US-Wahlen:

Liebermans heiliger Krieg gegen die Grundrechte

Bei einer Rede am Sonntag, dem 27. August in einer Kirche in Detroit erklärte der Kandidat der Demokraten für das Vizepräsidentenamt Joseph Lieberman: "Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, aber nicht die Freiheit von Religion."

Diese Aussage ist bezeichnend für den Präsidentschaftswahlkampf im Jahre 2000. Es ist der bisher deutlichste Angriff des Senators aus Connecticut auf die in der Verfassung garantierten Rechte der Meinungs- und Redefreiheit und der Trennung von Kirche und Staat. In der gleichen Rede rühmte Lieberman den Glauben an Gott als moralische Grundlage und durchdringendes Prinzip der amerikanischen Gesellschaft. Er sagte seinem Publikum: "Als Volk müssen wir unseren Glauben beteuern und die Hingabe unserer Nation an Gott und Gottes Willen erneuern."

Die Rede entsprach dem allgemeinen Tenor von Liebermans öffentlichen Bemerkungen seit er zum Stellvertreter des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore ernannt wurde. Mit Gores Segen stellt Lieberman seine Religiösität zur Schau und rechtfertigt damit regelmäßig Angriffe auf das, was er für übertriebenen Sex und grundlose Gewalt in den Medien hält. Die Religion dient ihm als Vorwand, um Maßnahmen mit anti-demokratischem Charakter zu fordern.

Mit der Forderung nach einem "Andachtsmoment" in den Schulen unterstützt Lieberman die Bemühungen der rechten Republikaner, gesetzliche Schranken niederzureißen, die dem Eindringen der Religion in die öffentliche Erziehung im Wege stehen. Er setzt sich dafür ein, dass private, auch religiöse Schulen den öffentlichen gleichgestellt werden. Auch wenn er das Gegenteil behauptet, leistet er der Zensur von Medien und der Kunst Vorschub. Er hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass die Regierungskommission für Kommunikation sogenannten "gewalttätigen Inhalten" Rechnung tragen soll, wenn sie die Rundfunklizenzen erneuert.

Es ist kein Zufall, dass dieser selbsternannte Wächter von Moral und Glauben der erste prominente Demokrat war, der während der Monika-Lewinsky-Affäre öffentlich Clinton verurteilte und damit die rechte Verschwörung unter Führung des unabhängigen Ermittlers Kenneth Starr rechtfertigte, deren Ziel darin bestand, einen Sexskandal als Vorwand für einen politischen Staatsstreich zu benutzen. Gore wählte Lieberman eben wegen dessen rechtem Ruf zu seinem Vize. Dies entspricht den Bemühungen der Demokraten, sich die Sozialpolitik der Republikaner anzueignen.

Angesichts von vereinzelter Kritik an Liebermans Rede in Detroit verteidigte Gore seinen designierten Stellvertreter, während Lieberman selbst erklärte, dass er Wahlreden weiter zum Predigen nutzen werde und dass seine Beschwörung von Gott und Religion der "amerikanischen Art" entspräche.

Für die Kandidaten der Demokraten und ihre politischen Wahlkampfberater haben Liebermans religiöse Beteuerungen mehr mit unmittelbarem Wahlkampf zu tun als mit tiefen Überzeugungen oder durchdachten politischen Konzeptionen. In Einklang mit ihrer banalen und opportunistischen Vorgehensweise kalkulieren sie, dass ein demokratischer Kandidat, der den Sermon der rechten Republikaner wiedergibt, die Versuche ihrer Gegner, den Lewinsky-Skandal auszuschlachten, neutralisieren wird und ihnen gleichzeitig die Unterstützung von bestimmten Teilen der Wählerschaft einbringt.

Die Bedeutung von Liebermans Interpretation der Verfassung

Wie beschränkt die Motive hinter Liebermans Predigten auch sein mögen, hat seine Behauptung, dass die Verfassung keine Freiheit von Religion garantiert, doch weitreichende Konsequenzen. Er selbst ahnt vermutlich gar nicht, welche politischen Folgen daraus erwachsen können, wenn prominente politische Figuren mit solchen Kernfragen der Verfassung leichtfertig herumspielen.

Oberflächlich betrachtet ist Liebermans Interpretation des im ersten Zusatzartikel festgelegten Verbots der staatlichen Förderung von Religion einfach dumm. Es kann keine Religionsfreiheit geben ohne das Recht, frei von Religion zu sein. Die Grundlage aller demokratischen Rechte in Bezug aus Meinungs- und Redefreiheit wird unterhöhlt, wenn dem Staat seine säkulare Grundlage entzogen wird.

