"Wegschließen - und zwar für immer"

Bundeskanzler Schröders Ausfälle gegen Sexualstraftäter

Als die Polizei Anfang Juli die ermordete Leiche der achtjährigen Julia fand, vermutete die Boulevardpresse sofort einen erneuten Sexualmord. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nutzte diesen Wirbel, um in der Bild am Sonntag harte Maßnahmen gegen Sexualstraftäter zu fordern: "Wegschließen - und zwar für immer." Dies geschehe zu selten, da die Täter auf ein "Kartell" viel zu milder Gutachter träfen. Schröder bedient mit diesen Äußerungen sowohl den äußersten rechten Mob, der in nationalsozialistischer Tradition in seinen Publikationen gegen "Vergewaltiger und Kinderschänder" agitiert, als auch zahlreiche rechte politische Kräfte, die sich einer weiteren Verschärfung der Strafrechtsordnung und dem Ausbau des Überwachungsstaats verschrieben haben.

Die Fakten sprechen allesamt gegen Schröder. Das Bundeskriminalamt registrierte 1999 und 2000 je zwei Sexualmorde an Kindern sowie fünf Fälle von sexuellem Missbrauch mit Todesfolge 1999 und einen Fall im folgenden Jahr. Sowohl im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren als auch zu den Jahren 1990 bis 1994, als die Zahlen wieder leicht anstiegen, bedeutet dies einen starken Rückgang. 1972 gab es 10 Sexualmorde an Kindern, 1979 sogar 13, und das allein in Westdeutschland.

Was die "Milde" der Gutachter angeht, so sprechen auch diese Zahlen gegen Schröder. Aufgrund der anhaltenden Medienkampagnen gegen Sexualstraftäter neigen forensische Psychiater dazu, Täter als gefährlich einzustufen und sie in die Sicherheitsverwahrung einzuweisen. Die Zahl der gegen gefährliche Täter verhängten Sicherheitsverwahrungen hat sich von 172 im Jahr 1996 auf 238 im Jahr 2000 erhöht.

Im sogenannten Maßregelvollzug, in dem aufgrund psychischer Erkrankungen schuldunfähige Täter auf unbestimmte Zeit einsitzen, befanden sich in den 90er Jahren etwa 4.000 Personen (bei rund 50.000 in herkömmlichen Gefängnissen Inhaftierten), davon etwa ein Viertel Sexualstraftäter. Diese Zahlen legen nahe, dass Schröders Forderung des Wegschließens schon eine recht bevorzugte Strategie darstellt. "Für etwa jeden Zehnten im Maßregelvollzug gilt auch heute schon das Schröder-Maß", schreibt Der Spiegel : "Er verlässt die Anstalt erst im Sarg."

Vor einer weiteren Verschärfung bestehender Gesetze warnen deshalb Psychologen und andere. Siegfried Bayer, Geschäftsführer des Stuttgarter "Bewährungshilfe"-Vereins, widersprach der Schröderthese, Sexualtäter seien nicht therapierbar. "In den vergangenen drei Jahren haben wir insgesamt 109 Sexualstraftäter aus Baden-Württemberg behandelt, von diesen sind drei rückfällig geworden", berichtete der Psychologe.

Der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers wies darauf hin, dass die große Mehrheit der Täter aus dem nahen Umfeld kommt. Da sei Hilfe "wesentlich effektiver als Strafe". Dies solle vor allem im Zusammenhang des nun immer wieder benutzten Slogans "Opferschutz geht vor Täterschutz" Berücksichtigung finden. Es helfe dem kindlichen Opfer, zumindest ab einem gewissen Alter, nicht, wenn es wisse, dass durch seine Aussage beispielsweise der Vater, Opa oder Onkel für den Rest seines Lebens ins Gefängnis müsse.

Es ist offensichtlich, dass Schröders Interesse und das der ihn unterstützenden rechten Kräfte nicht wirklich dem Schutz der Bevölkerung vor sexuellen Gewaltverbrechen gilt. Natürlich gäbe es in dieser Hinsicht tatsächlich Einiges zu verbessern. Die Therapiemöglichkeiten müssten zum Beispiel ausgebaut werden. Dies liegt in der Finanzhoheit der Länder, die aber mit dem Hinweis auf leere Kassen die quantitative und qualitative Verbesserung der forensischen Kliniken und Therapieplätze ablehnen.

