Die für den Mord an Jamie Bulger verurteilten Jugendlichen gewinnen Anonymitäts-Entscheid

Ein Richter des Obersten Gerichtshofes (High Court) erließ am Montag eine gerichtliche Verfügung auf Lebenszeit, die den Medien verbietet, nach Freilassung von Robert Thompson und Jon Venables Informationen über die beiden zu veröffentlichen. Die beiden waren im Alter von zehn Jahren vor Gericht gestellt und 1993 für die Ermordung des Kleinkindes Jamie Bulger verurteilt worden. In diesem Gerichtsentscheid zeigte die Präsidentin des Familiengerichts Dame Elizabeth Butler-Sloss Übereinstimmung mit den Anwälten von Thompson und Venables, die argumentierten, dass das Recht ihrer Mandanten auf Leben gegenüber dem Recht der Medien auf freie Meinungsäußerung den Vorrang haben müsse.

Butler-Sloss gründete das Urteil auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die im vergangenen Jahr in die britische Gesetzgebung aufgenommen wurde. Diese Konvention besagt, dass der Staat die Pflicht hat, "unter außergewöhnlichen Umständen" Einzelpersonen zu schützen, "bei denen, wenn Identität oder Aufenthaltsort öffentlich bekannt werden, ein hohes Körperverletzungs- oder Sterblichkeitsrisiko besteht".

Butler-Sloss führte an, sie habe sowohl die Beweisführung des britischen Innenministeriums, Presseberichte, gerichtliche Beobachtungen als auch anderes Informationsmaterial über den Fall Thompson/Venables konsultiert und sei auf dieser Grundlage zu der Überzeugung gelangt, dass "die beiden jungen Männer in der Öffentlichkeit einen außerordentlich schlechten Namen haben und darum ein ernstzunehmendes Risiko für Übergriffe aus der Öffentlichkeit oder von Verwandten und Freunden des ermordeten Kindes besteht". Weiter sagte sie: "Ich sehe es als gegeben an ..., dass bei einigen Vertretern der Öffentlichkeit der ernsthafte Wunsch nach Rache fortbestehen wird, wenn die beiden jungen Männer wieder in ihrem Wohnort leben". Sie erläuterte, man müsse diese Bedrohung in dem Maße Ernst nehmen, dass Venables und Thompson bei ihrer Freilassung aus der Haft eine völlig neue Identität erhalten sollten.

Vor dem Hintergrund dessen, wie der Fall in den vergangenen acht Jahren von den Medien gehandhabt wurde, meinte die Richterin, dass bei Teilen der Presse kein Verlass darauf sei, dass Thompsons und Venables‘ Forderung nach Anonymität respektiert würde. Man müsse vielmehr davon ausgehen, dass verfügbare Informationen über die beiden von diesen auch veröffentlicht würden. Butler-Sloss merkte an, dass es in der Vergangenheit Pressekampagnen gegeben hat, in denen mit der Veröffentlichung von Namen und Adresse gegen Pädophile vorgegangen wurde. Folge dieser Kampagnen waren Anschläge mit Brandbomben auf Häuser und Wohnungen Unschuldiger sowie tätliche Übergriffe. Butler-Sloss begründete das Urteil wie folgt: "Angesichts der außergewöhnlichen Umstände dieses Falles und unter Berufung auf das innerstaatliche Recht Englands und das Recht auf Leben wie es in Artikel 2 der Europäischen Konvention verankert ist, sehe ich mich angesichts der nahezu einzigartigen Umstände dieses Falles gezwungen, Schritte in die Wege zu leiten, um Leben und Gesundheit der Betroffenen zu schützen".

Um aufzuzeigen, dass die beiden Jugendlichen rehabilitiert sind, darf laut Butler-Sloss jedoch Informationsmaterial, das die Vergangenheit betrifft und nicht zu den vertraulichen Informationen gehört - wie die Namen der Sicherheitseinheiten, in denen Sie untergebracht und die Rehabilitierungseinrichtungen, in denen sie behandelt wurden - von den Medien nach einer Beruhigungsperiode von zwölf Monaten veröffentlicht werden.

