Nach dem Arabischem Gipfel

Israel weitet Angriffe auf Palästinenser aus

Das israelische Militär griff am späten Sonntag Abend mit Kampfhubschraubern die Stadt Beit Jala auf der Westbank in der Nähe von Ost-Jerusalem an und zerstörte eine Fabrik. Am Montag Morgen umzingelten israelische Armeeeinheiten die Stadt. Die Regierung von Premierminister Ehud Barak verschärfte nach dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Kairo ihre seit drei Wochen andauernden militärischen Angriffe auf die palästinensischen Massen.

Die Anzahl der Todesopfer ist auf etwa 130 gestiegen; alle Opfer, bis auf acht, sind Araber.

Am Wochenende gab Barak seinen Entschluss bekannt, eine "Pause" einzulegen, um den "Friedensprozess neu einzuschätzen". Er führt Verhandlungen mit dem rechten Oppositionsführer Ariel Sharon vom Likud-Block zur Bildung einer Notstandsregierung. Bis jetzt hat der Likud dem Eintritt in eine solche Regierung noch nicht zugestimmt und nutzt die Verhandlungen, um Barak in eine kriegerischere Haltung zu drängen und eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen so gut wie auszuschließen. Die religiösen Parteien Schas und die National-religiöse Partei vertreten eine ähnliche Haltung wie Likud.

Ende letzter Woche erklärte Baraks "Ein Israel"-Koalition, sie werde frühere Pläne für den Fall einer "einseitigen Lostrennung" wieder aus der Schublade holen, falls Arafat einseitig die Gründung eines palästinensischen Staates verkünden sollte. Die Pläne sehen die Einmauerung der Palästinenser hinter Betonmauern und Stacheldraht und die Unterbrechung der Telekommunikationswege, der Wasser- und der Stromversorgung vor.

Die palästinensischen Gebiete auf der Westbank und im Gazastreifen würden von Investitionen und vom Handel abgeschnitten sowie von 110.000 Arbeitsplätzen in Israel, die 20 Prozent zum palästinensischen Bruttosozialprodukt beitragen. Ebenso würde Israel große jüdische Siedlungen auf der Westbank annektieren und sie in schwerbewaffnete Außenposten verwandeln, die palästinensische Dörfer und Städte kontrollierten. Der palästinensische Informationsminister Yasir Abed Rabbo beschrieb die israelischen Pläne als "eine Kriegserklärung" und "einen Apartheidplan".

Baraks jüngste Aktionen waren eine Reaktion auf die beiden wichtigen Ereignisse im Nahen Osten in der letzten Woche - auf den von den USA inspirierten israelisch-palästinensischen Gipfel in Sharm el Sheik am 16. und 17. Oktober und auf das Gipfeltreffen der Arabischen Liga am Wochenende des 21. und 22. Oktober. Sie zeigen an, dass Barak trotz seiner Dementis den Friedensprozess mit den Palästinensern buchstäblich fallengelassen hat.

In Sharm el Sheik setzten die USA den Führer der palästinensischen Autonomiebehörde, Yassir Arafat, unter Druck, öffentlich zur Beendigung aller arabischen Proteste aufzurufen und weitere Zugeständnisse an Israel zu machen. Arafat tat, was von ihm verlangt wurde, und gab sogar seine Forderung nach einer unabhängigen internationalen Kommission zur Untersuchung der Gewalt zu Gunsten des israelischen Gegenvorschlags für eine von den USA geführte Untersuchung auf. Barak stimmte im Gegenzug einer Lockerung der israelischen Militärblockade der Westbank und des Gazastreifens zu. Aber kaum war der Gipfel beendet, führte Israel seine Zusagen ad Absurdum, als die Armee erklärte, sie gebe der palästinensischen Autonomiebehörde 48 Stunden Zeit, jegliche Proteste zu unterbinden; vorher würden die schwerbewaffneten Einheiten nicht aus den palästinensischen Gebieten zurückgezogen.

Diese einseitige Kriegserklärung war selbst eine Provokation und ihr folgten mehrere Zwischenfälle, die die Spannungen auf dem Siedepunkt halten und die Chancen für einen Waffenstillstand verringern sollten. Am 19. Oktober erhielt eine Gruppe von 36 israelischen Siedlern eine bewaffnete Eskorte, um einen Hügel oberhalb von Nablus zu besuchen, angeblich um ein jüdisches Heiligtum, das Josephsgrab, zu besichtigen. Es brachen Kämpfe aus, bei denen ein Palästinenser und ein Jude starben und Dutzende Palästinenser verletzt wurden. Am selben Tag drangen israelische Sondereinheiten nach Ramallah ein, um bis zu acht Personen gefangen zu nehmen, die verdächtigt werden, an der Ermordung israelischer Soldaten beteiligt gewesen zu sein. Freitag, der 20. Oktober, war einer der Tage mit den schlimmsten gewalttätigen Auseinandersetzungen überhaupt; allein an diesem Tag wurden auf der Westbank zehn Palästinenser getötet.

