Grüne forcieren Entwicklung zur Zwei-Klassen-Medizin

Am 6. November verabschiedete der Parteirat von Bündnis90/Die Grünen einstimmig ein Grundsatzpapier mit dem Titel "Grüne Gesundheitspolitik: Für Prävention, Qualität und Wirtschaftlichkeit", das Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) und der Grünen-Vorsitzende Fritz Kuhn ausgearbeitet hatten. Mit diesem Papier ergreifen die Grünen in der Regierung die Initiative beim Sozialabbau und machen sich zum Sprecher der Besserverdienenden und Reichen. Trotz wiederholter Benutzung des Wortes "Solidarität", laufen alle darin gemachten Vorschläge darauf hinaus, die Solidarität im Gesundheitswesen endgültig aufzukündigen.

Unter der Überschrift "Überprüfung des Leistungskatalogs" heißt es, dass "Überflüssiges, Fragwürdiges und Wünschenswertes zugunsten des medizinisch Notwendigen aus dem Leistungskatalog gestrichen werden" müsse. Krankenversicherungen könnten dann "entsprechende Wahlangebote oberhalb der medizinisch notwendigen Versorgung" machen. Wie jetzt schon bei den privaten Krankenversicherungen und Privatversicherungen in anderen Bereichen, sollen zahlreiche Leistungen nur denen zur Verfügung stehen, die dafür auch zahlen können.

Auch andere Vorschläge der Grünen gehen in diese Richtung. Während die Leistungskürzungen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung reduzieren sollen, sind die Vorschläge auf der Einnahmenseite nicht weniger einschneidend. Den weitest gehenden Angriff auf die bisherige solidarische Krankenversicherung macht wohl die Forderung nach Abschaffung der beitragsfreien Mitversicherung von Ehegatten aus. Dies würde gerade bei ärmeren Familien, die ohnehin schon mit nur einem Einkommen ihr Leben fristen müssen, Mehrbelastungen von mehreren hundert Mark im Monat bedeuten.

Das Sterbegeld in Höhe von 2000 DM für die Hinterbliebenen, das in der Praxis Familien zumindest zu einem Fünftel die Beerdigung ihrer Angehörigen finanziert, wollen die Grünen auch abschaffen. Das Mutterschaftsgeld soll der Bund, also der Steuerzahler, finanzieren. Außerdem gehöre die Belastung von pflichtversicherten Rentnern durch die Berücksichtigung von Zins- und Mieteinnahmen auf den "Prüfstand".

Das Bundesverfassungsgericht hatte geurteilt, dass die Berücksichtigung dieser Einnahmen bei den privat Versicherten eine Ungleichbehandlung gegenüber den gesetzlich Krankenversicherten darstellt, bei denen diese Einnahmen nicht in die Bemessung der Krankenversicherungsbeiträge fließen. Während die SPD vorhat, allen Ruheständlern die Beiträge auf Zins- und Mieteinnahmen zu erlassen, wollen die Grünen alle belasten - auch die gesetzlich versicherten Senioren, die mitnichten zu den Reichen gehören dürften.

Die Grünen haben sich offensichtlich entschlossen, rücksichtslos die Interessen ihrer gutverdienenden Klientel zu bedienen. Anders kann man ihre Bilanz nach zwei Jahren grüner Gesundheitspolitik in Regierungsverantwortung nicht deuten. Darin werden Planungen vorgestellt, wie die angeblich "erfolgreiche" Gesundheitspolitik weiter entwickelt werden kann. In hohen Tönen loben die Grünen unter der Überschrift "Solidarität" sich selbst und ihre Gesundheitsministerin für ihre Arbeit, die "bei stabilen Beiträgen ein einheitliches Versorgungsniveau für alle Versicherten unabhängig von ihrem Einkommen erreicht" habe.

Unpassend für die Grünen, dass das Diakonische Werk nur einen Tag später eine Dokumentation der Öffentlichkeit vorstellte, in der es an Einzelbeispielen aufzeigt, wie die Änderungen im Gesundheitswesen dazu führen, dass immer mehr Kranken "gesundheitlich notwendige Maßnahmen vorenthalten werden". "Besonders betroffen sind chronisch Kranke, sozial Schwache und Behinderte," heißt es in dieser Dokumentation.

