US-Wahlen

Warum schweigt Ralph Nader?

Ralph Nader, Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Grünen, bewahrt über das Ergebnis der amerikanischen Wahlen ein ohrenbetäubendes Schweigen.

Während seines Wahlkampfs hat Nader zu Recht kritisiert, dass das amerikanische Zweiparteiensystem vollkommen von der Wirtschaft kontrolliert wird, was bedeutet, dass breite Schichten der amerikanischen Bevölkerung praktisch keine Wahl haben - ein Affront gegen demokratische Grundrechte. Doch jetzt, wo die Reaktion des politischen Establishments ihre Kräfte bündelt und sich hinter das Bush-Lager stellt, wobei sie sich offensichtlich undemokratischer Methoden bedient und an rechtsradikale Stimmungen appelliert, um die Kontrolle über das Weiße Haus an sich zu reißen, hört man von Nader nicht ein einziges Wort des Protestes.

Es ist bemerkenswert, dass ein Präsidentschaftskandidat, der landesweit drei Prozent aller Stimmen erhalten hat - darunter fast 100.000 Stimmen in Florida - und sich selbst als progressive Alternative zu den Demokraten und Republikanern präsentiert hat, offenbar nichts zu den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen zu sagen hat. Eine öffentliche Erklärung Naders gegen den Versuch des Bush-Lagers, das Weiße Haus durch die Unterdrückung von Wählerstimmen einzunehmen, würde zweifellos der weitverbreiteten Feindschaft gegen die Machenschaften der Republikaner den Rücken stärken.

Doch Nader hat in mehreren öffentlichen Auftritten und TV-, Radio- und Zeitungsinterviews seit den Wahlen zu dieser Kontroverse nicht Stellung genommen. Ein Sprecher von Naders Washingtoner Zentrale bestätigte, dass der Kandidat der Grünen keine öffentliche Erklärung dazu abgegeben habe. Als der Verfasser dieser Zeilen nach dem Grund fragte, erklärte der Sprecher: "Es interessiert uns nicht sonderlich, was dort unten vor sich geht. Dies ist bloß ein politischer Kampf zwischen Demokraten und Republikanern." Auf die Frage, wie Nader angesichts zahlreicher Klagen über die republikanische Wahlfälschung und Einschüchterung von Minderheitenwählern, bei denen es um grundlegende Fragen demokratischer Rechte geht, Schweigen bewahren könne, sagte er: "Mister Nader hat das Recht dazu."

Wie ist Naders Schweigen zu erklären? Wie sein Sprecher schon andeutete, betrachtet er das Dilemma dieser Wahlen als nichts weiter als einen Disput zwischen zwei identischen, vom Kapital kontrollierten Parteien darüber, welche der beiden die Regierung erbeutet; also als etwas, worüber sich normale Leute nicht sonderlich aufzuregen brauchen.

Aber wie ist das möglich? Wie könnten Arbeiter gleichgültig bleiben, wenn rechte politische Elemente bereit sind, rücksichtslos über ihre demokratischen Rechte hinwegzutrampeln, und versuchen, die Hebel der Macht vollständig in ihre Hände zu bekommen?

Gegen diese Angriffe auf grundlegende Rechte muss die Arbeiterklasse den Kampf aufnehmen, aber sie muss das von ihrem eigenen, unabhängigen Standpunkt aus und mit ihren eigenen Methoden tun. Opposition gegen die republikanische Rechte bedeutet keineswegs politische Unterstützung für Al Gore und die Demokraten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Partei keine ernsthafte Verteidigung demokratischer Rechte gegen die Reaktionäre in der republikanischen Partei zuwege bringt. Diese Krise stellt der Arbeiterklasse die Aufgabe, ihre eigene politische Partei aufzubauen, die sich auf ein demokratisches und sozialistisches Programm stützt und die Interessen der breiten Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung verteidigt.

