Wachsende Instabilität der Schröder-Regierung

Rot-grün im dritten Regierungssommer

Der Ton war gereizt, als die Berliner Regierung in den vergangenen Tagen auf die jüngsten Wirtschaftsprognosen reagierte. Gut ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen liegen die Nerven im Kabinett und Kanzleramt blank. Die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Rezession zeigen, wie schwach und instabil die Schröder-Regierung ist.

Zum wiederholten Male hat ein Wirtschaftsforschungsinstitut seine Konjunkturprognose nach unten korrigiert. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland und in der Europäischen Union werde deutlich schwächer, erklärte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und gab an, dass für dieses Jahr nur mit einem Prozent Wachstum zu rechnen sei. Im März hatte dasselbe Institut noch eine Zunahme der deutschen Wirtschaftsaktivität von 2,1 Prozent erwartet.

Die Süddeutsche Zeitung sprach sogar von der "schlechtesten Konjunktur seit dem Rezessionsjahr 1993" und zitierte den DWI-Konjunkturexperten Gustav-Adolf Horn mit den Worten: "Der Weg zur Stagnation ist nicht mehr weit." Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Wachstumsprognose für Deutschland von 1,9 auf 1,25 Prozent gesenkt.

Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) wiesen diese Prognosen umgehend zurück. Beide Minister rechnen weiterhin mit einem Wachstumsplus von zwei Prozent und haben für die zweite Jahreshälfte eine deutliche Konjunkturerholung angekündigt.

Die neuen Wirtschaftszahlen haben den Streit über die rigide Sparpolitik der rot-grünen Regierung erneut angeheizt. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Ludolf von Wartenberg, warf Finanzminister Eichel vor, er konsolidiere den Staatshaushalt auf Kosten von Wirtschaftsinvestitionen. "Es wird zuviel für den Konsum und zu weinig für die Investitionen ausgegeben", betonte Wartenberg. Auch das DIW fordert den Finanzminister auf, die konjunkturbedingten Steuerausfälle in Höhe von voraussichtlich 4,5 Milliarden Mark nicht durch neue Sparprogramme auszugleichen, um eine weitere Schwächung der Wirtschaftsentwicklung zu vermeiden.

Bisher war die Sparpolitik der Regierung vor allem von den betroffenen Sozialverbänden kritisiert worden, die auf die verheerenden gesellschaftlichen Auswirkungen der Kürzungen im Sozialbereich aufmerksam machten. Dass nun auch die Wirtschaftsverbände die Regierung kritisieren, hat die Spannungen in der rot-grünen Koalition verschärft. Sie fühlt sich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Das selbst gesteckte Ziel, die Massenarbeitslosigkeit deutlich abzubauen, ist in weite Ferne gerückt. Im Juni stieg die Zahl der Arbeitslosen erneut, wenn auch nur geringfügig an. Dieser Anstieg setzt sich nun bereits den sechsten Monat in Folge fort.

Die Schwäche der Regierung hat tiefe gesellschaftliche Ursachen. Vor allem zeigt sich darin, dass die rot-grüne Koalition ihren anfänglichen Kredit in der Bevölkerung längst verspielt hat und dass ihre gesellschaftliche Unterstützung ständig abnimmt.

Schröders Wahlsieg vor knapp drei Jahren stützte sich auf zwei Dinge. Erstens eine weitverbreitete Opposition gegen die Regierung von Helmut Kohl. Viele Wähler dachten damals, nach 16 Jahren Kohl-Regierung könne es nur besser werden. Sie sahen in der Wahl der SPD die einzige Möglichkeit, die Kohl-Regierung mit ihren ständigen Angriffen auf die sozialen Leistungen loszuwerden.

Zweitens unterstützten aber auch die großen Wirtschaftsverbände die Wahlkampagne der SPD, allerdings mit genau entgegengesetzten Absichten. Die CDU hatte sich mit ihrer jahrelangen Klientelpolitik verbraucht, und große Teile der Unternehmer hofften darauf, dass eine SPD-geführte Regierung besser in der Lage sei, scharfe Einschnitte im sozialen Netz durchzusetzen und Deutschland für die Globalisierung fit zu machen. Das Wahlmotto der SPD "Innovation und Gerechtigkeit" war auf beide Seiten ausgerichtet.