Sharm el Sheik wurde von den palästinensischen Massen im Großen und Ganzen als eine weitere Kapitulation Arafats vor den USA und Israel gesehen, und die israelischen Aktionen in den Tagen danach stachelten ihre Wut nur noch weiter an. Alle islamischen Oppositionsgruppen verurteilten den Waffenstillstand, und diesmal schloss sich ihnen sogar Arafats eigene Fatah an.

Arabische Führer folgen der amerikanischen Linie

Die vierzehn Staatschefs, die sich in den darauf folgenden beiden Tagen zum arabischen Gipfel in Kairo versammelten, verabschiedeten eine formelle Verurteilung Israels, beschlossen aber keine Sanktionsmaßnahmen und forderten eine Rückkehr zu Verhandlungen. Der Gastgeber des Gipfels, der ägyptische Präsident Mubarak, sagte, die Araber hätten eine "verantwortungsvolle Position" eingenommen und hofften, Israel werde in gleicher Weise reagieren. Stattdessen verurteilte der israelische Ministerpräsident Ehud Barak die "Sprache der Drohungen" und bekräftigte seine Entscheidung, die Verhandlungen mit den Palästinensern abzubrechen.

Mubarak, König Abdullah von Jordanien und Kronprinz Abdullah von Saudiarabien zählen sich zu den Hauptverbündeten der USA im Nahen Osten. Sie spielten eine Schlüsselrolle dabei, die arabischen Staaten 1991 zu einer Hinnahme der amerikanischen Kriegserklärung gegen den Irak zu bewegen, und setzen sich seit langem für eine politische Annäherung an Israel ein. Aber alle bürgerlichen arabischen Staaten, auch die, die sich einer militanteren Rhetorik befleißigen, sind in Wirklichkeit mehr an guten diplomatischen und finanziellen Beziehungen zu den USA und Israel interessiert, als an dem Schicksal der palästinensischen Massen. Mehrere der Teilnehmer der Veranstaltung von Kairo forderten einen heiligen Krieg, einen Jihad, zur Befreiung Palästinas. Aber der jemenitische Präsident Ali Abdallah Salih versicherte seinem ägyptischen Gastgeber, dass das nicht ernst gemeint sei: "Wir rufen nicht zum Krieg auf."

Unter Salihs Verantwortung findet im Moment eine gemeinsame Untersuchung des Angriffs auf den Zerstörer Cole der US Marine vom 12. Oktober durch die jemenitische Polizei und amerikanische Polizei- und Geheimdienstbehörden statt. Seine Untersuchungsbeamten zeigen mit dem Finger in Richtung von Amerikas offiziellem Feind Nummer eins, Osama bin Laden.

Libyens Muammar al Gaddafi war gegen die Einberufung des Kairoer Gipfels und lehnte eine Teilnahme ab. Seine Begründung war Ausdruck der wachsenden Besorgnis in herrschenden arabischen Kreisen, dass Israels brutales Vorgehen Volksaufstände in der ganzen Region provozieren könnte. Er erklärte: "Ich möchte sie [die arabischen Führer] vor dem Zorn der Massen schützen, die sich gegen sie wenden werden... Ein Gipfel muss einen Krieg oder einen Wirtschaftsboykott gegen den Feind erklären, aber die Araber sind nicht fähig, gegen den Feind zu kämpfen oder ihn zu boykottieren."

Gaddafis Furcht vor einer Volksbewegung gegen die bürgerlichen arabischen Regime ist nur allzu berechtigt. Die größte Gefahr für die USA und Israel besteht darin, dass der Angriff auf die Palästinenser die latente soziale und politische Opposition der Arbeiterklasse und der Bauernmassen gegen die arabischen Herrscher offen aufflammen lassen könnte. Das Versagen des Gipfels von Kairo, irgendwelche konkreten Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen, wurde von Marokko bis Jemen von den Massen scharf verurteilt und mit Protesten beantwortet.

In Ägypten selbst riefen Tausende Studenten auf einer Demonstration: "Wo ist die arabische Armee?" Viele der arabischen Arbeiter und Studenten, die von westlichen Reportern interviewt wurden, machten klar, dass sie wenig von ihren Führern erwarteten. Was die arabischen Regime in der Vergangenheit an Massenunterstützung gehabt haben mögen, schwindet schnell dahin. Diese Länder sind von einer extremen sozialen Polarisierung zwischen einer reichen Elite, die den Ölreichtum der Region für sich ausbeutet, und den Arbeitern und Bauern, die ständig um eine bescheidene Existenz kämpfen müssen, gekennzeichnet

Die Besorgnis bei den Westmächten über die politischen Folgen der Wendung Israels zu militärischer Unterdrückung fand ihren Ausdruck in einem Artikel der einflussreichen deutschen Wochenzeitung Die Zeit, die von dem früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt mit herausgegeben wird. Der Autor Michael Lüders warnte, dass die Gefahr nicht so sehr in einem arabischen Krieg gegen Israel liege, sondern vielmehr "in einer Implosion der politischen Beziehungen, einem Zusammenbruch der arabischen Regime."

