Warum hat es die Regierung so eilig McVeigh hinzurichten?

Als im Fall des Bombenlegers von Oklahoma City, Timothy McVeigh, bekannt wurde, dass das FBI der Verteidigung die Einsicht in mehr als 3100 Aktenblätter vorenthalten hatte, sah sich die US-Regierung zu einem Aufschub der Hinrichtung gezwungen. Der Generalstaatsanwalt, John Ashcroft, gab am 11. Mai die Verschiebung von McVeighs tödlicher Injektion, die ursprünglich am 16 Mai in Terre Haute, Indiana, stattfinden sollte, auf den 11. Juni bekannt.

Nach dieser Erklärung haben Ashcroft, Präsident Bush, FBI-Direktor Louis Freeh und andere Regierungssprecher wiederholt bekräftigt, in den Dokumenten sei nichts enthalten, das McVeighs juristische Lage beeinflussen könne. Ashcroft und Bush beteuerten, dass es keine weiteren Verzögerungen bei seiner Hinrichtung mehr geben werde. Sie bleiben bei dieser Auffassung, obwohl nach Ashcrofts erstem Eingeständnis über zurückgehaltenes Material noch einmal neue Dokumente aufgetaucht sind.

Noch am Donnerstag, den 24. Mai, musste Ashcroft einräumen, dass eine erneute Suche in den Büros des FBI weitere 898 Aktenblätter zu Tage gefördert habe. Aber der Generalstaatsanwalt bekräftigte, dass die Regierung gegen jeden Versuch der Verteidiger McVeighs kämpfen werde, eine weitere Verschiebung der Hinrichtung zu erwirken.

Die Regierung behauptet, dass die Dokumente auf Grund einer Panne beim FBI der Verteidigung McVeighs vorenthalten worden seien. Es habe keinerlei Absicht vorgelegen, die Verteidigung zu behindern, betonten Regierungsbeamte.

Es gibt keinen Grund, diese Erklärung vorschnell zu glauben. Aber selbst wenn die Dokumente unabsichtlich zurückgehalten wurden, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Bundesbehörden der Verteidigung Beweismaterial in enormem Umfang nicht zur Verfügung stellten, welches das direkte Ergebnis der Untersuchung des Bombenanschlags durch das FBI war. Das ist eine ernste Verletzung des Rechts des Angeklagten auf einen fairen Prozess. Es ist ein juristischer Grund für McVeigh, gegen den ursprünglichen Prozess, gegen die Strafzumessung oder gegen beides Berufung einzulegen.

Angesichts des Umfangs der Dokumente und der Tatsache, dass dem Angeklagten die Todesstrafe droht, ist ein nur dreißigtägiger Aufschub eine Verhöhnung der Verfahrensrechte. Es ist ausgeschlossen, dass McVeighs Verteidiger in so kurzer Zeit die Dokumente studieren oder gar angemessene Nachforschungen über Fragen anstellen können, die sich aus ihnen ergeben könnten.

Darüber hinaus bedeuten die wiederholten öffentlichen Beteuerungen hoher Regierungsvertreter, - die ihren Widerhall in den Medien finden - in dem Material finde sich nichts Entlastendes, zwangsläufig eine Beeinflussung einer möglicherweise neu auszuwählenden Jury, falls McVeigh sich entscheiden sollte, einen neuen Prozess anzustreben.

Die Frage stellt sich: Warum diese Eile, McVeigh hinzurichten?

Es gibt mehrere Gründe, warum die Regierung den Fall McVeigh so schnell wie möglich hinter sich bringen möchte. Die Dokumente könnten Hinweise enthalten, die entgegen der offiziellen Version der Regierung darauf hindeuten, dass an dem Bombenanschlag von Oklahoma City mehr als zwei Personen - McVeigh und sein ehemaliger Kumpan Terry Nichols - beteiligt waren.