Naders Weigerung, der Attacke der Republikaner auf demokratische Rechte entgegenzutreten, zeigt, dass seine Organisation im Grunde keineswegs unabhängig von der herrschenden Elite ist. Seine Position, dass die Wahl zwischen den zwei Parteien wie die Wahl zwischen Pest und Cholera sei, mag radikal erscheinen, aber in Wirklichkeit ist es eine Form der Anpassung und Kapitulation vor den rechtsextremen Kräften, von denen die Republikaner beherrscht sind. Gerade weil die Grünen sich nicht auf die Arbeiterklasse stützen - in der Tat weisen sie sogar das Konzept des Klassenkampfs zurück -, sind sie unfähig, diesen offenen Angriffen auf grundlegende Rechte in irgendeiner Form Widerstand zu leisten.

Naders Schweigen über die aktuelle Krise passt zu seiner mechanischen und falschen Vorstellung, dass eine Identität zwischen den zwei Parteien im absoluten Sinne - weil sie beide die Interessen des amerikanischen Kapitals repräsentieren - auch jeden relativen Unterschied ausschließe. Aber natürlich existieren solche relativen Unterschiede, und in Zeiten der politischen Krise können sie eine entscheidende Rolle spielen und Auswirkungen auf breite Bevölkerungsschichten haben.

Es ist wahr, dass die kapitalistischen Interessen beide Parteien dominieren, und dass sich die politischen Differenzen zwischen ihnen verringert haben, insofern das gesamte politische Spektrum nach rechts abrutscht. Aber es ist ebenso wahr, dass sich diese zwei Parteien in den letzten zehn Jahre erbitterte Schlachten geliefert haben. Dafür muss es einen objektiven Grund in Konflikten zwischen verschiedenen Schichten der wirtschaftlichen und politischen Elite geben.

Begonnen hat der Konflikt in der herrschenden Klasse mit einer Reihe an den Haaren herbeigeholten Untersuchungen gegen die Clinton Regierung, darauf folgte die zeitweilige Stillegung der gesamten Bundesverwaltung, das erste Impeachment eines amtierenden Präsidenten und jetzt der Versuch der Republikaner, die Wahlen an sich zu reißen. Wer behauptet, diese Ereignisse hätten keine politische Bedeutung, leugnet die Realität.

Die republikanische Partei wird von rechtsradikalen Kräften dominiert, welche letztlich für mächtige Kreise des Großkapitals sprechen, die sogar Clintons konservative Politik als Hindernis für das noch viel rechtere Programm empfinden, das sie selbst dem Land aufoktroyieren möchten. Sie sind entschlossen, alles zu beseitigen, was die Anhäufung persönlichen Reichtums und die Ausbeutung der Arbeiterklasse in irgend einer Weise einschränkt. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Republikaner und ihre fundamentalistisch religiösen, rassistischen und faschistischen Anhänger bereit, demokratische Spielregeln und Verfassungsrechte außer Kraft zu setzen.

Die Demokraten, die sich von der Arbeiterklasse und den Minderheiten, in deren Namen sie einst zu sprechen vorgaben, abgewandt haben, repräsentieren andere Schichten der herrschenden Klasse und der privilegierten sozialen Schichten. Sie versuchen, die Interessen des amerikanischen Kapitalismus durch traditionellere Methoden bürgerlicher Demokratie zu wahren.

Arbeiter können unmöglich untätig abwarten, bis die herrschenden Kreise diesen Kampf unter sich ausgefochten haben, denn das hieße sehenden Auges in die Katastrophe gehen. Die entscheidende Frage, um die es hier geht, ist nicht das Schicksal von Gore oder Bush, sondern das Schicksal der demokratischen Rechte des amerikanischen Volkes.

