Bush spricht vor dem US-Kongress:

Ein illegitimer Präsident, ein zweifelhafter Haushaltsüberschuss und eine wachsende soziale Krise

Die am Dienstag Abend landesweit im Fernsehen übertragene Rede von George W. Bush vor dem Kongress ging weit über das übliche Maß an politischer Schaumschlägerei hinaus. Sowohl die politischen Ereignisse, die den Einzug Bushs ins Weiße Haus begleitet hatten, wie auch die Politik, die der republikanische Präsident vorschlug, trugen dazu bei, dem Ereignis einen Anschein von Irrealität, um nicht zu sagen offenem Betrug zu verleihen.

Der ganze traditionelle Pomp und die Begleitumstände einer Präsidentenrede -von der gemeinsamen Sitzung des Kongresses, der Anwesenheit des Kabinetts, des diplomatischen Korps, von Militärführern und zahlreicher weiterer Würdenträger bis hin zur Live-Übertragung auf allen nationalen Fernsehkanälen - alles das konnte die Tatsache nicht verschleiern, dass Bush das Podium als politischer Scharlatan betrat.

Bush verdankt seine Präsidentschaft nicht dem Wählerwillen - der Demokrat Al Gore hatte 600.000 Stimmen mehr erhalten - sondern der anti-demokratischen Intervention einer 5:4-Mehrheit des Obersten Gerichtshofs der USA. Seit mehr als hundert Jahren hat kein Präsident mit einer geringeren Unterstützung im Volk für seine Politik sein Amt angetreten.

Meinungsumfragen zeigten am Vorabend seiner Rede, dass Bush am Ende des ersten Monats seiner Amtszeit unpopulärer als irgendein anderer Präsident in den letzten fünfzig Jahren ist. Er erzielte geringere Werte als Clinton vor der letzten Welle von Skandalgeschichten der Medien um seine jüngsten Begnadigungen.

Obwohl Bush und die Demokraten sich bemühten, höflich zu sein, waren die Spannungen in Folge der Wahlkrise von Florida in der gemeinsamen Sitzung mit Händen greifbar. Als der Saaldiener die Ankunft der Richter des Obersten Gerichtshofs ausrief, waren aus der demokratischen Fraktion hörbar Buhrufe zu vernehmen. Schließlich betrat nur einer der Richter den Saal: Stephen Breyer, der für die Fortsetzung der Stimmenauszählung in Florida gestimmt hatte. Als er den Gang entlang kam, weigerte sich einer der führenden Republikaner, der Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus Richard Armey, ihm die Hand zu schütteln.

Die Abwesenheit der übrigen acht Richter, darunter alle fünf, die bei dem Urteil in der Sache Bush gegen Gore zu Gunsten des republikanischen Kandidaten gestimmt hatten, ist von politischer Bedeutung. Wahrscheinlich hatte die rechte Mehrheit befürchtet, dass ihre Anwesenheit bei der Rede die Aufmerksamkeit auf ihre beispiellose Rolle als Königsmacher beim Rennen um die Präsidentschaft gelenkt hätte.

Der Überschuss und seine Verwendung

Bush verwandte den größten Teil seiner Rede darauf, zu begründen, warum die erwarteten Haushaltsüberschüsse in den nächsten zehn Jahren so massiv sein werden, dass sein Plan, die Steuern um 1,6 Billionen Dollar zu senken - was zur Hälfte dem reichsten einen Prozent der Amerikaner zu Gute kommen würde -, in Wirklichkeit recht bescheiden und auf jeden Fall zu finanzieren sei.

Dieser Plan stützt sich auf ein bewusstes Ignorieren der ökonomischen Realität. Er unterstellt, dass der amerikanische Kapitalismus niemals wieder eine erwähnenswerte Rezession erleiden werde; dass der beispiellose Boom an den Finanzmärkten ganz unabhängig von den globalen Bedingungen dauerhaft anhalten werde; dass die Widersprüche des Profitsystems, die sich in den Schwankungen des Konjunkturzyklus und in größeren und länger andauernden Finanzkrisen äußern, keine Rolle mehr spielten.