Die Wahl selbst glich einem Plebiszit gegen Kohl. Zu ihrer eigenen Überraschung legte die SPD vorwiegend in den Arbeitergebieten der Industriestädte deutlich zu - im Osten noch stärker als im Westen. Eine von Schröder angestrebte große Koalition mit der CDU war unter diesen Bedingungen nicht möglich.

In der ersten Phase sah sich die Regierung gezwungen, auf diese Stimmen der Arbeiter Rücksicht zu nehmen. Doch die Wirtschaftsverbände übten großen Druck aus und Schröder war bereit, ihnen in jeder Hinsicht entgegenzukommen. Die soziale Rhetorik über Gerechtigkeit hatte nur dazu gedient, die Wahl zu gewinnen. Nachdem die SPD an der Macht war, bestand dafür kein Bedarf mehr. So kam es zur Trennung mit Lafontaine. Oskar Lafontaine fürchtete, dass der neoliberale Wirtschaftskurs die SPD zu schnell verschleiße, hatte dieser Politik aber nichts entgegenzusetzen und trat zurück.

Mit Hans Eichel übernahm ein finanzpolitischer Technokrat die Macht im Finanzministerium, der ausschließlich an seiner Buchhaltung interessiert ist und den die sozialen Konsequenzen seiner Sparmaßnahmen nicht interessieren. Nur wenige Wochen vor seiner Ministerernennung hatte er mit seiner unsozialen Sparpolitik die Landtagswahlen in Hessen verloren. Sein Prinzip der Haushaltskonsolidierung um jeden Preis wurde zur Grundlage für einen scharfen Rechtsruck der Schröder-Regierung.

Bereits das erste rot-grüne Sparpaket setzte die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben fort, wie sie von der Kohl-Regierung jahrelang betrieben worden war, und verschärfte sie sogar. Von den 30 Milliarden Mark Einsparungen entfielen 13 Milliarden direkt auf den Bereich Arbeit und Soziales. Für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe wurden die Rentenbeiträge halbiert, und die Rentenerhöhung wurde im Jahr 2000 auf 0,7 Prozent beschränkt.

Der Bund stoppte seine Zahlungen für Wohngeld an Sozialhilfeempfänger in Höhe von 2,3 Milliarden Mark und wälzte sie auf die ohnehin stark belasteten Kommunen und Länder ab, was wiederum Sozialkürzungen auf kommunaler Ebene zur Folge hatte. Gleichzeitig wurden beim sozialen Wohnungsbau 70 Millionen Mark eingespart. Die Einführung der Ökosteuer führte zu drastischen Benzin- und Heizölpreiserhöhungen für Normalverbraucher, während ein Großteil der Betriebe mit hohem Energieverbrauch und starker Umweltverschmutzung von der Ökosteuer befreit wurde.

Dann folgte die sogenannte "Große Steuerreform", in deren Mittelpunkt eine drastische Senkung der Unternehmenssteuern stand. Vor allem Gewinne - egal ob Unternehmensgewinne, Dividenden oder Spekulationsgewinne - wurden in einem Ausmaß steuerlich entlastet, wie das bisher kaum vorstellbar war. Die Körperschaftssteuer für Kapitalgesellschaften wurde von 40 auf 25 Prozent fast halbiert.

Mit einem Spitzensteuersatz von über 56 Prozent auf einbehaltene Gewinne hatte Deutschland im Vergleich der Besteuerung von Kapitalgesellschaften deutlich im oberen Bereich gelegen, knapp zehn Prozent vor den USA. Kanzler Schröder und sein Buchhalter Eichel senkten den Spitzensteuersatz auf 38,6 Prozent, den viertniedrigsten in Europa und weit unter dem der USA mit 46,5 Prozent. Auch wurde entschieden, den Steuersatz für private Einkünfte schrittweise um zehn Prozent zu senken, was einem Einkommensmillionär Steuerersparnisse von jährlich etwa hunderttausend Mark einbringt.

