, der Prüfungshölle usw. die Rede. Hilflosigkeit und erlebte Ohnmachtgefühle gegenüber der gesellschaftlichen Krise drücken sich in Feindseligkeiten oder Aggression gegenüber Außenseitern aus. Für die Medien scheinen dabei weniger die Täter das Problem zu sein, als die Opfer. "Die Provokation des Opfers bestand darin, dass das Kind die Teilnahme an der Gruppe verweigerte oder dazu nicht fähig war," heißt es z. B. in einem Fall, der in einem Buch der Autorin Donata Elschenbroich geschildert wird. ( Anleitung zur Neugier - Grundlagen japanischer Erziehung, Frankfurt/Main 1996)

Schwerste Examensprüfungen bis hin zur Oberschule, gepaart mit einer hohen Erwartungshaltung der Eltern und einer gehörigen Portion Gruppendruck, vertragen sich auf Dauer nicht mit jugendlichem Aufbegehren und persönlicher Findung und Entfaltung. Der Weg von Konformität zur Destruktion ist da vorprogrammiert.

Es mehren sich in der Presse Berichte über individuelle Gewaltausbrüche an Schulen bzw. unter Jugendlichen ganz allgemein. So hat es 1995 166 Schülerselbstmorde und 56.600 Fälle von "Ijime" gegeben. Der Begriff "Ijime" steht für "Schikane an japanischen Schulen". Es verwundert nicht, wenn die japanischen Medien zunehmend verschreckt reagieren, ohne aber einen Ausweg zu finden.

Ein Beispiel für die gegenwärtige japanische Familiensituation liefert die dreifache Mutter Kaoru Katayama, die für die Mörderin Yamadas Verständnis aufbringt, da sie selbst, wie sie berichtet, "von Ehrgeiz zerfressen und von dem Konkurrenzkampf unter befreundeten Müttern angestachelt, ihre erstgeborene Tochter auf den Leidensweg geschickt hat." ( Frankfurter Rundschau,6. Dezember 1999)

Katayama hat ein Buch geschrieben und während ihrer Recherchen den typischen Tagesablauf einer "Erziehungsmama" geschildert: "4 Uhr am Morgen: Aufstehen und Essen vorbereiten. 5 Uhr: den zweijährigen Sohn wecken. Dann zwei Stunden spezielle Übungen für Vorschüler im ,Dorio-Heft‘ [vom englischen "Drill"]. Während des Frühstücks (Gerade sitzen!) wird Wissen abgefragt, etwa, dass der Reis aus der Präfektur Nügata stammt. Bis 14 Uhr dauert der Kindergarten, dann geht es nacheinander zum Sportunterricht und in die ,Juko‘ Paukschule. Um 21 Uhr kommen Mutter und Kind nach Hause. Nach einem förmlichen Abendessen darf das Kind dann endlich ins Bett. Die Mutter korrigiert dann noch das ,Drillheft‘."

Die Bemerkung von Genturo Kawakami, Professor für Soziologie an der Shumai Universität, der davon spricht, dass "wir in Japan Kinder wie Tiere erziehen", decken sich mit den Aussagen von Katayama. Die von Dir zitierte Äußerung des Kindergartenrektors, dass es darum gehe, "Kindern eine gewisse Disziplin beizubringen, die sie zu Hause nicht bekommen," bestätigt dies.

Wenn die Recherchen von Katayama eines aufzeigen, so sind es die Mühen und Plagen, die Kindern auferlegt werden, um im strengsten Wettbewerb bestehen zu können. Sehr viele Schüler sind diesem gnadenlosen Ausleseverfahren nicht gewachsen. Hohe Selbstmordraten und gesteigerte Aggressivität sind die Folge - und das nicht nur unter Schülern, sondern auch gegen Lehrer, die normalerweise einen hohen Stellenwert genießen.

