Die New York Times, die Washington Post und die Wahlkrise in Amerika

Die amerikanischen Tageszeitungen New York Times und Washington Post haben den Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei Al Gore aufgefordert, auf juristische Schritte wegen der Unregelmäßigkeiten bei der Wahl im Schlüsselstaat Florida zu verzichten. Das zeigt, wie geringen Wert beide Zeitungen auf die demokratischen Rechte der amerikanischen Bevölkerung legen.

Am vergangenen Freitag, einen Tag nachdem Gores Wahlkampfleiter William Daley angekündigt hatte, dass das Gore-Lager Klagen von Wählern aus Florida unterstützen und selbst juristische Schritte in Betracht ziehen werde, veröffentlichten die Times und die Post Kommentare, die den demokratischen Kandidaten angeprangerten. Beide Zeitungen stimmten in den anwachsenden Chor der Medienstimmen ein, die von Gore verlangen, dass er dem Republikaner George W. Bush den Wahlsieg überlassen soll.

Die unredlichen Versuche der Zeitungen, Gore im Streit um die 25 Wahlmännerstimmen Floridas den Schwarzen Peter zuzuschieben, wurden von den Ereignissen allerdings schnell überholt. Am folgenden Vormittag kündigte das Bush-Lager an, dass es beim Bundesgericht eine Klage einreichen werde, um die Wahlbehörden von einer erneuten, manuellen Auszählung der Stimmen abzuhalten. Diese Neuauszählung von Wahlzetteln per Hand soll in vier Wahlbezirke durchgeführt werden, in denen sich Wähler über Unregelmäßigkeiten beschwert hatten. Im Wahlbezirk Palm Beach hatte sie bereits begonnen. In Palm Beach hatte ein irreführender Wahlzettel dazu geführt, dass Tausende von Unterstützern Gores fälschlicherweise für den rechten Kandidaten der Reform Party Patrick Buchanan gestimmt hatten und etwa 19.000 andere mehr als eine Stimme abgaben, wodurch ihre Stimmzettel ungültig wurden.

Die Post kritisierte am Samstag auch das Bush-Lager dafür, dass es per Gerichtsbeschluss eine präzise Auszählung der Stimmen verhindern wolle, und wiederholte gleichzeitig ihre Ablehnung jeglicher juristischen Schritte durch Gore. Die Times ging noch nicht einmal so weit. Nachdem sie Gore dafür verurteilt hatte, dass er mit einer Anrufung der Gerichte drohte, war von ihr keine vergleichbare Kritik zu hören, als das Bush-Lager dies tatsächlich tat.

Noch bevor es sich an die Justiz wandte, hatte das Wahlkampfteam von Bush seine unverhohlene Verachtung gegenüber den Wählern in Florida demonstriert, deren Absichten durch irreführende Wahlzettel und andere Unregelmäßigkeiten durchkreuzt worden waren. Noch bevor die Times und die Post ihre Breitseiten gegen Gore veröffentlichten, war bereits deutlich geworden, dass die Strategie des Bush-Lagers darauf hinauslief, einer Untersuchung der Unregelmäßigkeiten in Florida zuvorzukommen und sich rücksichtslos den Weg ins Weiße Haus zu bahnen. Dabei stützte es sich zur Entwaffnung der öffentlichen Meinung auf die Medien und rechnete mit der bekannten Feigheit der Demokraten selbst. Mittlerweile hat eine erneute maschinelle Auszählung der Wahlzettel in Florida Bushs Vorsprung - unter sechs Millionen Wählern in diesem Bundesstaat - von den am Wahltag bekannt gegebenen 1.725 Stimmen auf nur noch 327 schrumpfen lassen.

Trotzdem begann die Times ihren Kommentar am 10. November mit Beschuldigungen gegenüber Gore und erklärte, dieser hätte "mit seiner Entscheidung, in Florida vor Gericht zu gehen, die Kampfatmosphäre angeheizt, die die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl umgibt." Die Zeitung beschuldigte Gores Wahlkampfhelfer, "die Sprache der Verfassungskrise zu benutzen", und verurteilte den demokratischen Kandidaten für seinen "übereilten Griff zum Rechtsstreit".

