Al Gores Wahlkampagne

Das Todesröcheln des amerikanischen Liberalismus

Am heutigen Dienstag wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Wir veröffentlichen dazu den folgenden Kommentar. Der Begriff Liberalismus hat im amerikanischen Sprachgebrauch eine andere Bedeutung als im europäischen: er bezeichnet nicht eine Wirtschaftspolitik des Laisser-faire, sondern eine Sozialpolitik der Zugeständnisse und Reformen. Die Red.

Im Verlauf der diesjährigen Wahlkampagne hat vor allem eine Frage die Medienexperten verblüfft: Warum ist Al Gore unfähig, einen, wie man glauben müsste, überwältigenden Vorteil auszunutzen? Geht man von der Annahme aus, dass sich die USA zur Zeit in einer beispiellosen Phase der wirtschaftlichen Prosperität befinden, dann scheint die sehr reale Möglichkeit einer demokratischen Niederlage der traditionellen Weisheit zu widersprechen, dass die Partei des Amtsinhabers "in guten Zeiten" gewinnt. In der Mehrzahl aller Fälle ist eine Niederlage der Partei des Amtsinhabers auf eine ungünstige Wirtschafskonjunktur zurückgeführt worden. 1920, 1932, 1960, 1976, 1980 und 1992 hatte eine vorangegangene Rezession die Niederlage der Partei des Amtsinhabers angekündigt.

Es gab auch einige bemerkenswerte Ausnahmen von dieser Regel. Wahlergebnisse entsprechen nicht immer dem Wirtschaftszyklus. 1912 konnte Wilson das Weiße Haus trotz einer expandierenden Wirtschaft erobern, weil die Republikanische Partei gespalten war. 1952 erleichterte die Unzufriedenheit über den Verlauf des Koreakriegs den Sieg Eisenhowers, der als zusätzlicher Vorteil seinen Ruf als siegreicher General ins Feld führen konnte. Und der Vietnamkrieg diskreditierte die Johnson-Humphrey-Administration und führte 1968 zur Wahl Nixons.

Aber obwohl diesmal weder ein Krieg noch ein besonders glaubwürdiger Gegner vorhanden ist, nähert sich Gores Kampagne offensichtlich schwer angeschlagen der Ziellinie. Warum?

Die Analysen der Medien sind in der Regel oberflächlich und konzentrieren sich auf die eine oder andere persönliche Charaktereigenschaft, die Gores Popularität untergrabe. An diesen Beobachtungen mag etwas Wahres sein, aber zu einem tieferen Verständnis der grundlegenderen politischen und gesellschaftlichen Prozesse tragen sie wenig bei.

Was sind die wesentlichen Gründe für den jämmerlich Zustand von Gores Kampagne? Betrachten wir als erstes die Annahme, die allen Medienanalysen zugrunde liegt und die kaum hinterfragt wird, dass wir uns in einer Ära beispielloser wirtschaftlicher Prosperität befänden. Dieser Glaubensartikel spiegelt nicht so sehr die Realität wieder, die komplexer und beunruhigender ist, als die privilegierte finanzielle Lage der Meinungsmacher in den Medien.

Die Arbeitslosenzahlen sind zwar im vergangenen Jahrzehnt gefallen, aber diese Statistik gibt nur einen Aspekt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage wieder. Für die überwiegende Mehrheit der Amerikaner waren die 90er Jahre durch wirtschaftliche Unsicherheit und Stress geprägt. Der Begriff Arbeitsplatzsicherheit hat jede praktische Bedeutung verloren. Das Lohnniveau ist kaum der Inflationsrate gefolgt. Zig Millionen Arbeiterfamilien sind hochverschuldet und fürchten die Folgen einer unerwarteten Notsituation. Der plötzliche Arbeitsplatzverlust kann zur Katastrophe werden.

Soziale Grundbedürfnisse - Gesundheitsversorgung, Erziehung, Altersversorgung - befinden sich außerhalb der Reichweite jener 40 Millionen Amerikaner, die als arm gelten. Selbst für die Mehrheit der Beschäftigten stehen sie in Frage. Ein wirtschaftlicher Rückgang - selbst eine sogenannte "weiche Landung" - würde die extrem unsichere Lage der Arbeiterklasse in kurzer Zeit ans Licht bringen.

Betrachtet man sie im Zusammenhang mit der tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Amerika, dann werden die wahren Gründe für die Krise von Gores Kampagne deutlich. Trotz zeitweiligen Anfällen von pseudopopulistischer Demagogie vertritt Gore eine politische Partei, die der Arbeiterklasse programmatisch nichts Substanzielles zu bieten hat.

Es wurde viel über Gores hölzernes Auftreten geschrieben, oder - wie es ein etwas tiefsinnigerer Kommentar formulierte - "die Unfähigkeit des Vizepräsidenten, auf nahezu alle Fragen, die ihm gestellt werden, eine klare, eindeutige Antwort zugeben..." Diese Eigenschaft ist allerdings weniger ein Ergebnis persönlicher Schwächen, als der Widersprüchlichkeit der Demokratischen Partei. Ihr Bemühen, sich als Wahrerin der Interessen der arbeitenden Amerikaner auszugeben, gerät ständig in Widerspruch zur Notwendigkeit, sich ihrer Gönner aus der Wirtschaft zu versichern. Umstände, die Gore selbst nicht kontrollieren kann, zwingen ihn, ständig doppeldeutig zu sein. Versprechen, das soziale Netz zu erhalten oder die Erziehung zu verbessern, werden durch nüchterne Bekenntnisse zur fiskalen Verantwortung ausgewogen.

Dieses Problem gibt es nicht erst seit Gore. In seiner Kampagne wird lediglich das Endstadium des langen Verfalls des amerikanischen Liberalismus sichtbar.