Und dies unter Bedingungen, da die amerikanische Wirtschaft sich schon erkennbar auf eine Rezession zu bewegt. Bush nahm auf diesen Trend Bezug, als er meinte, dass sein Steuersenkungsplan dabei helfen werde, die Wirtschaft zu stimulieren und eine tiefe Krise zu verhindern. Der Präsident griff die offensichtliche andere Seite der Medaille jedoch nicht auf: Jede Verlangsamung der amerikanischen Wirtschaft, besonders der boomenden Finanzmärkte, wird die Einnahmen der Regierung verringern, die Überschüsse stark vermindern und die Haushaltspläne, auf denen die Steuersenkungspläne der Regierung beruhen, zu Makulatur werden lassen.

Selbst ein rechter Verteidiger von Bushs Politik, der pensionierte Kongressabgeordnete Bill Archer aus Texas, der früher Vorsitzender des parlamentarischen Haushaltsausschusses war, bezeichnete feste Voraussagen über den Zustand der US Wirtschaft über einen Zeitraum von zehn Jahren als Kaffeesatzleserei. Aber auf genau solche Finanzmärchen gründen sich Bushs Haushaltspläne.

Während die Überschüsse weitgehend hypothetisch sind, gilt das aber keineswegs für die Zwecke, für die Bush sie verwenden will. Er will sofort mit der größten Besitzumverteilung aller Zeiten von den amerikanischen Arbeitern hin zu den Reichen beginnen. Dazu will er die Erbschaftssteuer abschaffen, was in den zehn Jahren ihres langsamen Auslaufens 200 Mrd. Dollar plus weitere 50 Mrd. Dollar im Jahr danach kosten wird. Außerdem plant er eine generelle Senkung der Einkommensteuersätze, wobei die Sätze für die höchsten Einkommen am stärksten gekürzt werden, sowie andere Maßnahmen, die die Reichen überproportional begünstigen werden.

Es ist bemerkenswert, dass ein amerikanischer Präsident eine Rede halten kann, in der er eine Litanei dringender sozialer Probleme aufzählt - Armut, miserable Schulen, Rentner, die ihre Medikamente nicht bezahlen können, eine Energiekrise -, um dann als größte einzelne Ausgabe den reichsten Amerikanern fast 800 Mrd. Dollar zuzuschustern.

Es ist noch bemerkenswerter, dass diese Rede im politischen Establishment so gut wie keine ernsthafte Kritik hervorrief. Bush schlägt vor, den Überschuss den Reichen auszuhändigen. Seine rückgratlosen demokratischen Gegner und einige republikanische Politiker wollen lieber die Staatsschulden abtragen. Aber nicht ein einziger demokratischer oder republikanischer Politiker tritt dafür ein, die Haushaltsüberschüsse zur Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung einzusetzen.

Eine Null im Weißen Haus

Bushs Haushaltsrede war mehr als der Ausdruck einer rechten politischen Orientierung im Dienste des krassen Eigeninteresses der Reichen. Sie demonstrierte die Desorientierung einer Regierung und einer herrschenden Elite, die auf die unvermeidlich bevorstehende wirtschaftliche, soziale und politische Krise schlecht vorbereitet ist.

Ein wichtiger Faktor in dieser Krise ist das intellektuelle und politische Vakuum, das im Weißen Haus residiert - auch wenn das durch die schmeichlerische Berichterstattung der Presse während Bushs erstem Monat im Amt verschleiert wurde. Wie schon seine zwei Pressekonferenzen in Mexiko und letzte Woche in Washington ließ die Rede vor dem Kongress einen peinlichen Blick auf Bushs Innenleben zu.

Seine Sprache war extrem banal. Seine Redenschreiber bemühen sich weniger, das Niveau seiner Reden dem amerikanischen Volk anzupassen, als den intellektuellen Fähigkeiten und dem Wissen des Redners selbst. Alle Ausdrücke, die zu einer Wiederholung des verbalen Stolperns wie im Wahlkampf hätten führen können, wurden vermieden. Daher die kurzen, einfachen, plakativen Sätze, die Zitate von Yogi Berra und das Echo von Kindersprüchen, wie zum Beispiel "eine Steuersenkung, nicht zu groß, nicht zu klein, sondern genau richtig."