In ähnlicher Weise tadelte die Post Gores Wahlkampfleiter William Daley, weil er auf einer Pressekonferenz am 9. November gesagt hatte: "Wenn der Wille des Volkes den Ausschlag geben soll, dann muss Al Gore der Sieg in Florida zugestanden werden und er unser nächster Präsident sein." Die Zeitung nannte die Anspielung "vergiftend", ein Sieg Bushs bedeute, "das Weiße Haus sei gestohlen worden".

Die Post fuhr fort: "Herr Daley und andere Wahlkampfhelfer geben weiterhin zu verstehen, dass Gores knapper Vorsprung in der Gesamtzahl der Wählerstimmen ihm irgendwie einen höheren Status verleiht - wenn nicht ein besonderes Anrecht auf das Präsidentenamt, dann doch zumindest ein größeres Recht, das Wahlergebnis in Florida anzufechten. Aber das ist falsch, und das wissen sie. Es kommt allein auf die Stimmen der Wahlmänner an."

Es ist wahr, dass unter den archaischen Wahlvorschriften der amerikanischen Verfassung der Kandidat, der die Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen kann, Präsident wird - auch wenn er oder sie in der Gesamtzahl der Wählerstimmen unterliegt. Aber jeder, der ernsthaft die Behauptung vertritt, dass eine Wahl den Willen der Bevölkerung zum Ausdruck bringen soll, muss der Gesamtzahl der Wählerstimmen enormes Gewicht beimessen und darauf bestehen, dass alles unternommen wird, um sicherzustellen, dass dem Gewinner der Stimmenmehrheit im Lande nicht durch Betrug oder beträchtliche Unregelmäßigkeiten in einem beliebigen Bundesstaat das Präsidentenamt vorenthalten wird. In diesem Sinne erfordert eine grundsätzliche Treue gegenüber demokratischen Prinzipien eben gerade, dass dem Gewinner der Gesamtzahl der Stimmen ein "höherer Status" eingeräumt wird.

Weiterhin beruht in der derzeitigen Situation Bushs Mehrheit bei den Wahlmännerstimmen gänzlich auf den kompromittierten und fehlerhaften Ergebnissen der Wahl in Florida, wo Bushs Bruder Gouverneur ist und den Wahlprozess leitet. Bei der gegebenen Situation in Florida ist Daleys Behauptung, dass der Wille der Wählerschaft Floridas nur in einem Sieg Gores Ausdruck finden kann, einfach eine Feststellung der Tatsachen.

Die Argumente, die von der Times und der Post vorgebracht werden, unterstreichen ihre Verachtung für demokratische Prinzipien. Sie erklären jede Anrufung von Gerichten durch das Wahlkampfteam Gores für illegitim. Dieser Standpunkt ignoriert die Beschwerden von Bürgern in Florida, deren einziges Mittel gegen die Verweigerung ihres Wahlrechts der Gang vor Gericht ist. in umfassenderen Sinne missachtet er die Bedenken von Millionen Amerikanern, die ein vitales Interesse am Ausgang der Wahlen haben.

Wie soll sich das Gore-Lager gegen einen offensichtlich unfairen und undemokratischen Ausgang der Wahlen anders wehren als durch Anrufung der Gerichte - insbesondere unter Bedingungen, wo die andere Seite entschlossen ist, einer ernsthaften Untersuchung zuvorzukommen? Diese Frage wird weder von der Times noch von der Post beantwortet.

Wenn man nicht von Überlegungen der politischen Zweckmäßigkeit und bestimmten Interessen ausgeht, sondern von der Prämisse, dass Wahlen dem Willen der Bevölkerung Ausdruck verleihen sollen, dann ist Gore dazu verpflichtet, die Forderung nach einem Eingeständnis der Niederlage zurückzuweisen und statt dessen jeden rechtlichen Weg ausfindig zu machen, solange die Wahlergebnisse umstritten sind.