Seit Beginn der achtziger Jahre hatten die Sprecher der großen Wirtschaftsverbände eine solche an Reagan und Thatcher orientierte Politik gefordert, aber die Kohl-Regierung hatte sich als unfähig erwiesen, diese Änderungen im Interesse der großen Konzerne und Banken durchzusetzen. Bis zuletzt hatte die SPD die Waigelsche Steuerreform aus wahltaktischen Gründen blockiert, worauf die herrschende Elite zu der Schlussfolgerung kam, man müsse die SPD und die Grünen in die Regierungsverantwortung einbinden, um den Widerstand gegen die Steuerreform zu brechen.

In der Bevölkerung stieß diese unsoziale Politik auf heftige Ablehnung. Bei den Landtagswahlen in Hessen und im Saarland verlor die SPD 1999 die Regierungsmehrheit und musste in die Opposition gehen. Auch in Nordrhein-Westfalen musste sie im Frühjahr 2000 starke Stimmeneinbußen hinnehmen. Dieser Trend setzte sich zwar in anderen Ländern aufgrund der Spendenaffären der CDU nicht fort, dafür nahm die Wahlbeteiligung ständig weiter ab. Die Vehemenz, mit der die SPD bereits in den ersten Regierungsjahren als Interessenvertreterin der Wirtschaftsverbände auftrat und viel tiefere Einschnitte ins soziale Netz durchführte, als ihre Vorgängerin, hat die Kluft zwischen dieser Partei und der Bevölkerung deutlich vertieft.

Schröder reagiert auf diese Entwicklung, indem er zwischen den verschiedenen sozialen Schichten und politischen Tendenzen und Parteien laviert. Auf der einen Seite hält er an einer Wirtschaftspolitik fest, die darauf ausgerichtet ist, die speziellen Formen des deutschen Sozialstaats für die globalisierten Märkte zu öffnen. In Bezug auf die Renten und das Gesundheitssystem wurden die Weichen bereits eindeutig in Richtung Privatisierung und Zweiklassen-Medizin gestellt. Auf der anderen Seite wettert er gegen amerikanische Verhältnisse und stützt sich auf die Gewerkschaftsbürokratie, um die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass soziale Konflikte unter Kontrolle gehalten werden können.

Bisher half ihm eine günstige konjunkturelle Entwicklung bei diesem Spagat. Doch die deutlichen Anzeichen einer Rezession kündigen ein Ende dieser Entwicklung an. So verbirgt sich hinter den gereizten Reaktionen auf die jüngsten Konjunkturprognosen die wachsende Angst vor sozialen Konflikten.

Obwohl die Regierung von der größten Oppositionspartei gegenwärtig nichts zu fürchten hat, weil die Union in sich tief zerstritten ist, hält Schröder nach neuen Stützen und politischen Verbündeten Ausschau. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern spitzt sich die soziale und politische Situation zu. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen ist mit knapp zwanzig Prozent dort doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Jeder zweite Jugendliche ist in den ehemaligen ostdeutschen Industriezentren bereits arbeitslos und ohne jede Aussicht auf Besserung oder eine erstrebenswerte Zukunft.

Seit Regierungsantritt ging der Einfluss der SPD im Osten ständig weiter zurück, von den Grünen ganz zu schweigen. Die Partei des Außenministers und Vizekanzlers ist in keinem einzigen ostdeutschen Landtag vertreten, und es wäre kaum überraschend, wenn sie bei den Bundestagswahlen im nächsten Jahr an der Fünfprozenthürde scheitern würde.

Hier liegt der Grund für Schröders Annäherung an die PDS. Als einzige politische Organisation verfügt die ehemalige Regierungspartei der DDR auch heute noch über eine ausgeprägte Parteistruktur im Osten. Sie konnte sich unter den enttäuschten Schichten des DDR-Kleinbürgertums, deren Karriereträume nach der Wende nur sehr beschränkt oder gar nicht in Erfüllung gingen, eine soziale Basis schaffen.

