Wachsende Differenzen in den herrschenden Kreise Israels

Ein zweiter Waffenstillstand zwischen Israel und den palästinensischen Autoritäten drohte zusammenzubrechen, noch bevor er in Kraft getreten war.

Spät abends am Mittwoch, dem 1. November, verständigten sich die zwei Seiten auf die Durchsetzung der Vereinbarung vom Gipfeltreffen in Scharm el-Scheich, das von den Vereinigten Staaten im vergangenen Monat einberufen worden war, um die gegenwärtige Gewalt zu beenden und zum Status quo zurückzukehren.

Israel begann einige seiner Panzer aus den palästinensischen Gebieten abzuziehen, während die palästinensische Polizei hart gegen die Steine werfenden Demonstranten auf der West Bank und im Gazastreifen vorging. Doch am Donnerstag, dem 2. November, setzten sich die Kämpfe zwischen den beiden Seiten fort.

Die militanten islamischen Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad lehnten wiederholt eine Waffenruhe ab und forderten eine Ausweitung der palästinensischen Intifada gegen Israel. Ein Autobomben-Attentat in West-Jerusalem, zu dem sich der Islamische Dschihad bekannte, tötete zwei Israelis. Unter den Opfern befand sich die Tochter von Yitzhak Levy, dem Führer der rechten Nationalreligiösen Partei, die vor allem von den jüdischen Siedlern in den besetzten Gebieten unterstützt wird.

Die öffentliche Verkündung ihrer jüngsten Waffenstillstandsvereinbarung, die der israelische Premierminister Ehud Barak und Palästinenser-Präsident Yassir Arafat vorbereitet hatten, wurde abgesagt. Israel verhängte ein 24-stündiges Ultimatum, um zu entscheiden, ob Arafat die Situation unter Kontrolle habe. Im Verlauf des Tages erschossen israelische Streitkräfte mehrere Demonstranten. Die Zahl der Todesopfer, die die Gewalt in dem Zeitraum von mehr als vier Wochen gefordert hat, liegt nun bei mehr als 170. Es gab Zusammenstöße in palästinensischen Siedlungen im Gazastreifen, wobei die israelische Armee mehrere Raketenangriffe durchführte.

Trotz dieser Schwierigkeiten scheint die israelische Regierung mehr als zuvor um die Einhaltung des Waffenstillstands bemüht zu sein. Sprecher sagten am Freitag, sie seien überzeugt, dass Arafat sich wirklich um die Eindämmung der gewaltsamen Proteste bemühe. Baraks Sicherheitsberater Danny Yatom erklärte: "Die Absicht, Ruhe herzustellen, ist vorhanden."

Uneinigkeit in Israel

In den herrschenden Kreise Israels wächst die Angst, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. Am 1. November wurden drei israelische Soldaten in Feuergefechten getötet und Baraks Regierung stellte eine Listen von Vergeltungsmaßnahmen zusammen, darunter einen Hubschrauber-Raketenangriff auf ein palästinensisches Regierungsgebäude. Der israelische Außenminister Schlomo Ben Ami warnte, der Konflikt mit den Palästinensern sei "ein Krieg, wenn Sie so wollen, eine Mini-Krieg". Er fuhr fort: "Wir müssen diese Frage nicht als zivilen Aufstand begreifen, sondern als militärische Konfrontation."

Angesichts eine derartigen Eskalation des Konflikts wurden Verhandlungen mit Arafat organisiert - unter der Führung des ehemaligen israelischen Premierministers Schimon Peres, einem der Architekten des Osloer Abkommens zwischen Israel und den Palästinensern im Jahre 1993.

Israel hatte das Osloer Abkommen in der Hoffnung unterzeichnet, dadurch die schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Probleme des zionistischen Staats zu überwinden. Die langjährige Isolation und Abhängigkeit von US-amerikanischen Geldern wirkten erstickend auf das ökonomische Wachstum und die internationale Ausdehnung des israelischen Kapitalismus. Die israelische Wirtschaft litt unter Haushaltsdefiziten und chronischer Inflation.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Vereinigten Staaten immer weniger dazu bereit, die israelische Wirtschaft zu subventionieren. Angesichts neuer Möglichkeiten, die arabischen Regimes ihrem Diktat zu unterwerfen, waren die USA nicht länger einzig auf Israel angewiesen, um ihre Interessen im Mittleren Osten zu verteidigen. Wie der Golfkrieg gegen den Irak bestätigte, waren Ägypten, Syrien und andere arabische Regimes mehr als bereit, das zu tun, was Amerika von ihnen verlangte. Die Vereinigten Staaten forderten von Israel die Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Regimes, und dies erforderte eine Lösung der palästinensischen Frage.