Laut dem Urteil (gegen das Zeitungsverlage noch Einspruch erheben können) dürfen Medien aufgrund gerichtlicher Verfügungen keine Informationen über die neue Identität, Aussehen und Adressen von Venables und Thompson veröffentlichen, wenn sie aus der Sicherheitshaft entlassen sind. Die gerichtlichen Verfügungen gelten jedoch nur für England und Wales und verbieten nicht die Verbreitung von Informationen über ihre Identität über Internet oder in anderen Ländern. Vor dem Urteil hat es Berichte gegeben, dass Zeitungen sich für einen Preiskrieg rüsten, um für den Zeitpunkt, wenn die Berichterstattungsauflagen der Richterin aufgehoben sind, an solche Informationen zu gelangen. In einem Bericht hieß es, dass verschiedenen Zeitungen vor zwei Jahren Fotografien von Venables und Thompson, damals 16 Jahre alt, angeboten wurden, für die ein Preis von 50.000 Mark und höher verlangt wurde. Agenten und Mittelmänner sind auch dabei, Zeugenaussagen von Personen zu vermarkten, die in der Haft Kontakt mit den Teenagern hatten. Aufgrund einer gerichtlichen Verordnung zum Schutz der beiden während ihrer Inhaftierung konnten diese jedoch nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Im vergangenen Jahr, als die beiden Jugendlichen 18 Jahre alt wurden, hatten ihre Anwälte eine vorübergehende Fristverlängerung dieser gerichtlichen Verordnung beantragt und gewonnen.

Das Urteil von Richterin Butler-Sloss ist eine vernichtende Anklage gegen den reaktionären und antidemokratischen Charakter, der in den britischen Medien weit verbreitet ist. Zeitungen wie die Daily Mail und Rupert Murdochs Sun nahmen die tragischen Todesumstände von Jamie Bulger zum Anlass zu behaupten, dass die Kinder in Großbritannien "außer Kontrolle" wären und dass "härtere" Maßnahmen erforderlich seien, um für Recht und Ordnung zu garantieren. Die damalige konservative Regierung und Blairs Labour Party (darum bemüht, sich auch im rechten Lager Glaubwürdigkeit zu verschaffen) waren zum damaligen Zeitpunkt nur allzu bereit, auf diese Forderungen einzugehen.

In England und Wales beginnt die Strafmündigkeit im Alter von 10 Jahren, und darum konnten Thompson und Venables rechtmäßig wie Erwachsene vor Gericht gestellt werden. Damit wurde jedoch im britischen Rechtswesen und Sozialsystem ein abschreckender Präzedenzfall geschaffen. Früher wurden die sehr seltenen Fälle von Kindertötungen durch Kinder im Rahmen der weniger strikten Jugendgesetzgebung vor Gericht gebracht. Aber nach 1993 war die offizielle Politik in allen Bereichen durch Intoleranz, Vorurteile und gnadenlose Ignoranz der akuten sozialen Probleme, die solche Straftaten hervorbringen, kennzeichnet. In einem von den Medien hochgeputschten Klima gewalttätiger und hysterischer Vergeltungseuphorie mussten sich die beiden kleinen Jungs vor dem Obersten Gerichtshof wegen Mordes verantworten, obwohl sie noch zu jung waren, um das langwierige Prozessverfahren zu verstehen, das sie unweigerlich hinter Gitter bringen sollte. Da sie noch nicht groß genug waren, um im Gerichtssaal über die Anklagebank sehen zu können, musste ein eigener Podest angefertigt werden. Und auch das Recht auf Anonymität, das ihnen als minderjährigen Angeklagten zustand, wurde ihnen unter der vorgeschobenen Begründung des "öffentlichen Interesses" genommen - eine Entscheidung, die direkt für die Gefahren, denen die beiden nach ihrer Freilassung ausgesetzt sein werden, verantwortlich ist.

Der Fall Thompson/Venables zeigt in erster Linie, in welchem Maße die britische herrschende Klasse sich frontal gegen alle Elemente fortschrittlicher Gesetzgebung gewendet hat. Die Angriffe richteten sich nicht nur gegen frühere Reformen der Öffentlichen Fürsorge, des Gesundheitswesens und der allgemeinen Sozialpolitik, sondern auch gegen lange bestehende demokratische Rechtsnormen.

In den vergangenen acht Jahren wurden die Rechte von jugendlichen Angeklagten zunehmend eingeschränkt. In den britischen Gefängnissen sind heute mehr Kinder inhaftiert als in irgendeinem anderen Land Europas. Für das rechte Lager gehen diese Angriffe jedoch immer noch nicht weit genug. Sie wollen das Prinzip abschaffen, das im Anonymitätsgesuch für Thompson und Venables das zentrale Thema bildet: das Recht auf Rehabilitierung.

Vor Gericht argumentierte Kronanwalt Desmond Browne im Namen von drei nationalen Zeitungsverlagen, die gegen eine permanente gerichtlichen Anordnung Einspruch erhoben hatten - darunter die Zeitungen Sun, Mirror und Telegraph -, dass der Gerichtsbeschluss "anderen Kindesmördern" und Pädophilen dazu dienen könnte, "um unerwünschte Aufmerksamkeit der Presse und ungesetzliche Angriffe aus der Bevölkerung zu verhindern". Nach der Urteilsverkündung erläuterte der Herausgeber der Zeitung Sunday People, Neil Wallis, es sei eines der Hauptmerkmale der "freien Presse", auf derartige einstige Kriminelle ein Auge zu haben, damit sie nicht "ohne jegliche Kontrolle in der Welt herumlaufen".