Der zentrale Stellenwert des Prinzips der Gewissensfreiheit in der Verfassung als Ganzer wird durch die Tatsache hervorgehoben, dass sie in der Bill of Rights, den Zusatzartikeln zur Verfassung, an erster Stelle steht. Der erste Artikel weist ausdrücklich die religiöse Legitimierung der Staatsgewalt (Theokratie) zurück und hebt die säkulare Grundlage der amerikanischen Republik hervor: "Der Kongress darf keine Gesetze erlassen, die eine Religion offiziell anerkennen oder ihre freie Ausübung verbieten."

Lieberman hat auf Kritik an seiner Äußerung reagiert, indem er versicherte, dass er die Trennung von Staat und Kirche unterstütze und in Fragen wie dem Recht auf Abtreibung die religiöse Rechte bekämpfe. Wer sich über seine Charakterisierung des ersten Zusatzartikels aufrege, mache aus einer Mücke einen Elefanten.

Liebermans unbekümmerte Haltung ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sein Angriff auf das säkulare Prinzip des ersten Zusatzartikels die gesetzliche Grundlage einer Menge von demokratischen Rechten in Frage stellt, vom Recht auf Abtreibung, Homosexualität, Scheidung und Gleichbehandlung der Geschlechter bis zu grundlegenden Angelegenheiten des Persönlichkeitsrechts. Ein wesentlicher Aspekt der konstitutionellen Trennung von Staat und Kirche ist das Recht, "in Ruhe gelassen" zu werden, d.h. frei zu sein von der Einmischung religiöser Organisationen oder des Staates in Privatangelegenheiten. Wenn, wie Lieberman behauptet, die Verfassung nicht die Freiheit von Religion garantiert, was sollte dann den Staat davon abhalten, seine religiös begründeten moralischen Vorstellungen Überzeugung durchzusetzen - in Hinblick auf sexuelle Praktiken zwischen Erwachsenen, persönliche Beziehungen in oder außerhalb der Ehe, die Evolutionslehre, den Inhalt von öffentlich zugänglichen Büchern, Filmen, Theaterstücken und Musikstücken?

Nicht nur Atheisten sondern auch religiöse Agnostiker wären aufgrund ihrer Überzeugungen potentiell das Ziel juristischer Verfolgung und Diskriminierung. Die Regierung könnte jemandes Einstellung gegenüber Gott oder einer spezifischen Religion wissen wollen und man könnte dafür bestraft werden, sich nicht zum Glauben an Gott zu bekennen oder einem bestimmten Glauben anzuhängen. Es gäbe nichts in der Verfassung, das eine Person prinzipiell davor beschützt, aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen vom Arbeitgeber entlassen zu werden. Auch gäbe es nichts in der Verfassung, das den Staat davon abhalten könnte, von der Allgemeinheit Steuern zur Unterstützung religiöser Institutionen zu kassieren.

Liebermans Formel "Religionsfreiheit, aber nicht Freiheit von Religion" könnte auch von den herrschenden islamischen Fundamentalisten im Iran akzeptiert werden. Diese bestehen nicht darauf, dass alle Iraner schiitische Moslems werden, sehr wohl aber darauf, dass die Religion durch jede Pore der Gesellschaft dringt und sowohl die Justiz wie auch die öffentliche Politik bestimmt.

Die Entstehung des amerikanischen Gewohnheitsrechtes

Die Behauptung des demokratischen Kandidaten für das Vizepräsidentenamt widerspricht nicht nur dem Verfassungsrecht sondern ist auch vom Standpunkt der Geschichte der amerikanischen Rechtswissenschaft falsch. Das amerikanische Gewohnheitsrecht hat eine lange Entstehungsgeschichte, die in der Kolonialzeit beginnt. Die Massachusetts Bay Colony war eine Theokratie und das Anwachsen der demokratischen Elemente im amerikanischen Gewohnheitsrecht war gerade mit einer zunehmenden Geltendmachung der Freiheit von Religion verbunden.

Die Pilgerväter, die ersten Kolonisten in Nordamerika, flohen zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus England, um Religionsfreiheit zu erlangen. Doch in der Neuen Welt errichteten sie eine Theokratie, die alle anderen Religionen unterdrückte. In der Massachusetts Bay Colony gab es keine Freiheit von der Religionsausübung. Die theokratische Ordnung fand ihren tragischsten Ausdruck in den Hexenprozessen von Salem im Jahre 1692.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung, wichen die theokratischen Elemente in den amerikanischen Kolonien zurück und demokratische Prinzipien gewannen an Stärke. Ein kritischer Faktor in der Entwicklung des amerikanischen Gewohnheitsrechtes zur fortschrittlichsten Form bürgerlich-demokratischer Rechtswissenschaft war der Übergang vom früheren theokratischen Prinzip zur strikten Trennung von Staat und Kirche.