Diese berichtet beispielsweise, wie ein Arzt den Bewohnern einer größeren Einrichtung der Behindertenhilfe die Verschreibung von Hilfsmitteln, insbesondere Physiotherapie, verweigerte, weil er sonst sein Budget in kurzer Zeit überschritten und von den Krankenkassen Regressforderungen erhalten hätte. Ähnlich erklärt sich der Fall einer 60jährigen Patientin mit Kniegelenkbeschwerden, die von einer orthopädischen Klinik die Mitteilung erhielt, aus Budgetgründen könne sie erst im nächsten Jahr operiert werden.

Einer 40jährigen Frau, die an Multipler Sklerose leidet und der Lymphknoten in der Brust entfernt werden mussten, wurde von den behandelnden Ärzten aus den gleichen Gründen eine von der Universitätsklinik empfohlene teure hormonelle Krebstherapie verweigert. Und einer gehbehinderten Seniorin verweigerte eine Krankenkasse mit Hinweis auf ihr Alter den Erwerb eines Elektrorollstuhls.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann älteren und chronisch kranken Menschen lebensnotwendige Behandlungen wie Nierendialysen und Herzoperationen aus Gründen der "Wirtschaftlichkeit" vorenthalten werden - so wie es in Großbritannien bereits heute der Fall ist.

Unmittelbarer Anlass zur Ausarbeitung des Grünen-Papiers war das widerliche Gerangel zwischen Gesundheits- und Arbeitsministerium, die beide versuchen, sich finanziell zu sanieren, indem sie bestimmte Ausgaben auf das jeweils andere abschieben. Die Grünen fürchten, bei der 2002 anstehenden Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern, und wollen sich profilieren, indem sie das "grüne" Gesundheitsministerium gegen das vom Sozialdemokraten Walter Riester geführte Arbeitsministerium unterstützen. Die Grünen wollten fortan in die "Offensive" gehen und ihre Gesundheitsministerin stärken, erklärte deshalb Fritz Kuhn, als er das Grundsatzpapier auf einer Pressekonferenz vorstellte.

Da sie unter Rentnern (noch) kaum über Wähler verfügen, spielen sich die Grünen als Interessenvertreter der jüngeren gegen die älteren Generationen auf und fordern "Generationengerechtigkeit" - eine ebenso demagogische wie reaktionäre Parole, die darauf abzielt, die Bevölkerung zu spalten und vom wirklichen Hintergrund des Sozialabbaus abzulenken: der massiven Umverteilung von Einkommen und Vermögen zugunsten der Reichen.

So verlangen die Grünen nun, bereits in der Regierungskoalition ausgehandelte Maßnahmen wieder zurückzunehmen. Hierbei geht es vor allem um die Kürzung der Arbeitslosenbeiträge zur Krankenversicherung und um Pläne zur Reform der Invalidenrente. Bei letzterer sollen die Rentenzahlungen erst ab dem siebten Monat erfolgen, im ersten halben Jahr sollen die Krankenversicherungen mit Krankengeld einspringen. Nach Angaben der Grünen führen beide Vorhaben zu einer Entlastung des Ressorts von Riester und einer Belastung des Ministeriums von Fischer in Höhe von 2,2 Milliarden DM.

Bei diesen Auseinandersetzung geht es letztlich nur darum, sich gegenseitig den "Schwarzen Peter" zuzuschieben. In der Sache - einem massiven Sozialabbau - sind sich beide Regierungsparteien einig, wie die stellvertretende SPD-Bundestagsfraktionssprecherin Gudrun Schaich-Walch immer wieder betonte. Die Grünen werden dabei immer mehr zur treibenden Kraft. Die Partei, die zur Zeit ihrer Gründung auch in vielen sozialen Fragen eher links von der SPD stand, betätigt sich immer mehr als Einpeitscher beim Sozialabbau, ähnlich wie dies die FDP als Koalitionspartner der SPD in den siebziger Jahren getan hat.

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