Times und Post argumentieren, dass die Wahl einfach von dem Auszählungsergebnis der Stimmzettel in Florida entschieden werden soll, in das die Überseestimmen mit einbezogen werden, die bis zum 17. November eingetroffen sind. Dem irreführenden Wahlzettel in Palm Beach soll keine weitere Beachtung geschenkt werden. Auch den Aussagen von Wählern aus anderen Teilen des Bundesstaates soll nicht nachgegangen werden, die der Polizei und dem Personal von Wahlbüros Einschüchterungsmaßnahmen vorwerfen. Und Berichte von verloren gegangenen Wahlurnen sollen ungeprüft bleiben (in einem Bundesstaat, der berüchtigt ist für Wahlmanipulation in der Vergangenheit).

Solch eine Lösung wäre eine offenkundige Verletzung demokratischer Rechte, und die Amtseinführung eines Präsidenten auf dieser Grundlage würde die Einsetzung einer Regierung über die Köpfe der Bevölkerung hinweg bedeuten. Außerdem sind die Ergebnisse der flüchtigen Neuauszählung bis heute weit davon entfernt, die Behauptungen des Bush-Lagers zu unterstützen, sondern unterhöhlen sie im Gegenteil. Der angenommen Vorsprung Bushs in Florida ist, ohne dass die angefochtenen Stimmen mit einbezogen wurden, seit dem Wahltag um mehr als 81 Prozent geschrumpft. Selbst wenn die Zahl von 327 durch Tausend oder mehr Stimmen aus Übersee verstärkt wird, bleibt die Differenz zwischen Bush und Gore ein minimaler Prozentteil der sechs Millionen in Florida abgegebenen Stimmen.

Einer im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wählerstimmen derart geringen Mehrheit kann kein Vertrauen geschenkt werden. Und in einer nationalen Wahl, in der 105 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben haben, darauf zu bestehen, dass die Bevölkerung unkritisch ein Ergebnis akzeptiert, das sich auf ein paar hundert Stimmen stützt, ist grotesk.

Angenommen, es gibt keinen klaren Sieger in dem Bundesstaat, ergeben sich aus dieser Situation zwei Möglichkeiten. Die erste ist problematisch, steht aber nicht im Gegensatz zur Verfassung: Florida würde von der Präsidentenwahl durch die Wahlmänner ausgeschlossen. Diese Lösung würde allerdings mit gutem Recht von der Bevölkerung Floridas nicht akzeptiert werden.

Daher besteht die einzig andere gangbare Lösung im nochmaligen Durchsehen der abgegebenen Stimmen im Bundesstaat. Dies ist klar gerechtfertigt aufgrund der Fülle an Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, insbesondere im Wahlbezirk Palm Beach. Hier gäbe es wieder zwei Handlungsmöglichkeiten. Eine neue Wahl könnte in dem Bundesstaat stattfinden. Alternativ könnte eine sorgfältige Überprüfung der 19.000 wegen doppelter Stimmabgabe für ungültig erklärten Wahlzettel durchgeführt werden, um statistisch zu ermitteln, welcher Anteil davon Gore zugeschrieben werden soll und welcher an Bush geht.

Wenn zum Beispiel eine solche Überprüfung zeigen würde, dass auf 18.000 Stimmzettel Gore und ein anderer Kandidaten und auf 1.000 Bush und ein anderer Kandidat markiert sind, dann könnten die Stimmen den konkurrierenden Lagern entsprechend zugeordnet werden.