Die israelische Bourgeoisie unter der Führung von Schimon Peres und Yitzhak Rabin betrachtete eine Verhandlungslösung als Schlüssel zur Überwindung ihre wirtschaftlichen Probleme. Internationales Kapital sollte angelockt und Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den arabischen Staaten aufgenommen werden. Eine Einigung hätte auch die Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung auf der West Bank und im Gazastreifen als Quelle billiger Arbeitskraft durch israelische Unternehmen möglich gemacht.

Doch seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens wurden diese Pläne von rechten Elementen in Israel durchkreuzt, die jedes Zugeständnis an die palästinensische Forderung nach eigenen Gebieten als unzulässig ansehen. Nach Rabins Ermordung im November 1995 durch einen religiösen Extremisten kam der Likud unter Benjamin Netanjahu an die Macht und sorgte in den nächsten drei Jahren dafür, dass eine abschließende Einigung mit der PLO und jegliche Anerkennung eines palästinensischen Staats in Teilen der West Bank und Gaza verhindert wurde.

Baraks Koalition Ein Israel übernahm die Regierung 1999 mit dem Wählerauftrag, eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern zu erzielen. Selbst jetzt noch unterstützen laut Meinungsumfragen zwischen 60 und 70 Prozent der Israelis weiterhin eine Einigung. Aber Barak hat sich trotz dieser breiten Unterstützung in der Bevölkerung unfähig erwiesen, die Kraftprobe gegen den rechten Flügel im politischen und militärischen Establishment zu bestehen.

Im Sommer verlor er seine parlamentarische Mehrheit durch den Koalitionsaustritt von drei rechten und religiösen Parteien, die Zugeständnisse an die Palästinenser ablehnen. Hierunter war auch die Schas, die drittgrößte Partei des Landes, die von orthodoxen sephardischen Juden unterstützt wird und mit 17 Parlamentssitzen in der Knesset das Zünglein an der Waage bildet.

Nur durch die dreimonatige Sitzungspause der Knesset wurde Barak vor der unmittelbaren Amtsenthebung bewahrt. Aber der Likud und sein Führer Ariel Scharon haben diese Zeit genutzt, um jede Möglichkeit zur Einigung mit den Palästinensern zu sabotieren und gleichzeitig die Absetzung der von der Arbeiterpartei geführten Koalition vorzubereiten.

Scharon übernahm die Führung des Likud nach der Wahlniederlage Netanjahus. Er war verantwortlich für das Massaker an Hunderten palästinensischer Zivilisten in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in Beirut vor 18 Jahren, als er die israelische Invasion des Libanons leitete. Er hatte den gegenwärtigen Konflikt mit seinem provokativen Besuch der al-Aksa-Moschee angeheizt, einem muslimischen Heiligtum im Osten Jerusalems, die er am 28. September mit schwerbewaffneter Begleitung aufsuchte.

Barak sucht die Einheit mit dem Likud

Barak reagierte auf alle Forderung nach einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Palästinensern, indem er ihnen beipflichtete. Er hat über die letzten Wochen versucht, eine Regierung der nationalen Einheit mit dem Likud zu bilden. Nachdem er jedoch die Regierung erfolgreich destabilisiert hat, reagiert Scharon auf Baraks Annäherungsversuche mit der Forderung, dass jegliche Rückkehr zu Verhandlungen ausgeschlossen wird. Scharon verlangt für sich das Recht, die Sicherheitspolitik zu bestimmen, und ein Vetorecht in Bezug auf alle diplomatischen Initiativen. Sollte Barak irgend eine Initiative ergreifen, die Scharon ablehnt, fordert er Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten.