Die amerikanische Revolution war ein kraftvoller Impuls zur Beseitigung der religiösen Tyrannei über die amerikanische Bevölkerung. Ihre wichtigsten politischen und intellektuellen Führer waren durchdrungen von anti-klerikaler Tradition, die mit der Aufklärung verbunden war und in der fortschreitenden Entstehung des Gewohnheitsrechts in den Kolonien verankert wurde. Sie waren Freidenker und Gegner religiöser Dogmen.

Tom Paine war Anhänger des Deismus, so wie Thomas Jefferson und James Madison, zwei der wichtigsten Urheber der Verfassung. Trotz der Vorherrschaft von religiöser Rückständigkeit in der Bevölkerung bestanden sie darauf, dass die neue Republik auf einem säkularen Gesetzeskodex zu gründen sei.

Historisch betrachtet gaben die Einschränkung der religiösen Autorität und der Macht des Staates, einen offiziell sanktionierten Moralkodex zu verhängen, der Entwicklung der amerikanischen Rechtssprechung und der Ausweitung demokratischer Rechte insgesamt einen entscheidenden Anstoß. Diese Auseinandersetzung setzt sich bis heute fort, im Kampf gegen strenge puritanische Gesetze ("Blue Laws"), Anti-Abtreibungsgesetze und andere religiös motivierte Gesetze.

Lieberman hat bei der Verteidigung seiner religiösen und politischen Anschauung wiederholt die Rolle der Religion bei der Etablierung eines vereinheitlichenden ethischen Prinzips in der amerikanischen Bevölkerung betont. Er mag ehrlich dieser Vorstellung anhängen. Das kann allerdings nicht von der Tatsache ablenken, dass seine Idee von der Rolle der Religion reaktionär ist. Diese reflektiert seine Ignoranz gegenüber der Geschichte des amerikanischen Gewohnheitsrechts und der Entstehung von demokratischen Prinzipien, die in der Verfassung festgelegt und nachfolgend ausgedehnt wurden.

Die Ausbreitung von demokratischen Rechten in den Vereinigten Staaten war mit der Idee verbunden, dass Menschen das Recht haben zu denken, was immer ihnen beliebt, solange sie anderen keine Schaden zufügen oder das Gesetz brechen. Ob sie sich dazu entschlossen, nach dem jüdisch-christlichen Moralkodex zu leben, war ihre eigene Angelegenheit. Was Lieberman vorschlägt, ist ein Rückschritt zu der Vorstellung einer auf Religion basierenden "ethischen Einheit", die in Zeiten vor der amerikanischen Revolution vorherrschend war.

Die fortschrittliche Bedeutung der Abschaffung von "ethischer Einheit" wird von einem bekannten Akademiker in seiner Studie zur Evolution des amerikanischen Rechtswesens folgendermaßen erklärt:

"Zusammengenommen erreichten die diversen libertären Gesetzesänderungen [im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert] weitaus mehr als bloß Institutionen neu zu strukturieren, die Prozessrechte des Angeklagten zu sichern und gewissen, zuvor unterprivilegierten Klassen gleiche Rechte zu gewähren. Diese Änderungen trugen wesentlich zum Zusammenbruch des Ideals aus der vorrevolutionären Zeit bei, dass Gemeinschaften sich zur Verfolgung gemeinsamer ethischer Ziele zusammenschließen sollten. Der Zusammenbruch der ethischen Einheit begann in den 1780-er Jahren mit der praktischen Einstellung von Strafverfolgung für verschiedene Arten der Immoralität... Was nach der Revolution eintrat, war nicht signifikant mehr Immoralität, sondern die Abschaffung der vorrevolutionären Vorstellung, dass es irgendeinen Katalog ethischer Standards gäbe, die jeder Mensch zu befolgen habe." (William E. Nelson, The Americanization of the Common Law, Cambridge, Massachusettes 1979, Seite 109ff)

Gleichgültigkeit gegenüber Kernfragen der demokratischen Rechte

Trotz der Ungeheuerlichkeit von Liebermans Angriff auf Kernfragen der Verfassung war die Reaktion hierauf bemerkenswert gedämpft und verstörend gering. Eine Ausnahme gegenüber der allgemeinen Gleichgültigkeit bildet die Anti-Defamation-League (ADL), die am 28. August einen offenen Brief herausgab, in dem Liebermans Eintreten für die Religion im Zuge des Wahlkampfes verurteilt wird. Die Unterzeichner, die ADL-Bundesvorstandsmitglieder Howard Berkowitz und Abraham Foxman, schreiben korrekt: "Der erste Zusatzartikel verlangt, dass die Regierung weder eine Religion gegenüber einer anderen noch die Religiösen gegenüber den Nichtreligiösen bevorzugt behandelt."

