Der Streit um die Mitbestimmung

Was von der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zu halten ist

Wochenlang führte die geplante Reform der deutschen Mitbestimmung zu hitzigen Auseinandersetzungen. Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) griff die von Arbeitsminister Walter Riester (SPD) ausgearbeiteten Änderungen scharf an. Müller, der bis zu seinem Eintritt in die rot-grüne Regierung selbst Spitzenmanager eines großen Energiekonzerns war, kritisierte den Gesetzesentwurf an 26 Einzelpunkten und warf dem Arbeitsminister zu starke Orientierung an den Gewerkschaftsinteressen vor.

Riester, vor seinem Ministeramt stellvertretender Vorsitzender, der ehemals mächtigen Metallergewerkschaft, hielt dagegen und betonte, dass die Mitbestimmung und das Betriebsrätesystem eine wichtige Rolle dabei spiele, die Betriebe in Ost- und Westdeutschland auf die veränderten Bedingungen des internationalen Wettbewerbs auszurichten.

Mitte Februar schlichtete Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Streit und setzte einen Kompromiss durch, der anschließend im Kabinett als Gesetzentwurf beschlossen wurde.

Die wichtigsten Punkte lauten:

Die Wahl von Betriebsräten soll erleichtert und die Zahl der freigestellten Betriebsräte erhöht werden. In Betrieben ab der Größenordnung von 100 Mitarbeitern können schon ab der nächsten Betriebsratswahl erheblich mehr Betriebsräte gewählt werden. Auch die Zahl der sogenannten freigestellten Betriebsräte kann sich merklich erhöhen. So wird es künftig schon ab 200 Beschäftigten - statt wie bisher ab 300 - einen von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellten Betriebsrat geben können.

Außerdem wurde das recht komplizierte Verfahren zur Gründung eines Betriebsrats in Kleinbetrieben mit 5 bis 50 Beschäftigten, vereinfacht. Ob es dadurch in den Betrieben der New Economy zu mehr Betriebsräten kommen wird, bleibt allerdings fraglich. Der bisherige Einfluss der Gewerkschaften in diesen Bereichen tendiert gegen null. Leih- und Telearbeiter, sowie freie Mitarbeiter sollen wahlberechtigt sein. Bei Betriebsabspaltungen sollen in Zukunft die Betriebsräte ihre Zuständigkeiten nicht verlieren, sondern sich neu aufstellen können.

Die organisatorische Ausdehnung des Betriebrätesystems steht in umgekehrtem Verhältnis zur Verbesserung von betrieblichen Mitbestimmungsrechten, die in den vergangenen Jahren ständig ausgehöhlt wurden. Zwar ist im Gesetzentwurf vorgesehen, dass Betriebsräte und Arbeitgeber Vereinbarungen zu Fragen des Umweltschutzes sowie bei der Bekämpfung rechtsextremer Tendenzen abschließen können, und auch bei Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sollen die Betriebsräte mehr Mitsprache erhalten, doch das verbessert die schwierigen Arbeitsbedingungen in den Betrieben nicht im geringsten.

Nur an einem Punkt, beim Paragraphen 91 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG), sah Riesters Gesetzesentwurf eine geringfügige Ausdehnung der Mitbestimmungsrechte vor und zwar bei: Änderungen der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs und der Arbeitsumgebung. Doch dieser Vorschlag wurde aufgrund der Kritik des Wirtschaftsministers fallen gelassen.

Trotzdem ist die Kritik aus dem Unternehmerlager nicht verstummt. Ganz im Gegenteil. Während der Gesetzesentwurf in den Parlamentsausschüssen diskutiert wird, wettern ausnahmslos alle Industrie- und Wirtschaftsverbände vehement gegen Riesters Reformvorlage. Sie betrachten das BetrVG, das zuletzt 1972 verändert wurde, zwar auch als reformbedürftig, verlangen aber noch mehr Flexibilität und Öffnung zugunsten der Unternehmerinteressen. Vor allem der Mittelstand und das Handwerk laufen regelrecht Sturm. So sprach der Präsident des Deutschen Handwerks, Dieter Philipp von "einem unannehmbaren Eingriff in die Entscheidungsfreiheit des Unternehmens".