Vielmehr soll mit den sich wiederholenden platten Kampagnen gegen Sexualstraftäter das Rad der Geschichte zurückgedreht werden. Denn das "harte Durchgreifen" des Staates verträgt sich nicht mit dem in Deutschland noch geltenden Resozialisierungsgrundsatz im Strafrecht. Dieser Grundsatz ist ein Ergebnis der 60er/70er Jahre, als sich eine breite Bewegung gegen den "Mief von 1000 Jahren " stellte. Gemeint war der "Mief" des Nationalsozialismus, der bis zu dieser Zeit in deutschen Gerichtssälen deutlich wahrnehmbar war.

Der Resozialisierungsgedanke erkennt an, dass es sich bei kriminellem Handeln um ein von der Gesellschaft abweichendes Verhalten handelt, das wiederum gesellschaftliche Ursachen hat. Es ist Ausdruck von fehlgeleiteten sozialen Prozessen, die korrigiert werden müssen und können. Mit bestimmten Programmen und Anstrengungen, darunter Therapien, ist es möglich, Kriminelle wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sie zu resozialisieren. Dieser Grundgedanke war auch verantwortlich für den Berufsboom in den damals neuen geisteswissenschaftlichen Bereichen wie Psychologie, Sozialwissenschaften und Pädagogik.

Die Ursache für den Sexualmord bzw. die Sexualstraftat suchte man in der Gesellschaft, die sich im vergewaltigenden und mordenden Individuum subjektiv, wenn auch krankhaft, spiegelte. Man suchte die Ursache in den ideologischen und politischen Grundlagen der Gesellschaft genauso wie in den sozialen Bedingungen des persönlichen Lebenswegs des Sexualmörders. Ohne dem Täter selbst die gesamte Verantwortung zu nehmen, wurde eine Gesellschaft als krank angesehen, die Armut, Gewalt, geistig-dumpfe Verrohung sowie psychische und physische Verwahrlosung hervorbringt.

Experten erklären zwar, es gäbe keine typische Persönlichkeitsstruktur von Sexualstraftätern, aber sie sind sich darin einig, dass es sich um eine massive Fehlentwicklung der Persönlichkeit handelt. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, wird diese durch äußere - also im weiteren Sinne gesellschaftliche - Umstände hervorgerufen.

Und gerade gegen diese Auffassung richtet sich die Kampagne der Reaktionäre in der Gesellschaft. Denn das harte Durchgreifen des Staates gegen Sexualstraftäter erinnert nicht nur praktisch an die Politik der Nazis in den 30er Jahren, es hat auch die gleiche ideologische Grundlage: ein biologistisches, von den Genen, also der Abstammung, bestimmtes Menschenbild.

Selbst sensationelle wissenschaftliche Fortschritte wie die Gentechnik werden in diesem Zusammenhang für die reaktionärsten Schlussfolgerungen missbraucht. Mittlerweile kursieren Theorien, wonach sozialen Missstände wie Armut, mangelhafte Bildung, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Kriminalität auf die Gene zurückzuführen, sprich "vorherbestimmt" seien. Ausgehend von dieser Auffassung sind soziale Netze überflüssig. Hunger, Elend und Armut im weitesten Sinne sei demnach "vorherbestimmtes Schicksal".

Welch Absurditäten geboren werden, wenn diese Ideologie mit dem mathematischen Empirismus zusammenkommt, veranschaulichte kürzlich ein Forscherteam an der Boston-University in Massachusetts. Dieses untersuchte die Heirats- und Scheidungsgewohnheiten von 8.000 eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren. Beim Heiratsverhalten stellten sie keine Unterschiede fest, wohl aber beim Scheidungsverhalten. Bei eineiigen Zwillingen, die identische Geninformationen besitzen, fanden sie eine größere Übereinstimmung als bei zweiigen, deren Gene sich nur zu rund 50 Prozent gleichen. Daraus wurde abgeleitet, dass auch die Ehe-Scheidung durch die Gene vorherbestimmt sei.

Schröder hat für seine Äußerungen über das Wegschließen von Sexualstraftätern Befall vom rechten Rand der Union erhalten, die darin - zu Recht - eine Unterstützung für ihre eigenen Law-and-order-Kampagnen erblickt.