Es liegt auf der Hand, dass in beiden Fällen das Ergebnis eine Mehrheit von mehreren tausend Stimmen für Gore in ganz Florida bedeuten würde; und dies ist genau der Grund, warum das Bush-Lager mit dem Segen von Times und Post seine ganzen Anstrengungen auf die Verhinderung einer solchen Entwicklung konzentriert. Wenn man sie ihrer juristischen und verfassungsmäßigen Anmaßungen entblößt, läuft die gesamte Position von Bushs Gefolgsleuten auf die Tatsache hinaus, dass sie der Nutznießer von massiven Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, wenn nicht offenem Betrug waren und dass sie jeden davon abhalten wollen, die Situation zu untersuchen.

Die Antwort der liberalen Presse auf die Sackgasse, in der die Wahl endete, ist bezeichnend für das Wesen der politischen Krise. Der Streit über die Nachfolge an der Spitze des Staates offenbart, dass die Institutionen der amerikanischen bürgerlichen Demokratie unter dem Druck immenser Spaltungen und Spannungen zusammenbrechen, die sich in den Vereinigten Staaten entwickelt haben.

Im Zentrum der Risse im politischen Gebilde steht das enorme Wachstum der sozialen Ungleichheit. Insbesondere über das letzte Jahrzehnt haben sich die obersten fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung in schwindelerregendem Ausmaß bereichert, während die gesellschaftliche Stellung der großen Bevölkerungsmehrheit stagnierte oder fiel. Trotz all dem Gerede der offiziellen Meinungsmacher über eine blühende und selbstzufriedene Nation, ist die Klassenteilung in den Vereinigten Staaten heute umfassender und potentiell explosiver als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Nachkriegsperiode.

Eine ganze Schicht des liberalen Establishments hat von der allgemeinen Umverteilung des nationalen Reichtums von der Arbeiterklasse an die oberen Ränge auf der ökonomischen Leiter profitiert. Gut gebettet und korrumpiert durch ein aufgeblähtes Aktienpaket und ein überreichliches Gehalt, hat sich diese Schicht zunehmend von der großen Masse der Bevölkerung entfernt und verachtet sie. Für diese Schicht ist politische Stabilität - d.h. die Verteidigung des Status quo - unvergleichlich wichtiger als die Verteidigung demokratischer Rechte.

Für diese Schicht sprechen die New York Times und die Washington Post. Der Unterschied zwischen ihnen und den Kräften, die Bush und die Republikaner vertreten, ist nicht sehr groß. Wenn es auf die Wahl zwischen der unverfrorenen sozialen Reaktion und der Gefahr eines Losbrechens der Arbeiterklasse von dem von der Wirtschaft kontrollierten Zwei-Parteien-System hinausläuft, entscheiden sie sich organisch und instinktiv für das erste.

Die gleiche Dynamik wirkt in der Demokratischen Partei selbst, einer kapitalistischen Partei, deren Verteidigung der arbeitenden Bevölkerung immer mehr Schein als Wirklichkeit war. Sowohl die Clinton-Regierung wie auch der Wahlkampf von Gore haben den rechten Kurs dieser Partei deutlich gemacht sowie ihre Entfremdung von der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und die Verengung ihrer Basis auf Teile des Finanzkapitals und höchst privilegierte Schichten der Mittelklasse.

Millionen Arbeiter, besonders aus den am stärksten unterdrückten Bereichen der Arbeiterklasse, haben Gore gewählt, um eine republikanische Regierung zu verhindern. Aber die Erfahrung wird eher früher als später zeigen, dass man sich auf diese schwammige Partei, die leeres Gerede über Reformen mit Unterwürfigkeit gegenüber der Geschäftswelt verbindet, nicht verlassen kann, um die demokratischen Rechte und sozialen Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung vor den Angriffen der extremen Rechten zu verteidigen. Die nächste Stufe der politischen Krise wird mit noch größerer Dringlichkeit auf den notwendigen Aufbau einer eigenen Partei durch und für die Arbeiterklasse verweisen, die ihre eigene demokratische und sozialistische Lösung für die amerikanische Misere vorbringen wird.

Siehe auch:
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Veranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität:
Die amerikanische Präsidentschaftswahl und ihre internationale Bedeutung

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