Enthalten die aufgetauchten Beweisstücke Hinweise auf eine breitere Verschwörung? Diese Dokumente bestehen zum großen Teil aus Verhören und Indizien, die kurz nach der Explosion vom April 1995 von 46 FBI-Ermittlern im Zusammenhang mit "John Doe Nr.2" [einem zweiten Täter] entdeckt wurden, den Zeugen am Ort des Verbrechens gesehen haben wollen.

Die Bundesbehörden ließen die Suche nach dieser Person bald fallen und verfolgten und verurteilten McVeigh und Nichols, die sie als alleinige Täter präsentierten. Während McVeigh die Existenz eines "John Doe Nr.2" abstritt, behauptet sein früherer Anwalt Stephen Jones, dass McVeigh zu einer ganzen Verschwörergruppe gehört habe. Die Anwälte von Terry Nichols, die auf der Grundlage der zurückgehaltenen Dokumente einen neuen Prozess beantragen, haben immer vertreten, dass es einen solchen Mann gebe und dass seine Existenz Zweifel an Nichols Rolle bei dem Verbrechen begründen könnte.

Die zurückgehaltenen Beweisstücke könnten auch für das FBI oder andere Regierungsbehörden unvorteilhafte Informationen enthalten. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass FBI-Informanten mehr über den Anschlag und die Ereignisse wissen, die dazu führten, als zugegeben wird.

Es ist bekannt, dass das FBI zahlreiche V-Leute in der Milizbewegung, bei der Waffenlobby, den Christlichen Rechten und anderen rassistischen und rechtsradikalen Gruppen hat. Die FBI-Verwicklungen in rechte Gewalt haben eine lange Tradition.

Eines der berüchtigtsten Beispiele ist der Fall des FBI-Informanten Jerry T. Rowe. 1980 gab das Justizministerium zu, dass es von der Verwicklung Rowes in eine Serie rassistisch motivierter Übergriffe im Süden während der Bürgerrechtsbewegung Kenntnis hatte. Rowe gab seine Beteiligung am Angriff auf die "Freedom Riders" am Busbahnhof von Birmingham im Jahre 1961 zu. Er gestand auch, dass er persönlich mit dem Attentäter zusammen im Auto gesessen hatte, der 1965 Viola Liuzzo erschoss, eine 39jährige Bürgerrechtsaktivistin aus Detroit.

In dem kürzlichen Prozess gegen den früheren Ku-Klux-Klan-Mann Thomas Blanton in Alabama wurde bekannt, dass das FBI jahrelang wichtiges Beweismaterial über den Bombenanschlag auf eine Kirche in Birmingham im Jahre 1963 zurückgehalten hatte, bei dem vier junge Mädchen starben. Die Staatsanwaltschaft wurde erst 1997 über Tonbandaufzeichnungen des FBI unterrichtet, die Blanton mit dem Verbrechen in Zusammenhang brachten.

Dabei gab es seit Jahren Gerüchte, dass der FBI-Informant einen Lügendetektortest über die Explosion von 1963 nicht bestanden hatte. Auch wenn Rowe vielleicht nicht direkt an der Ausführung des Bombenanschlags auf die Kirche beteiligt war, kannte er doch angesichts seiner Verbindungen zum Ku Klux Klan in Birmingham wahrscheinlich die Pläne für dieses Verbrechen. Das FBI hat möglicherweise die Indizien zurückgehalten, um Rowe und andere Informanten zu schützen und seine eigene Komplizenschaft in Verbrechen des Ku Klux Klan zu verheimlichen.

Das politische Establishment versucht zu verbergen, dass der Anschlag von Oklahoma City noch eine weitere Dimension hat. Zahllose politische Prominente auf Bundes-, Staats- und lokaler Ebene unterhalten enge Verbindungen zu den Christlichen Fundamentalisten, den Milizgruppen oder rassistischen und antisemitischen Organisationen - zu genau den Kreisen, in denen sich McVeigh vor seinem Attentat bewegt hatte. Insbesondere die Republikanische Partei hat enge Beziehungen zu solchen rechten Gruppierungen, und eine Anzahl republikanische Senatoren, Kongressabgeordnete und Gouverneure haben sich aktiv um ihre Unterstützung bemüht.