Die Kandidatur von Gregor Gysi in den Berliner Senatswahlen im kommenden Herbst und die Ankündigung der SPD, "unter Umständen" mit der PDS eine Koalition in der Bundeshauptstadt einzugehen, dienen als Test und Wegbereiter für eine engere Zusammenarbeit mit der PDS - notfalls auch auf Bundesebene.

Wer diese Entwicklung als Linksschwenk der SPD betrachtet, wird bereits jetzt eines Besseren belehrt. Nicht die SPD rückt nach links, sondern die PDS nach rechts. Ohnehin ist die Partei, die sich immer noch als sozialistisch bezeichnet, auf kommunaler Ebene im Osten mit mehr als zwölftausend Bürgermeistern und Regierungsbeamten längst staatstragende Partei. In Sachsen-Anhalt toleriert sie seit acht Jahren die sozialdemokratische Minderheitsregierung, was nichts an der Tatsache geändert hat, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Bundesland die höchste in der ganzen Republik ist. In Mecklenburg-Vorpommern ist sie bereits an der Regierung beteiligt, wobei der PDS-Arbeitsminister in Schwerin vor allem dadurch von sich Reden machte, dass er die Privatisierung von Krankenhäusern und kommunaler Einrichtungen schneller als in jedem anderen Bundesland vorantreibt.

Zwei Dinge prägen den dritten Regierungssommer von Rot-Grün. Erstens löst sich die politische Elite immer schneller und immer weiter von der Bevölkerung. Politische Entscheidungen werden in einem kleinen, von der gesellschaftlichen Entwicklung völlig abgehobenen Zirkel von Experten getroffen und anschließend durchgesetzt. Die Parteien gleichen sich mehr und mehr an, und die Interessen der großen Bevölkerungsmehrheit werden immer weiter ausgegrenzt und abgeblockt.

Zweitens rückt die offizielle Politik immer weiter nach rechts. Je mehr sich die politischen Entscheidungen gegen die große Mehrheit der Bevölkerung richten, umso mehr nehmen die Angriffe auf demokratische Rechte zu. Der Ruf nach dem starken Staat hat in Deutschland lange Tradition und wurde immer schon bei den ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise erhoben. In diesem Zusammenhang ist Schröders Forderung nach härteren Strafen für Sexualstraftäter, mit der er sich in die Sommerpause verabschiedete, sehr aufschlussreich. Gemeinsam mit Innenminister Otto Schily (SPD) versucht er den Rechten in der CDU/CSU das Wasser abzugraben, indem er selbst die Frage der inneren Sicherheit und Staatsaufrüstung zum Wahlkampfthema macht.

Welche Gefahren mit dieser Politik verbunden sind, zeigt die Entwicklung in Österreich oder jüngst der Wahlsieg von Berlusconi in Italien. In beiden Ländern haben sozialdemokratische Regierungen die sozialen und politischen Bedingungen geschaffen, unter denen extrem rechte Demagogen in der Lage waren, die Verzweiflung und politische Enttäuschung heruntergekommener Schichten der Gesellschaft für ihre Ziele auszunutzen, und ihnen mit "Law-and-order"-Parolen auch noch den Weg geebnet.

Eine solche Entwicklung zu verhindern, erfordert eine politische Initiative von unten. Es genügt nicht, sich der offiziellen Politik zu verweigern und bei Wahlen der Stimme zu enthalten. Notwendig ist eine politische Neubewaffnung der Arbeiterbewegung, die durch die jahrzehntelange Vorherrschaft von Sozialdemokratie und Stalinismus gelähmt und desorientiert worden ist.

Siehe auch:
Die Ministerrücktritte in Berlin häufen sich
(13. Januar 2001)
Die Steuerwende - Das Ende der sozialen Marktwirtschaft
( 20. Juli 2000)
SPD beschließt Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung
( 7. Juli 2000)
Das rot-grüne Sparpaket
( 11. Oktober 1999)
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