Nach Bushs Pressekonferenzen schrieb Michael Allen von der Washington Post eher gnädig: "Während seines ersten Monats im Amt waren die Bemerkungen des Präsidenten zu wichtigen Fragen konsistent, aber in jedem Fall kurz, was politische Analysten und Kongressführer zu der Überlegung veranlasste, ob dieses Muster wohl eher auf einen außergewöhnlich disziplinierten Politiker hindeute, oder auf einen, der nur eine oberflächliche Kenntnis der in Frage stehenden Themen hat."

So bizarr das erscheinen mag, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika scheint jemand zu sein, der nicht sonderlich an Politik interessiert ist. Eine kaum beachtete Tatsache ist, dass die Rede vom Dienstag die erste solche Veranstaltung war, an der George W. Bush jemals teilnahm, obwohl sein Vater drei Reden zur Lage der Nation vor gemeinsamen Sitzungen des Kongresses gehalten und als Vizepräsident acht weiteren solchen Reden von Ronald Reagan beigewohnt hatte.

Während der vierjährigen Präsidentschaft seines Vaters zeigte der jüngere Bush kein wirkliches Interesse an Politik. Er zog die Gesellschaft von Millionären und von Baseballclubbesitzern vor. Erst 1994, im Alter von 46 Jahren, entschloss er sich, eine ernsthafte politische Verantwortung zu übernehmen, als er - gegen den Rat seiner Eltern und der republikanischen Parteiprofis - für den Posten des Gouverneurs von Texas kandidierte.

George W. Bush ist nicht nur als der unerfahrenste Präsident der letzten hundert Jahre ins Weiße Haus eingezogen, sondern auch als der am wenigsten weit gereiste. Die amerikanische herrschende Elite sieht die Vereinigten Staaten gerne als die letzte Supermacht der Welt, aber der neue Mann an der Spitze weiß von dieser Welt sehr wenig bis gar nichts.

In Europa ist Bush bisher in seinem Leben nur ein einziges Mal gewesen, trotz aller Möglichkeiten, die ihm Reichtum und die politische Position seines Vaters boten. Sein einziger Besuch bestand in einem kurzen Zwischenstopp in Italien, um seine Tochter zu besuchen, die dort studierte. Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland oder Japan hat er nie besucht. Seine einzige längere Auslandsreise führte ihn nach China, als sein Vater dort amerikanischer Botschafter war. Auch Mexiko hat er gesehen, hauptsächlich bei kurzen Stippvisiten über den Rio Grande von seinem Heimatstaat Texas aus. In Südamerika, Afrika, Indien oder Australien ist er nie gewesen.

Der neue Präsident mag nicht nur nicht reisen, er mag auch nicht lesen - angeblich zieht er inhaltliche Zusammenfassungen von Dokumenten der Lektüre des ganzen Texts vor und geht Büchern aus dem Weg, es sei denn, sie befassen sich mit Sport. (Während der Wahlkrise in Florida war er in eine Biographie des Baseballspielers Joe DiMaggio vertieft.) Seine Wochenenderholungen auf seiner Ranch, seine verkürzten Bürozeiten und seine häufigen Nickerchen - trotz scheinbar hervorragender Gesundheit - lassen ahnen, dass George W. Bush nicht sehr gerne hart arbeitet.

Diese Tatsachen werden von der Presse weitgehend verschwiegen. Zum Beispiel nannte die New York Times seine Haushaltsrede in einem Kommentar eine "ausgewogene, konzentrierte und freundlich aufgenommene Ansprache ... mit einigen rhetorischen Glanzlichtern, die beispielhaft Mr. Bushs Liebenswertigkeit und Selbstbewusstsein zeigten." Der Nachrichtenmoderator von CBS, Dan Rather, sagte, die Rede habe gezeigt, wie sehr Bush in der kurzen Zeit seit seiner Amtsübernahme "an politischer Statur gewonnen" habe.

Bush und Cheney

In den ersten Wochen der Bush-Regierung gab es Versuche, dem nicht gerade berauschenden Arbeitsdrang des Präsidenten eine großzügige Interpretation zu geben. Demnach könnten Bush und Cheney quasi ein arbeitsteiliges Team bilden, vergleichbar mit einem Vorstandsvorsitzenden und seinem Bürochef: Der eine legt die Grundlinien der Politik fest, während der andere ihre tagtägliche Umsetzung überwacht. Eine andere Interpretation war, dass Bush die repräsentativen Funktionen eines Staatsoberhaupts wahrnehmen könnte, während Cheney de facto als Premierminister fungiert.