Weiterhin sagen sie: "Die Vereinigten Staaten bestehen aus vielen verschiedenen Menschentypen mit verschiedenem Hintergrund und verschiedenem Glauben, darunter Individuen, die an keinen Gott glauben. Keiner unserer Bürger, eingeschlossen atheistische Amerikaner, soll sich von den Wahlen oder vom politischen Leben ausgeschlossen fühlen." Bemerkenswert ist, dass B‘nai B'rith, die jüdische Dachorganisation der ADL, Lieberman verteidigte und sich von Berkowitz und Foxman distanzierte.

Es steckt mehr hinter Liebermans leichtfertiger Haltung zu grundlegenden politischen Fragen als bloße Ignoranz. Ein Mann, der eine solch geistlose Aussage zum ersten Artikel der Bill of Rights macht, hat seit langem nicht mehr - wenn überhaupt jemals - ernsthaft über Verfassungsfragen nachgedacht.

Lieberman bringt eine Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Prinzipien zum Ausdruck, die das politische Establishment als Ganzes charakterisiert. Dieses politische Merkmal kann nicht einfach der subjektiven Qualität dieses oder jenes Politikers zugeschrieben werden. Es ist vielmehr die Widerspiegelung eines politischen Phänomens mit objektiven Wurzeln in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft.

Erst vor 40 Jahren machte John F. Kennedy, der erste katholische Präsident, die strikte Trennung der Religion vom politischen Leben zur Grundlage seines Wahlkampfes. Er hob hervor, dass seine religiösen Überzeugungen niemanden außer ihn selbst etwas angingen und dass sie, wenn er gewählt würde, keinerlei Einfluss auf die Regierungspolitik ausüben würden.

Wie soll man den Übergang von Kennedy zu Lieberman werten? Er ist Ausdruck eines umfassenden politischen Niedergangs von demokratischen Institutionen in Amerika. Dieser politische Niedergang wiederum wurzelt in gesellschaftlichen Veränderungen, vor allem im enormen Anwachsen der ökonomischen Ungleichheit.

Die Kluft, die die reichsten fünf bis zehn Prozent vom Rest der Bevölkerung trennen, spiegelt sich in der Entfremdung des gesamten politischen Establishments von der Masse der arbeitenden Bevölkerung und in der extremen Verkleinerung der Basis beider großen Wirtschaftsparteien wider. Die Kandidaten dieser Parteien vertreten unabhängig von ihrer Wahlkampfrhetorik jene gesellschaftlichen Schichten, deren Reichtum im Zuge des verlängerten Booms an der Wall Street entstanden und gewachsen ist. Mit dem Steigen der Aktienwerte ist die Korruption des politischen Systems unverhüllter und allgegenwärtiger geworden. Das Resultat ist eine politische Elite, die unfähig ist, den grundlegendsten demokratischen Prinzipien Ausdruck zu verleihen.

Trotz der unbekümmerten Haltung von Lieberman und Co. haben Ideen ihre eigene Logik. Die Förderung der Vorstellung, dass es in Amerika keine Freiheit von Religion gibt, könnte tragische Konsequenzen nach sich ziehen. Wer soll in Zukunft verhindern, dass dem Kongress ein Gesetz vorgelegt wird, nach dem die Vereinigten Staaten zu einer christlichen Nation ernannt werden - mit all dem, was ein solches Gesetz in Bezug auf politische Massenrepression beinhalten würde?

Liebermans Aussagen haben die akute Gefahr verdeutlicht, die im Niedergang des politischen Lebens in den Vereinigten Staaten beinhaltet sind. Sie haben der Vorstellung ein Ende bereitet, dass man bei den Wahlen für das "geringere zweier Übel" stimmen kann und dass ein Sieg der Demokraten die demokratischen Rechte sichert. Wenn die Clinton-Regierung eine erniedrigende Kraftlosigkeit gegenüber der extremen Rechten an den Tag legte, so wird eine Gore-Regierung die Übernahme großer Teile des Programms der Republikaner durch die demokratische Partei verkörpern.

Wie auch immer die Wahlen ausgehen, der Boden für eine dramatische Eskalation im Angriff auf demokratische Rechte ist bereitet.

Siehe auch:
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