Wer das politische Geschehen in Amerika verfolgt, weiß, dass der Liberalismus während der letzten zwanzig Jahre zum unaussprechlichen politischen Schimpfwort geworden ist - zum "L...-Wort". Die Tatsache, dass sich kein Demokrat mehr als Liberaler zu bezeichnen wagt, der sich um ein Amt auf nationaler Ebene bewirbt, macht deutlich, dass es im Rahmen der bürgerlichen Politik keine tragfähige Grundlage mehr für soziale Reformen gibt.

Diese Entwicklung ist nicht neu. Die Krise des Liberalismus geht vor 1980 zurück, das Jahr von Ronald Reagans Wahlsieg, der oft - und fälschlicherweise - als Wendepunkt der amerikanischen Politik bezeichnet wird. Untersucht man die amerikanische Geschichte genauer, wird sogar deutlich, dass der Niedergang des Liberalismus als glaubhaftes Instrument der sozialen Reform bis in die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeht. Die Achillesferse des Liberalismus als bürgerlicher politischer Tendenz war seine organische Unfähigkeit, Lösungen für soziale Probleme vorzuschlagen, die über das hinausgingen, was für das kapitalistische Profitsystem akzeptabel war.

Mitte der dreißiger Jahre gestand der große amerikanische Philosoph John Dewey ein, dass der Liberalismus, der nach wie vor seine Treue zu demokratischen Idealen proklamierte, in der Praxis zur schamlosen Verteidigung der kapitalistischen Klasseninteressen herabgesunken war. Dewey hoffte allen Ernstes, dass der Liberalismus von seiner historischen Unterordnung unter den Kapitalismus befreit und als glaubhaftes Werkzeug tiefgehender Sozialreformen neu belebt werden könne.

In einem für ihn typischen Absatz schrieb Dewey 1930: "Der tragische Zusammenbruch der Demokratie ist ein Ergebnis der Tatsache, dass die Gleichsetzung von Freiheit mit größtmöglichem, ungehindertem individualistischem Handeln auf ökonomischem Gebiet unter den Institutionen der kapitalistischen Finanz ebenso verheerende Auswirkungen auf die Verwirklichung der Freiheit für alle hat, wie auf die Verwirklichung der Gleichheit. Sie wirkt zerstörerisch auf die Freiheit für viele, weil sie die echte Chancengleichheit zerstört."

Deweys Bemühungen um eine philosophische Grundlage für eine tragfähiges Programm liberaler Sozialreformen - im Gegensatz zum klassengestützten Programm der sozialistischen Revolution - zeitigten keinen Erfolg. Mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg und ihrer Verwandlung in eine führende imperialistische Großmacht entwickelte sich der amerikanische Liberalismus in eine sehr reaktionäre Richtung.

Am anschaulichsten äußerte sich die Rechtsentwicklung des Liberalismus in seiner enthusiastischen Unterstützung für den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, die er mit einer antikommunistischen Hexenjagd im Innern verband. Die Orgie der Rotenhatz, die von den Führern des amerikanischen Liberalismus politisch und intellektuell legitimiert wurde, führte zur Unterdrückung und Verfolgung jeglicher abweichender, sozialistischer und antikapitalistischer Meinung in den USA, insbesondere innerhalb der neuentstandenen Industriegewerkschaften.

Was die Beziehung des Liberalismus zur Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre betrifft, so muss daran erinnert werden, dass sich der Kampf gegen die Rassentrennung weitgehend gegen die Demokratische Partei entwickelte. Es gehört zu den hässlichen Tatsachen der amerikanischen Politik, dass nationale Wahlkampagnen der Demokratischen Partei bis weit in die sechziger Jahre hinein auf eine unheilige Allianz zwischen nördlichen Liberalen und südlichen Verfechtern der Rassentrennung angewiesen waren. Dieses Bündnis wurde erst durch das Ausbrechen von Massenkämpfen gesprengt, über die die Kennedy-Administration die Kontrolle verlor.

Nach Kennedys Ermordung verkündete Lyndon Johnson seine "Großartige Gesellschaft". Die Gesetze, die dann unter Johnson verabschiedet wurden, kennzeichneten aber keine Wiedergeburt des Liberalismus, sondern seinen letzten Atemzug. Johnsons "Krieg gegen die Armut" fiel dem Vietnamkrieg zum Opfer. Nicht eines der sozialen Ziele, die er verkündet hatte, wurde in die Tat umgesetzt. In den vergangenen dreißig Jahren sind republikanische wie demokratische Administrationen nicht nur systematisch von Johnsons sozialen Zielen abgerückt, sie haben auch die von ihm verwirklichten Programme wieder rückgängig gemacht.

Die politische Laufbahn der Demokratischen Partei wurde durch objektive, sozioökonomische Tendenzen bestimmt - vor allem durch die Konzentration von wirtschaftlicher Macht und Reichtum in den Händen einer zunehmend isolierten Elite, für die jede Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, auf denen ihre Privilegien beruhen, außer Frage steht. Die Demokratische Partei ist ein Werkzeug dieser Unternehmer- und Finanzaristokratie. Die Unergiebigkeit ihrer Plattform ist ein Maß für die Intoleranz der herrschenden Elite gegenüber allen Maßnahmen, die ihre wirtschaftliche Stellung und Interessen beeinträchtigen könnten.

In letzter Analyse ist Gores "hölzernes Auftreten" ein Ausdruck der Klassendisziplin und der Schranken, in deren Rahmen er sich bewegen muss.

Siehe auch:
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Veranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität:
Die amerikanische Präsidentschaftswahl und ihre internationale Bedeutung

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