Während der republikanischen Amtsenthebungskampagne gegen Clinton wurde z. B. bekannt, dass der republikanische Abgeordnete Bob Barr aus Georgia - einer der wütendsten Gegner Clintons - und der Mehrheitsführer im Senat, Trent Lott aus Missouri, Verbindungen zum Konservativen Bürgerrat haben, einer weißen "Suprematisten"-Gruppe. [Die Suprematisten postulieren die Überlegenheit der weißen Rasse.]

Über diese unmittelbaren Fragen hinaus gibt es noch grundlegendere Überlegungen. Der Bombenanschlag von Oklahoma City wirft eine ganze Reihe sozialer und politischer Fragen auf, über die das politische Establishment keine Diskussion wünscht. Der Bombenanschlag enthüllte eine tiefgehende Entfremdung breiter Teile der Bevölkerung von der Regierung und der offiziellen amerikanischen Gesellschaft, eine Entfremdung, die im Fall von Timothy McVeigh eine extrem reaktionäre und asoziale Form annahm.

Allein schon die Tatsache, dass der erste große Terroranschlag auf amerikanischem Boden nicht von ausländischen Terroristen durchgeführt wurde, sondern von einem Amerikaner, der in rechtsextremistischen Kreisen aktiv war, weist auf scharfe Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft hin. Elemente wie McVeigh in der Milizenbewegung, den Christlichen Fundamentalisten, der Bewegung gegen die Steuern - sind direkt vom politischen Establishment, besonders der Republikanischen Partei, genährt worden. Politisch gesprochen tragen die etablierten Politiker und die Medien ein gerütteltes Maß an Verantwortung für die Untat von Oklahoma City.

Außerdem trägt die Gewalt, die die amerikanische Regierung selbst im In- und Ausland verübt, zum Anwachsen rechtsterroristischer Kräfte bei. Die scheinheiligen Erklärungen von Ashcroft, Bush und anderen enthalten ein gut Teil Heuchelei: Sie verurteilen McVeighs Massenmord und heißen gleichzeitig blutige Aktionen des amerikanischen Militärs und der Polizei gut.

McVeigh zufolge ließen ihn zwei entscheidende Ereignisse zu der Überzeugung kommen, dass die US-Regierung eine fremde und unterdrückerische Macht sei: Der Golfkrieg von 1991 und der Angriff des FBI auf das Anwesen der Davidianer-Sekte in Waco, Texas, im Jahre 1993. Als Freiwilliger in der US-Armee war McVeigh von der Brutalität der einseitigen Schlächterei des US-Imperialismus im Irak erschüttert. Nach seiner Rückkehr aus dem Golfkrieg trug der Angriff des FBI in Waco, bei dem mindestens 85 Menschen umkamen, darunter auch 21 Kinder, dazu bei, ihn völlig aus der Bahn zu werfen. McVeigh wählte den zweiten Jahrestag des Waco-Massakers für den Bombenanschlag in Oklahoma City.

Das World Socialist Web Site hat den sozio-psychologischen Prozess, der McVeigh dazu brachte den schlimmsten Terroranschlag der amerikanischen Geschichte zu begehen, im Detail untersucht. (Siehe: "Timothy McVeigh, Bombenleger von Oklahoma City: Der Werdegang eines Massenmörders", WSWS, 26. April 2001)

McVeigh ist ein Massenmörder, der von der übrigen Gesellschaft isoliert werden sollte. Das WSWS ist aber gegen seine Hinrichtung. Die Todesstrafe ist eine barbarische Praxis, die in der Mehrheit der fortgeschrittenen industrialisierten Länder der Welt verboten ist. Die amerikanische Gesellschaft wird durch seinen Tod nicht besser geschützt, als wenn er lebenslang eingesperrt wird.