Solche Überlegungen ignorieren eine grundlegende Tatsache der amerikanischen Verfassungsstruktur: Es gibt keine Trennung zwischen dem Staatsoberhaupt und dem Regierungschef, wie das in anderen kapitalistischen Demokratien der Fall ist. Während in vielen Ländern ein konstitutioneller Monarch oder ein Präsident die repräsentativen Funktionen des Staates ausfüllt, während ein Ministerpräsident die Politik bestimmt und die Regierungsgeschäfte überwacht, sind diese beiden Funktionen in den Vereinigten Staaten in einem Amt vereint.

Der amerikanische Präsident ist letztlich der herrschenden Wirtschafts- und Finanzelite verantwortlich, aber dabei ist sein Amt kein reines Aushängeschild. Das Präsidentenamt steht im Zentrum einer Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Interessen. Der Resident des Weißen Hauses übt in einer riesigen, hochkomplexen und sich schnell verändernden Gesellschaft das höchste Amt aus. Die Ereignisse der letzten Zeit - das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton oder die Wahlkrise von 2000 - haben eine enorme Verschärfung der Spannungen sichtbar gemacht, sowohl zwischen den großen gesellschaftlichen Klassen, wie auch innerhalb der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Schichten. Es gibt im politischen Establishment viele Anzeichen für tiefe Spaltungen und die Zunahme zentrifugaler Kräfte. Besonders unter solchen Bedingungen sind die politischen, intellektuellen und emotionalen Anforderungen an den Präsidenten beträchtlich.

Die Spaltungen in der amerikanischen herrschenden Elite spiegeln sich ebenfalls in der Bush-Administration wider. Ausländische Kommentatoren haben ihre Besorgnis über den offensichtlichen Mangel an Übereinstimmung in der Bush-Regierung geäußert, was vor allem in der Außenpolitik zum Ausdruck kommt. Es ist zum Beispiel bekannt, dass es in Bushs außenpolitischem Team Meinungsverschiedenheiten in der Irakpolitik gibt; Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld stehen dem Vorschlag von Außenminister Colin Powell, die Sanktionen gegen den Irak zurückzufahren, milde gesagt skeptisch gegenüber.

Aber mit der Einsetzung von Bush - und zwar in einer Weise, die seine Legitimität von Anfang an in Frage gestellt hat - hat die herrschende Elite einen Mann auf den Schild gehoben, der für die Anforderungen dieses Amtes vollkommen unqualifiziert und unvorbereitet ist. Im Zentrum der amerikanischen Regierung existiert ein klaffendes Führungsvakuum, ein Vakuum, in dem sich - wie im Fall des Steuersenkungsplans - sowohl die Desorientierung wie auch die Rücksichtslosigkeit von Teilen der herrschenden Elite durchsetzen. Sie sind von ihren eigenen kurzfristigen Interessen beherrscht und kümmern sich in erster Linie um den Zustand ihrer Aktienportfolios. Alle Fragen verblassen vor der alles beherrschenden Forderung, die schon unglaublich Reichen noch weiter zu bereichern.

Seit den letzten Tagen der Reagan-Regierung war kein amerikanischer Präsident mehr so offensichtlich deplaziert und politisch desinteressiert. Damals war das Ergebnis die Iran-Contra-Affäre und die Entstehung einer geheimen "Regierung in der Regierung" - ein Netzwerk von Militär- und Geheimdienstpersonal, das unter stillschweigendem Einverständnis des Präsidenten seine eigene Außenpolitik verfolgte.

Die amerikanische herrschende Klasse ist weder politisch noch personell auf die Schocks vorbereitet, die ihr unvermeidlich bevorstehen. Sie hat im Ausland mit einer ganzen Anzahl Krisenregionen zu tun, von Russland bis zum Nahen Osten, von Indonesien bis Kolumbien. Im Innern und international steht ihr eine wachsende Wirtschafts- und Finanzkrise ins Haus. Und vor allem droht ihr der machtvolle, wenn auch noch unartikulierte Widerstand der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung im eigenen Land.

Siehe auch:
Berichte und Analysen zu den US-Präsidentschaftswahlen 2000
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