Trotz des sozialen und psychischen Preises für die extreme Wettbewerbsorientierung des japanischen Erziehungssystems, der bekannt ist und auch beklagt wird, konnte dieses System, das tief in der soziokulturellen Struktur Japans verankert ist, den meisten Veränderungsbemühungen bisher standhalten. Wie vom japanischen Erziehungsminister zu hören ist, sei "der überhitzte Wettbewerb unter sehr jungen Kindern ein echtes Problem". Er verspricht, man werde die angemessenen Schritte unternehmen.

Eine Leistungsgesellschaft, die junge Menschen zwingt, sich der sogenannten "Prüfungshölle" in Zehntausenden "Juku" (Paukschulen) zu unterziehen, und dann letztlich doch nur Teilzeitarbeit, unterbezahlte Jobs und Arbeitslosigkeit anzubieten hat, darf sich nicht wundern, wenn ihre Kinder aus den aufgezwungenen Bahnen der Gesellschaft ausbrechen und versuchen, andere Wege zu finden.

Abschließend möchte ich kurz auf die Stellung des Kindes in der japanischen Gesellschaft und ihre Geschichte eingehen.

Volker Schubert bemerkt in Kinderkulturen in Japan, dass Japan als Paradies für Kinder bekannt sei. "Seit dem 16. Jahrhundert zeigen sich westliche Beobachter immer wieder fasziniert und irritiert über den entspannten und gewährleistenden Umgang mit Kindern, der nicht nur ganz ohne körperliche Strafen, sondern ohne harte Verweise und jede Heftigkeit auszukommen scheint, und durch wohltuende, geduldige Nachsicht gegenüber allen Launen - der wie so oft genannt werdenden - ‚kleinen Götter‘ gekennzeichnet ist."

Die Kinder wurden im Haus von Mutter, Schwiegermutter und älteren Geschwistern gemeinsam aufgezogen. Gleichzeitig unterstanden sie wie alle Familienmitglieder der Autorität und Verantwortung des männlichen Familienoberhauptes. Erst neuerdings - insbesondere im Rahmen der Industrialisierung zur Wende zum 20. Jahrhundert und der damit einhergehenden Arbeit des Vaters außer Haus - beginnt die Erziehung exklusiv der Mutter zu obliegen.

Donata Elschenbroich betont dies in dem bereits zitierten Buch. "Japanische Erziehungsratgeber des Mittelalters wendeten sich an die Väter, nicht nur weil sie lesekundiger waren, sondern weil, vor allem in Samurai-Familien, die Väter über die Erziehung der Knaben bestimmten. In einem Ratgeber von 1695 werden die Mütter zur Demut ermahnt, sie hatten in der Erziehung wenig Kompetenzen und Autorität. [...] Die Aufwertung der Mutter und ihre Zentrierung auf diese Rolle [als Erzieherin und Ehefrau] setzte mit der Modernisierung Japans ein", allumfassend mit der industriell-wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das Idealbild der Frau als Ehefrau und Mutter beschränkte sich bis weit in dieses Jahrhundert hinein nur auf wohlhabende Familien. Heutzutage ist dieses Ideal zum allgemeinen Wert in Japan geworden. Als wichtigste Eigenschaft der japanischen Frau wird ihre ständige Anwesenheit im Haus genannt. Ihr Ansehen bemisst sich einzig und allein nach dem beruflichen Erfolg des Ehemannes und dem schulischen Erfolg der Kinder. Dies ging solange gut - auf Kosten der Frauen - wie die japanische Wirtschaft einem großen Teil der Bevölkerung beruflichen Erfolg, d. h., einen sicheren Arbeitsplatz garantieren konnte. Doch dies ist nicht weiter der Fall. Die Ersten, die die volle Wucht der gesellschaftlichen Krise erfahren, sind daher die schwächsten Glieder in der japanischen Gesellschaft - Frauen und Kinder bzw. Jugendliche. Der Mord an der kleinen Haruna hat dies - wie du in deinem Artikel sehr gut aufgezeigt hast - ans Tageslicht gebracht.

Mit freundlichen Grüßen

Werner Albrecht

Siehe auch:
Japan: Mord an Zweijähriger zeigt wachsende soziale Entfremdung
(27. Juli 2000)
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