In einem Eckpunkte-Papier fordert die CDU/CSU die drastische Verschärfung des Strafrechts. Neben der Erhöhung des einschlägigen Strafrahmens forderte sie die Legalisierung der Telefonüberwachung schon beim "Verdacht" des Kindesmissbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornografie. Überdies sollen verdeckten Ermittlern "milieu-bedingte Straftaten" erlaubt sein, wenn sie von "geringerer Natur" sind.

Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Norbert Geis (CSU), tritt als erstes für die Ausweitung der Möglichkeit einer nachträglichen Sicherheitsverwahrung ein. Rückfallgefährdete Täter sollen auch nach Ablauf ihrer gerichtlich verhängten Strafe in Haft bleiben. Begründet wird dies selbstverständlich mit dem Schutz vor Sexualverbrechern. Für Sexualverbrecher ist aber eine nachträgliche Sicherheitsverwahrung ohnehin schon möglich. Die Ausweitung dieser Möglichkeit auf den normalen Strafvollzug würde der staatlichen Willkür Tür und Tor öffnen, denn welcher Strafgefangene ist nicht rückfallgefährdet?

Auf ähnliche Weise war im Juni 1998 vom damaligen Innenminister Manfred Kanther (CDU) die Einrichtung einer zentralen Gen-Datei beim Bundeskriminalamt durchgesetzt worden. Als Vorwand hatte die Empörung über den Sexualmord an Christina Nytsch gedient, deren Mörder durch einen Massen-Gentest überführt worden war. Schon bei der Gesetzesverabschiedung im September 1998 hieß es dann, dass nicht nur die genetischen Fingerabdrücke von Sexualverbrechern, sondern auch von Personen, die sich einer Tat von "erheblicher Bedeutung" schuldig gemacht haben, in die Gen-Datei aufgenommen werden können.

Was aber ist eine Tat von "erheblicher Bedeutung"? Die Praxis der staatlichen Ermittlungs-Behörden scheint durchaus unterschiedlich zu sein. In Bayern sind Fälle bekannt, in denen Ladendiebe zum Speicheltest ins Polizeipräsidium zitiert wurden. Innerhalb von drei Jahren sind 125.000 genetische Fingerabdrücke gespeichert worden. "Nur" 125.000 sagen Geis, der bayrische Innenminister Kurt Beckstein und andere, um den Ausbau der Gen-Datei zu forcieren.

Das Eckpunkte-Papier der CDU/CSU verlangt dementsprechend, "dass künftig aus Anlass jedweder Straftat die richterliche Anordnung der DNA-Analyse möglich und ausreichend sein muss, sofern nur im jeweiligen Einzelfall Grund zu der Annahme besteht, dass von dem Täter Sexualverbrechen oder andere schwere Straftaten zu befürchten sind." Wiederum wird hier jeglicher staatlicher Willkür der Weg geebnet.

Vor gar nicht langer Zeit, als der Sexualmord an der 12jährigen Ulrike die Öffentlichkeit fesselte, schlug der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) sogar vor, nicht nur die genetischen Fingerabdrücke aller Straftäter, sondern sämtlicher Männer in Deutschland zu speichern.

Diese Entwicklung ist nicht auf Deutschland beschränkt. Vor dem gleichen Hintergrund forderte Peter Lindsay, Abgeordneter der australischen Regierungspartei, die Speicherung der genetischen Fingerabdrücke aller Neugeborenen und anschließend auch aller weiterer Australier sowie Einwanderer. "Wenn jemand kein Verbrecher ist, braucht er sich auch keine Sorgen machen", so die bemerkenswerte Begründung Lindsays. Auch in Deutschland versuchen politische und staatliche Scharfmacher in diese Richtung zu gehen. Beispielsweise verlangt der Bund Deutscher Kriminalbeamter die routinemäßige Anwendung des genetischen Fingerabdrucks zur Aufklärung von Einbrüchen.

Die massenweise Speicherung der genetischen Erbinformationen der Bevölkerung in Verbindung mit einem biologistischen Menschenbild legt die Grundlagen für das, was kritische Rechtswissenschaftler "genetische Inquisition" nennen.

Siehe auch:
Die Strafgesellschaft - Der Ausbau der Gefängnissysteme und seine Folgen
(24. Mai 2000)
Der Abschied von Datenschutz und Privatsphäre
( 19. Oktober 1999)
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