Scharons Unnachgiebigkeit ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass er sich in einer stärkeren Position befinde als Barak, aber selbst er ist nicht der unumstrittener Herr der Situation. Ihm steht möglicherweise ein Kampf mit Netanjahu um die Führung des Likud bevor, nachdem die Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen Premierminister am 27. September fallengelassen worden sind. Am 24. Oktober gab Netanjahu über das Radio Stimme Israels bekannt, er lehne eine Regierungsbildung mit Barak ab, und drohte damit, die Frage innerhalb der Likud-Führung zur Entscheidung zu stellen.

Einflussreiche Stimmen innerhalb von Baraks Arbeiterpartei zeigen sich bestürzt über die Kämpfe mit den Palästinensern, die der Wirtschaft bereits einen geschätzten Schaden von mehr als einer Milliarde Dollar zugefügt haben. Justizminister Yossi Beilin, Außenminister Ben Ami und Peres, der das Amt des Planungsministers innehat, wandten sich öffentlich gegen Baraks Ankündigung, dass er eine "Auszeit" vom Friedenprozess nähme. Diese Figuren haben sich Baraks Bemühungen nach einer Vereinigung mit Scharon entgegengestellt.

Beilin sagte, eine Regierung der nationalen Einheit mit Likud sollte nicht erwogen werden, da die Alternative einer Regierung mit Meretz und Schas nicht geprüft worden seien.

Meretz entstand als Partei aus der Bewegung "Frieden Jetzt", die eine Verhandlungslösung mit den Palästinenesern basierend auf der Schaffung eines palästinensischen Staates befürwortet. Ihr Vorsitzender Yossi Sarid sagte, er könne, solange der Friedensprozess ausgesetzt ist oder falls Scharon in die Regierung eintritt, nicht wieder in das Kabinett eintreten.

Angesichts Scharons Unnachgiebigkeit und der Opposition in der Arbeiterpartei gegen die Forderungen des Likud brachen die Gespräche zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unmittelbar vor der Wiedereinberufung der Knesset am 30. Oktober zusammen. Scharon teilte den Medien mit: "Wir können Barak und seine gescheiterte Regierung nicht unterstützen und wir werden jede Anstrengung unternehmen, um ihn abzusetzen."

Barak entkam einem Misstrauensvotum, weil er von Schas das Versprechen erhielt, ihn einen Monat lang zu unterstützen. Seine Isolation wurde allerdings durch den feindseligen Empfang von allen Seiten offenkundig - durch Likud-Mitglieder, Parlamentarier der Vereinigten Arabischen Liste und selbst Vertreter seiner eigenen Partei.

Die Möglichkeit, dass der gegenwärtige Konflikt ein Ende findet, bleibt gering. Es gibt keine Anzeichen für eine große Unterstützung in der palästinensischen Bevölkerung für Arafats jüngste Versuche, den Konflikt mit Israel beizulegen. Am Freitag fanden Demonstrationen mit Tausenden von Hamas-Unterstützern statt, und weitere Zusammenstöße mit israelischen Sicherheitskräften in Ramallah, Bethlehem und Hebron führten zum Tod von mindestens einem Palästinenser.

In Israel behält die extreme Rechte im wesentlichen ihre Kontrolle über die israelische Politik, trotz des politischen Gegenangriffs, der von Peres und anderen gefahren wird. Hätte sich Barak mit Scharon zusammengeschlossen, wäre die Möglichkeit einer Übereinkunft mit den Palästinensern gleich Null gewesen. Aber der zeitlich begrenzte Deal mit Schas stellt auf lange Sicht keine Alternative dar. Schas-Führer Eli Ischai warnte nach der Knesset-Sitzung im israelischen Armee-Radiosender: "Die Vereinbarungen von Camp David sind gestorben." Sollte Barak die israelischen Vorschläge vom Gipfeltreffen wiederzubeleben versuchen, fuhr er fort, dann "hat er kein Sicherheitsnetz".

Barak weiß, dass er sich nur eine kurze Atempause verschafft hat, und bemüht sich weiterhin um eine Koalition mit dem Likud. Kommunikationsminister Benjamin Ben-Eliezer sagte nach der Knesset-Sitzung am 1. Oktober: "Das Sicherheitsnetz steht nicht im Widerspruch zur Bildung einer nationalen Notstandsregierung."

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