Im Kern richtet sich ihre Opposition gegen die steigenden Kosten, die eine solche Reform für die Klein- und Mittelstandsunternehmer mit sich brächte. Einschlägige Wirtschaftsverbände führen dabei völlig übertriebene Zahlen von 2,7 Milliarden Mark an.

Ein Kommentar der Süddeutschen Zeitung bewertete die Proteste der Wirtschaft recht nüchtern und verwies auf die entscheidende Rolle der Gewerkschaften und ihrer Betriebsräte, wenn es darum geht, die Arbeiter in den Betrieben den Kapitalinteressen unterzuordnen. Es heißt da: "Keineswegs in Gefahr ist hingegen die deutsche Wirtschaft. Deren Proteste gegen die rot-grüne Reform sind maßlos übertrieben. Sicher, manches wird unnötig bürokratisch. Doch die behauptete Mittelstands-Feindlichkeit gehört ebenso in die Ablage ‚Panikmache‘ wie angebliche Milliardenlasten. Gerne unterschlagen die Firmenchefs, welch materiellen Nutzen ihnen die allermeisten Betriebsräte erbringen. Schließlich haben diese erheblichen Anteil daran, dass sich der radikale Strukturwandel hier zu Lande sozial friedlich vollzieht. Und davon profitieren die Eigentümer der Betriebe wirklich nicht zuletzt."

Kanzler Schröder nutzt die Unternehmerschelte, um sich wenige Wochen vor zwei wichtigen Landtagswahlen als Arbeiterfreund in Pose zu werfen, was die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung zu dem Kommentar veranlasste: "Das hat bisher kein Kanzler geschafft. Schröder, der als ‚Modernisierer' angetreten war, stellt auf geradezu grotesk anmutende Weise die Mechanismen des korporatistisch verdrahteten ‚Rheinischen Modells' in den Dienst seines eigenen Machterhalts."

Auch in internationalen Presseberichten wurde die Frage aufgeworfen, wie es zu verstehen sei, dass überall auf der Welt unter dem Diktat der internationalen Finanzmärkte die alten sozialpartnerschaflichen Beziehungen abgebaut und im Gegensatz dazu die deutsche Mitbestimmung nicht nur erhalten, sondern das Betriebsrätesystem sogar ausgebaut werden.

Die Antwort ist einfach. Aufgrund langer geschichtlicher Traditionen spielt hierzulande die reformistische Bürokratie der Gewerkschaften eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Mit anderen Worten, marktliberale Reformen werden in enger Zusammenarbeit mit den Betriebsräten und Gewerkschaften vollzogen. Und zwar in folgender Art und Weise:

Die verschärften weltweiten Wettbewerbsbedingungen üben auf das immer noch relativ hohe deutsche Lohnniveau starken Druck aus. Das hat eine deutliche Fragmentierung des Arbeitsmarktes mit sehr unterschiedlicher Lohnstruktur zur Folge. So liegt zum Beispiel die offizielle Zahl der Arbeitslosen in Bayern bei nur fünf Prozent, im benachbarten Sachsen dagegen mehr als dreimal so hoch und in Sachsen-Anhalt sind mehr als zwanzig Prozent Arbeitslose registriert.

Um das Abwandern der Fachkräfte aus dem Osten zu bremsen, soll das Lohngefüge im Westen aufgebrochen und gesenkt werden. Auch im Westen gibt es strukturschwache Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit, aber noch immer gelten verbindliche Branchen-Tarifverträge. Das soll sich ändern. In Zukunft sollen die Gewerkschaften nur noch Rahmentarifverträge vereinbaren, deren konkrete Ausgestaltung durch die Betriebsräte erfolgt. Durch eine derartige betriebsnahe Tarifpolitik kann eine Region gegen die andere, ein Betrieb gegen den anderen und sogar ein Werk oder eine Abteilung im selben Unternehmen gegeneinander ausgespielt werden.