Aber das politische Establishment will McVeighs Hinrichtung - die erste Hinrichtung des Bundesstaates seit 38 Jahren - um die Todesstrafe zu rehabilitieren, die in den letzten Jahren bei den Amerikanern an Unterstützung verloren hat, zum Teil, weil mehrere Verurteilungen von Insassen der Todeszellen sich als falsch herausgestellt haben.

Generalstaatsanwalt Ashcroft hat eine Videoübertragung der Hinrichtung für etwa 300 Angehörige von Opfern und Überlebende organisiert, die die grausige Prozedur aus der Ferne, irgendwo in Oklahoma City, verfolgen können. Die Medien planen, eine Horde Journalisten auf Terre Haute loszulassen, um live über die Hinrichtung zu berichten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Umgang der Regierung mit dem Bombenanschlag von Oklahoma City, z.B. die Enthüllungen über die zurückgehaltenen Dokumente, die Hinrichtung McVeighs zu einem Brennpunkt für die Opposition gegen die Todesstrafe gemacht hat. Internationale Menschenrechtsorganisationen, ausländische Regierungen und sogar der Papst haben die Bush-Regierung aufgefordert, die Hinrichtung zu stoppen. Selbst einige Angehörige von Opfern haben sich gegen die Hinrichtung ausgesprochen.

Die allgemeine Tendenz der Zeitungs- und Fernsehberichte geht dahin, dass die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer nur durch McVeighs Hinrichtung "zur Ruhe kommen" könnten. Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt allerdings ein Rätsel. Wenn es bedeutet, den Schmerz über den Verlust des Ehepartners, eines Elternteils oder eines Kindes zu überwinden, dann hat der Begriff wenig Bedeutung, weil man solche Gefühle nie völlig hinter sich lassen kann.

Wenn es bedeutet, die Wut und Verbitterung zu überwinden, die ein solch unmenschlicher Akt wie der von McVeigh hervorruft - besonders wenn ein geliebter Mensch dabei getötet wurde -, dann kann man zu Recht die Frage stellen, ob es wirklich die gesündeste und positivste Form einer Therapie ist, als Zeuge dem Tod des Täters beizuwohnen. Die Gesellschaft kann und sollte einen humaneren Umgang mit einer solchen Tragödie fördern.

Die Eile, mit der die Regierung McVeigh umbringen möchte, hat jedenfalls nichts mit Mitgefühl für die Opfer und die Überlebenden zu tun. Es ist die Fortsetzung des Rachemythos, mit dem das Establishment die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten brutalisiert hat. Und die Behörden hoffen, dass durch die Tötung McVeighs weiteren Untersuchungen über den Bombenanschlag der Boden entzogen und weitere Enthüllungen über die amerikanische Gesellschaft verhindert werden.

Aber nur durch eine Untersuchung der gesellschaftlichen Wurzeln dieser schrecklichen Tat können die Überlebenden - wie die ganze amerikanische Bevölkerung - beginnen, diese Tragödie zu verarbeiten. Was sagt McVeighs Entwicklung über die Klassenspaltung der amerikanischen Gesellschaft und den Charakter des politischen Systems aus?

Nur auf der Grundlage eines Verständnisses der objektiven gesellschaftlichen Wurzeln des Bombenanschlags von Oklahoma City wird ein ansonsten unbegreifliches Ereignis erklärbar. Und nur dann ist es möglich, zu erkennen, wie die Gesellschaft zum Besseren verändert und in Zukunft ein solches Ereignis verhindert werden kann.

Siehe auch:
Timothy McVeigh, Bombenleger von Oklahoma City: Der Werdegang eines Massenmörders
(26. April 2001)
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