Eine neue Perspektive wird gebraucht

Israels Entscheidung, siebenjährige Verhandlungen scheitern zu lassen, bestätigt, dass eine gerechte und demokratische Lösung der Probleme im Nahen Osten unvereinbar mit der Existenz eines Staates ist, dessen Grundlage die Religion und die Enteignung und Unterdrückung der Palästinenser ist. Die Fraktionen in den herrschenden Kreisen Israels, die eine Verhandlungslösung suchten - ursprünglich angeführt von Shimon Peres und Itzak Rabin, und später von Barak - erwiesen sich als unfähig, den demokratischen und sozialen Interessen der palästinensischen Massen wesentliche Zugeständnisse zu machen. Bei jeder Gelegenheit trafen sie auf die entschiedene Opposition der extremen Rechten im politischen und militärischen Establishment des Zionismus, gegen die keine israelische Regierung lange regieren kann.

Die Ereignisse haben gleichzeitig die Sackgasse von Arafats nationalistischer Perspektive im Kampf für einen palästinensischen Staat gezeigt - sei es mittels bewaffnetem Kampf, mittels Manövern mit den USA und den arabischen Regimen oder einer Kombination von beiden. Der Vertrag von Oslo von 1993 legte die Grundlage dafür, dass die palästinensische Autonomiebehörde über eine Reihe von Enklaven auf der Westbank und im Gazastreifen gebietet, die Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 erobert hatte. Diese Gebiete sind von israelisch kontrollierten Grenzen umgeben und wirtschaftlich von dem mächtigeren Nachbarn abhängig.

Die Schlüsselfragen der gemeinsamen Souveränität über Jerusalem und der Rückkehr von Millionen palästinensischer Flüchtlinge wurden nie gelöst. Die herrschende Clique der palästinensischen Autonomiebehörde um Arafat hat sich selbst bereichert, aber an der Armut und der Erniedrigung der einfachen Palästinenser hat sich nichts geändert.

Während Israel diesem verstümmelten palästinensischen Gebilde die Aussicht auf eine schlussendliche Unabhängigkeit vorgaukelte, brachte es weiterhin Tausende jüdische Siedler in die Teile der besetzten Gebiete, die es auf jeden Fall behalten wollte. Die Siedler wiederum gehören zu den kompromisslosesten Gegnern jeder Vereinbarung mit den Palästinensern und sind eine Hochburg des Likud und noch rechterer politischer Gruppen.

Die islamischen Gruppen wie Hamas, Islamischer Jihad und Hisbollah versuchen, die wachsende Opposition gegen Arafat auszunutzen und den Zorn der palästinensischen und arabischen Massen auf ihre Mühlen zu lenken. Aber auch sie bieten keine Perspektive, die den sozialen und demokratischen Interessen der arabischen Arbeiter und Bauern gerecht wird. Ihre Perspektive unterscheidet sich von der Arafats nur durch das Maß an militantem Druck, den sie auf Israel und die USA auszuüben versuchen. Samt und sonders sind sie politisch und finanziell von den einen oder den anderen arabischen Regimen abhängig, die schon mehrfach ihre Bereitschaft bewiesen haben, die Palästinenser zu opfern.

Der einzige Weg, der israelischen Offensive gegen die palästinensischen Massen erfolgreich zu begegnen, ist ein neues internationalistisches Programm, das arabische und jüdische Arbeiter auf einer gemeinsamen demokratischen, säkularen und sozialistischen Plattform zusammenschließen kann.

Das zionistische Regime ist von enormen Gegensätzen zwischen jüdischen Arbeitern und der herrschenden Elite gezeichnet. Seit zehn Jahren verschlechtern sich die Löhne und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. Die Arbeitslosigkeit beträgt schon zehn Prozent, und weitere Tausende Arbeitsplätze sind angesichts der Privatisierungspolitik der Regierung und der Kürzung der öffentliche Haushalte in Gefahr.

Bisher ist es den Rechten mit Hilfe von Barak weitgehend gelungen, die soziale und politische Unzufriedenheit gegen die Palästinenser zu richten. Obwohl viele Arbeiter, Intellektuelle und Friedensaktivisten in Israel gegen die Handlungen Baraks und des Militärs sind, fühlen sie sich angesichts des Fehlens einer organisierten politischen Opposition eingeschüchtert.

Diese Situation kann geändert werden, wenn eine Perspektive Unterstützung gewinnt, die den gemeinsamen sozialen und politischen Interessen der arabischen und jüdischen Arbeiter entspricht. Die Arbeiter und unterdrückten Massen der gesamten Region können nur durch den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens vereint werden; auf diese Weise können die riesigen natürlichen Reichtümer der Region eingesetzt werden, um jedermann ein anständiges Leben zu gewährleisten.

Siehe auch:
Israels Schritte zum Krieg und das zionistische Erbe
(18. Oktober 2000)
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