62 Jahre nach der Reichspogromnacht

200.000 demonstrieren in Berlin gegen Nazi-Terror

Über 200.000 Teilnehmer kamen am 9. Dezember zu einer Demonstration im Zentrum Berlins, um ihre Ablehnung und Abscheu gegen die Neonazis zu zeigen, die für mehrere tausend brutale rassistische Angriffe und über hundert Tote seit der deutschen Wiedervereinigung verantwortlich sind. An der Demonstration beteiligten sich Leute aller Alters- und Gesellschaftsgruppen, darunter Rentner, die persönlich unter dem Nazi-Terror gelitten hatten, und ganze Schulklassen, die öffentlich Rassismus und Faschismus verurteilen wollten.

Auch in mehreren anderen deutschen Städten fanden Demonstrationen gegen die Nazis mit Tausenden Teilnehmern statt, unter anderem in Mainz, Münster, Schwerin, Rostock, Stuttgart, Dresden und mehreren Ruhrgebietsstädten. In Bremerhaven, wo die Rechtsextremen besonders aktiv sind, beteiligten sich 20.000 an einer Menschenkette.

Der 9. November markiert mehrere historische Daten. 1938 brannten an diesem Tag die Synagogen und die Nazis plünderten und brandschatzen jüdische Geschäfte, der Auftakt zu den Geschehnissen, die schließlich im Holocaust gipfelten. 1989 fiel am 9. November die Mauer. Und auch der Ausbruch der Novemberrevolution von 1918 fällt auf diesen Tag.

Die Berliner Demonstration war von der rot-grünen Bundesregierung initiiert worden, die seit dem Sommer eine Propagandakampagne gegen rechte Gewalt führt. Ihre Hauptsorge galt dabei dem Umstand, dass die Aktivitäten der Neonazis der deutschen Wirtschaft im Ausland schaden und dass die Eskalation der Gewalt zu einer innenpolitischen Destabilisierung führen könnte. Im Mittelpunkt ihrer Kampagne stand deshalb die Stärkung von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz und die Vorbereitung eines NPD-Verbots. Aber nachdem die weitverbreitete Abneigung gegen das brutale Vorgehen von Skinheads und Faschisten immer deutlicher wurde, traten SPD und Grüne für eine Demonstration unter der Parole "Wir stehen ein für Menschlichkeit und Toleranz" ein.

Schließlich schlossen sich alle großen Parteien dem Demonstrationsaufruf an. Unter den Unterzeichnern befanden sich auch Politiker, die für ihre ausländerfeindliche und nationalistische Haltung berüchtigt sind, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und der Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag, Friedrich Merz. Es gab aber auch bemerkenswerte Ausnahmen, wie den rechtslastigen brandenburgischen Innenminister und Ex-General Jörg Schönbohm, die die Demonstration offen boykottierten. Auch zahlreiche prominente Künstler, Medien- und Sportstars unterstützten die Demonstration.

Die Organisatoren der Berliner Demonstration waren wochenlang von einer Teilnehmerzahl von 30.000 bis 35.000 Personen ausgegangen. Schließlich kamen mehr als sechs Mal so viele. Die ursprünglich angenommene Zahl von 30.000 wurde bereits vor der Hauptsynagoge an der Oranienburger Straße erreicht, von wo der Demonstrationszug zum Brandenburger Tor zog. Aufgrund der hohen Zahl von Teilnehmern, die zahlreiche Straßen verstopften, hatten die Sicherheitsleute große Schwierigkeiten, die führenden Vertreter von Regierung und Establishment dem Marsch entlang zu geleiten.

Die hohe Beteiligung war kein Zeichen des Vertrauens in die Politik der Regierung und der Politiker, die die Demonstration anführten. Die meisten Teilnehmer kamen trotz ihrer Abneigung gegen die Methoden, mit denen die großen Parteien einschließlich SPD und Grüne Fremdenfeindlichkeit und Sozialabbau fördern.

Obwohl die Veranstalter offensichtlich bemüht waren, die Demonstration so unpolitisch wie möglich zu gestalten, zeigten viele Teilnehmer ein gesundes Misstrauen gegen die Motive der Regierung. Einige Transparente kritisierten die Ausländerpolitik von Innenminister Otto Schily. Auf eine kurze Botschaft von Kanzler Schröder reagierten die Demonstranten größtenteils mit Schweigen, und als das Gesicht von CSU-Chef Stoiber auf einer Videowand auftauchte, gab es Pfuirufe und Buhen.

Stoiber, dessen CSU berüchtigt ist für ihre repressive Haltung gegenüber Ausländern und Asylsuchenden, hat sich führend an der Kampagne des Unionsfraktionsvorsitzenden Merz für eine "deutsche Leitkultur" beteiligt, der sich in Deutschland lebende Ausländer anpassen sollen und die inzwischen zur offiziellen Politik der Union geworden ist.

Auf der Schlusskundgebung wurden lediglich zwei Sprecher zugelassen: Bundespräsident Johannes Rau und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel. Bis auf einige kurze Solidaritätsadressen von Individuen aus Politik und Unterhaltung wurden keine Parteien zugelassen, und auch politische Infostände waren verboten.

Bundespräsident Rau erntete höflichen Beifall, als er den Nazi-Terror verurteilte. Anschließend bemühte er sich, eine Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus zu machen, und behauptete, die beiden schlössen sich gegenseitig aus.

Im Gegensatz zu Rau erntete Paul Spiegel langen, stürmischen Applaus, als er den Konsens durchbrach, keinem der Anwesenden auf die Füße zu treten, und die CDU/CSU wegen ihrer Debatte über die "deutsche Leitkultur" offen angriff. Er sagte: "Was nützt es, in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages nach den Attentaten auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin in wohlklingenden Reden den Antisemitismus zu verdammen, wenn einige Politiker am nächsten Tag Wörter wählen, die missverstanden werden können? Was soll das Gerede um die deutsche Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?"

Spiegel verurteilte auch die Brandreden jener, die zwischen "Ausländern, die uns nützen" und "Ausländern, die uns ausnutzen" unterscheiden - eine deutliche Bezugnahme auf den bayerischen Innenminister Beckstein, wie alle Anwesenden verstanden. Während das Publikum begeistert applaudierte, erstarrte das Gesicht der auf der Bühne sitzenden CDU-Vorsitzenden Angela Merkel zur Maske. Die begeisterte Reaktion auf Spiegels Rede war Ausdruck einer weitverbreiteten Abneigung gegen den zynischen Versuch der Regierung und der Opposition, sich als konsequente Gegner des Rassismus darzustellen.

In mehreren Diskussionen mit dem Autor dieser Zeilen brachten Demonstrationsteilnehmer nicht nur ihre Wut und ihren Ärger über die Aktivitäten der Neonazis zum Ausdruck, sondern auch ihre Ablehnung gegenüber dem Konzept einer "deutschen Leitkultur". Einige sagten, sie hätten lange überlegt, ob die überhaupt zur Demonstration kommen sollten - weil sie die Regierung in keiner Weise unterstützen wollen. Doch schließlich sei ihnen die Ablehnung der Rechten wichtiger gewesen als die Unzufriedenheit über die Regierungspolitik. Ein junger Mann aus Kanada berichtete, er wolle am nächsten Tag das Konzentrationslager Auschwitz besuchen und dann das Haus seiner alten Familie in Polen besuchen, aus der viele Mitglieder den Nazis zum Opfer fielen.

Siehe auch:
Die Brandstifter spielen Biedermann
(8. November 2000)
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