Gegen den Einwand einiger Wirtschaftsverbände, die eine vollständige Abschaffung der gewerkschaftlichen Tarifverträge fordern und alle Arbeitsbedingungen, einschließlich der Löhne, ausschließlich mit den Betriebsräten festlegen wollen, betonten die Gewerkschaften, dass dann die Friedenspflicht der Betriebsräte nicht aufrechterhalten werden könne. Die Betriebsräte sind nämlich durch das Betriebsverfassungsgesetz zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung und zur Beachtung des Betriebswohls verpflichtet und dürfen nicht zu Streiks oder Arbeitskämpfen aufrufen.

In Zukunft werden die Gewerkschaften, die zwar nach wie vor Streikrecht haben, nur noch über allgemeine Rahmentarife entscheiden, die für die konkreten Bedingungen der Arbeiter in den einzelnen Betrieben nahezu bedeutungslos sind, während die tatsächlichen Löhne und Sozialbedingungen von Betriebsräten in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Geschäftsleitung festgelegt werden.

Hier findet auch ein versteckter, aber effektiver Angriff auf das Streikrecht statt. Denn Arbeitskämpfe für allgemeine Rahmenbedingungen, die von jedem Betriebsrat unterlaufen werden können, sind zwecklos, und die Betriebsräte sind an die betriebliche Friedenspflicht gebunden. So wird die Zwangsjacke, mit der Arbeiter gezwungen werden, drastische Lohnsenkungen und den Abbau sozialer Leistungen und Arbeitsschutzmaßnahmen hinzunehmen, ein ganzes Stück enger gezogen.

Ausgearbeitet wurde dieser Gesetzesentwurf von einer "Kommission Mitbestimmung", die bereits im Februar 1998 Empfehlungen herausgab, in denen sie betonte, "dass die Mitbestimmung durch gemeinsame Gestaltung zu einem deutschen Standortvorteil ausgebaut werden kann". In These 19 dieser Empfehlungen heißt es: Die Mitbestimmung des Betriebsrats soll "zur kontrollierten Dezentralisierung des Tarifvertragssystems mit dem Ziel genutzt werden, den Flächentarifvertrag angesichts eines wachsenden Bedarfs an betrieblich differenzierten Regelungen flexibler zu gestalten und dadurch zu entlasten".

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, weshalb sich diese Kommission derart vehement für die Wahl von Betriebsräten in kleinen und mittleren Betrieben einsetzte. In These 14 ist zu lesen: "In dem Maße, wie ein flexibler Flächentarifvertrag Regulierungsfunktionen auf die Betriebsebene überträgt, gefährdet die geringe Verbreitung von Betriebsräten in kleinen und mittleren Unternehmen auch die Reform des Flächentarifvertrages."

Neben der Bertelsmann-Stiftung war die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung maßgeblicher Initiator und Träger dieser "Kommission Mitbestimmung". Ihre Empfehlungen sind nicht nur von DGB-Chef Dieter Schulte und dem als marktliberalen bekannten Hubertus Schmoldt, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) unterschrieben, sondern auch von dem früheren Vorsitzenden der ÖTV, Herbert Mai und der HBV-Vorsitzenden Margret Mönig-Raane.

In den Medienberichten hat sich niemand die Mühe gemacht, die wirklichen Veränderungen der Mitbestimmungs-Novelle zu untersuchen. Stattdessen wurde die Mähr verbreitet, der Kanzler habe mal wieder sein Herz für die Arbeiter entdeckt. Es wird aber nicht lange dauern, bis die wirkliche Bedeutung der neuen Mitbestimmung für viele Arbeiter sichtbar wird.

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