Naders banale und selbstzufriedene Ansichten wurden vor kurzem in seinen Bemerkungen über den Wahlausgang erneut sichtbar. In einem Interview im National Public Radio vom 17. November sagte er in der Sendung Gespräch der Nation: "Was steht jetzt bevor? Ich glaube nicht, dass sich irgendetwas ändern wird, ganz egal ob Bush oder Gore gewählt worden ist. Sie blockieren sich gegenseitig. Sie befinden sich in einer Pattsituation. Ich glaube nicht, dass es irgend welche größeren Veränderungen in der politischen Richtung geben wird."

Nader erklärte auch gegenüber der New York Times, falls Bush gewänne, würde sein äußerst knapper Vorsprung, die gleiche Stärke der Fraktionen im Kongress sowie die Persönlichkeit des texanischen Gouverneurs selbst den möglichen Schaden in Grenzen halten. "Er weiß nicht allzu viel", sagte Nader über Bush. "Er ist nicht besonders durchsetzungsfähig. Er mag keine Konflikte."

Dies ist eine vollkommen falsche Einschätzung. Wie passt es zusammen, dass die Kreise hinter Bush, die bereit sind, das Land in eine Verfassungskrise zu stürzen und eine Spaltung zu provozieren wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr, bei ihrem Einzug ins Weiße Haus plötzlich einen gemäßigteren Kurs einschlagen sollen? Im Gegenteil, gerade weil sie spüren, dass ihre Stellung immer schwächer und unpopulärer wird, werden sie ihr reaktionäres Programm forcieren.

Nader merkt natürlich, dass es Unterschiede zwischen den zwei Parteien gibt. Aus diesem Grund hat er viel Zeit darauf verwandt, auf die Argumente zu antworten, er raube den Demokraten Stimmen, nicht aber den Republikanern. Er appellierte auch an die Demokraten, sie sollten "sich auf ihre progressiven Wurzeln besinnen".

Es handelt sich bei Nader um viel mehr als einen theoretischen Fehler oder eine falsche Einschätzung des Konflikts der zwei Parteien. Mit seinem Schweigen sind ganz reaktionäre politische Berechnung verbunden. Im Wahlkampf hat Nader nichts über die Vorgehensweise der Republikaner verlauten lassen, weil er rechte Kräfte nicht verprellen wollte, auf deren Unterstützung er spekulierte.

Das ist nichts Neues. In seiner Antrittsrede auf dem Grünen-Parteitag im Juni gab Nader den Grünen den Rat, an die konservativen Wähler zu appellieren, indem er sagte, sein Programm bevorzuge "traditionelle, nicht extreme Werte" und stehe im Gegensatz zu dem "Voyeurismus der Medien". Er machte gar kein Geheimnis daraus, dass er an die Anhänger von Senator John McCain und sogar an die Gefolgschaft von noch weit rechteren Figuren appellierte.

Er machte mit dem Kandidaten der Reformpartei, Patrick Buchanan, gemeinsame Sache und zog mit diesem ultrarechten Politiker zusammen für Protektionismus und gegen die Handelsabkommen mit Mexiko und China zu Felde, welche laut Nader "Amerikas Souveränität untergraben".

Schließlich hat Nader auch das republikanische Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Clinton unterstützt. Im Verlauf seines Kampfs um die Präsidentschaft sagte er, er sei gegen den Freispruch Clintons durch den Senat gewesen; er hätte für die Entfernung Clintons aus dem Amt gestimmt. Er griff dies auf einer New Yorker Pressekonferenz vor der Wahl nochmals auf und sagte: "Clinton hätte vom Senat verurteilt werden sollen. Er hat Schande über das Amt gebracht und unter Eid gelogen. So etwas darf nicht ohne Sanktion bleiben."

Seine Solidarisierung mit der Impeachment-Kampagne und sein Schweigen in der aktuellen politischen Krise bedeutet, dass Nader objektiv das Lager der rechten Reaktion stärkt und unterstützt.

Siehe auch:
Rechte Republikaner bereiten sich auf Gewalt vor
(25. November 2000)
Veranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität:
Die amerikanische Präsidentschaftswahl und ihre internationale Bedeutung

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