Die Sun veröffentlichte am 9. Januar als Aufmacher einen Exklusivbericht, in dem es heißt, Thompson und Venables hätten in der Haft ein "Luxusleben" geführt, sie hätten Ausflüge ans Meer gemacht und Zuwendungen von etwa 33 Mark für Geburtstagsgeschenke erhalten. Der Artikel ereifert sich über die Tatsache, dass die beiden Jungen - die als aus "armen Familienverhältnissen" stammende frühere Schulschwänzer beschrieben werden - eine "gesunde, ausgewogene Ernährung" und therapeutische Beratung erhielten. Der Artikel zeigt sich insbesondere erzürnt über die Tatsache, dass beide an Bildungsmaßnahmen teilnehmen durften und dort einen derart hohen Leistungsstandard erreichten wie nur wenige ihrer Altersgruppe.

Die Sun erhebt keinerlei Einwände gegen die völlig unzulänglichen Bedingungen, die die Kindheit der Jungen prägten und für das Verbrechen keine unwichtige Rolle spielten. Auch wird mit keinem Wort erwähnt, dass Zehntausende Kinder unter ähnlichen Bedingungen leben. Vielmehr unterstützt die Sun gerade die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die für diese Umstände verantwortlich ist. Sie wendet sich dagegen, dass Thompson und Venables von der Haft "profitieren" konnten und hätte es vorgezogen, dass sie in der Haft mit noch schlimmeren Bedingungen konfrontiert werden.

Dieser Argumentation zufolge ist es noch nicht schlimm genug, dass Kinder aufgrund ihrer Kindheitserlebnisse und dem Umfeld, in dem sie aufwachsen, so gestört sind, dass sie andere Kinder angreifen oder sogar töten können. Auch ist es nicht genug, dass sie bereits im Alter von 10 Jahren einem Strafverhör vor Gericht und durch die Medien ausgesetzt sind und dann über acht Jahre lang unter kargen Bedingungen hinter Schloss und Riegel gehalten werden. Auch reicht es nicht, dass die beiden zu einer offenen Zielscheibe für öffentlichen Hass und Empörung gemacht wurden, so dass sie ihre wahre Identität für den Rest ihres Lebens verbergen und unter ständiger polizeilicher Überwachung werden leben müssen.

Die Sun und andere fordern eine "wirkliche Bestrafung". Aber ihr Appell für "Pressefreiheit" ist nur die verschlüsselte Forderung nach einer Lizenz, mit hysterischer und sensationeller Berichterstattung die Grundlagen zu schaffen, dass die strenge Bestrafung, auf die sie abzielen, durch andere mit Hilfe ungesetzlicher Maßnahmen durchgesetzt wird.

Vor allem Berichte, dass Thompson und Venables inzwischen zu gebildeten jungen Männer herangewachsen sind und starke Reue für Jamies Tod empfinden, haben die Zeitungsverlage erzürnt. Angesichts der Tatsache, dass die beiden sich bisher nie unbeobachtet fühlen konnten, ist dies ein wirklich außergewöhnlicher Fortschritt, und es ist daher wahrscheinlich, dass der Bewährungshilfeausschuss irgendwann in diesem Jahr entscheidet, dass die beiden keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen und freigelassen werden sollten. Die positive Entwicklung der beiden Jugendlichen ist nicht nur Beweis für die Fähigkeit zur Besserung, die in jedem Einzelnen und insbesondere in Kindern steckt, sondern auch ein Ergebnis der Zuwendung und des Engagements unzähliger Fachleute. Genau aus diesem Grunde richten sich die Hasstiraden von Zeitungen wie der Sun gegen das Rehabilitationssystem, von dem die beiden trotz der offiziellen Politik profitieren durften. Zeitungen wie die Sun befürchten, dass der Erfolg dieses Systems die rückständigen und reaktionären Ursachen ans Tageslicht bringt, die ihnen als Plattform dienten, die Strafrechtpolitik um über 200 Jahre zurückzuwerfen.

Der Prozess gegen Thompson und Venables ist ein Hohn auf die Justiz und darf in einem zivilisierten Land, das diesen Namen wirklich verdient, nicht vorkommen. Das Urteil vom vergangenen Montag kann die schlimmen Fehler, die in der Vergangenheit an den beiden Jungen begangen wurden und ihr ganzes Leben kennzeichnen werden, jedoch in keiner Weise korrigieren. Nach dem rücksichtslosen Angriff auf alle demokratischen Normen sah sich der Staat schließlich zu einigen Teilbemühungen gezwungen, um das verursachte Durcheinander wieder zu ordnen. Dennoch sollten alle, die für gesellschaftlichen Fortschritt eintreten, den Anonymitäts-Entscheid als Schlag gegen die Reaktion begrüßen.

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