Internationale Verurteilung der Polizeigewalt von Genua wächst

Die Häufung von Beweisen, dass die Polizei während des G-8 Gipfels vom 20.-22. Juli in Genua mit ungeheurer Brutalität gegen Demonstranten vorging und Provokateure einsetzte, hat wachsende internationale Kritik ausgelöst.

Augenzeugen und Fernsehaufnahmen ergeben ein vernichtendes Bild von Folter durch die Polizei, der Verletzung von Bürgerrechten und der Zusammenarbeit von Polizei und rechtsradikalen Aktivisten. Während der Proteste vor dem G-8 Gipfeltreffen, an denen bis zu 100.000 Demonstranten teilnahmen, wurden etwa 200 Menschen verletzt und 301 festgenommen oder verhaftet, darunter auch 100 ausländische Staatsbürger. Unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi wurde Genua in eine bewaffnete Festung verwandelt und ganze Teile der Stadt mit einem fünf Meter hohen Stahlzaun abgeriegelt und von 20.000 Polizisten bewacht.

Während die Führer der Weltmächte sich im Dogenpalast trafen, hielten Fernsehbilder die letzten Augenblicke des Lebens eines Demonstranten, Carlo Giuliani, fest, der von Carabinieri (Bereitschaftspolizisten) erschossen wurde. Es gibt auch unbestätigte Berichte, dass am gleichen Tag am Grenzübergang Ventemiglia eine Französin getötet worden sei, als die Polizei sie und andere Demonstranten daran zu hindern suchte, nach Italien einzureisen.

Ungefähr 49 Personen befinden sich immer noch im Gefängnis. Es hat Berichte über wahllose Gewaltanwendung gegeben. Dutzenden von Festgenommenen wurde das Recht auf einen Anwalt oder die Kontaktaufnahme mit Familienmitgliedern verweigert. Zu denen, die immer noch festgehalten werden, gehört Susanna Thomas, eine amerikanische Studentin, die den Gipfel im Rahmen ihrer Forschungsarbeit beobachtete, die den Vergleich zwischen heutigen Protestbewegung und der Tradition des gewaltlosen Widerstands der Quäker zum Thema hat.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat eine eigene Untersuchung des Verhaltens der italienischen Polizei gestartet. Die Organisation erklärte, dass der Vorsitzende ihrer griechischen Sektion selbst auch von den Carabinieri angegriffen worden sei. Eine Gruppe von Rechtsanwälten, die Zeugen der Ereignisse von Genua waren, gab parallel dazu eine Erklärung ab, in der sie die italienischen Behörden beschuldigte, die Bürgerrechte mit Füßen getreten zu haben. "Das sah alles nach einem Versuch aus, die gegenwärtige Ordnung durch einen Polizeistaat zu ersetzen," erklärten die Rechtsanwälte.

Nur sechs Wochen vor dem Gipfel hat Berlusconis Forza Italia (FI) in einer Koalition mit der neofaschistischen Alleanza Nazionale (AN) und der separatistischen Lega Nord die Regierung übernommen. Aber in dem Maße, wie Berichte durchsickerten, wie die Polizei festgenommene Demonstranten verprügelte, auf sie urinierte und sie zwang "Viva Mussolini" zu rufen, sahen sich selbst Regierungen zu kritischen Äußerungen veranlasst, die der rechten Koalitionsregierung ansonsten durchaus positiv gegenüberstehen.

In Spanien, Großbritannien und den USA hat der Druck auf die Regierungen zugenommen, ähnlich wie Deutschland und Frankreich offiziell gegen die Behandlung ihrer Staatsbürger zu protestieren. Die österreichische Regierung äußerte "Empörung" über die andauernde Inhaftierung von 25 Mitgliedern der Theatergruppe VolxTheater-Karawane.

Die Berlusconi-Regierung hat sich bemüht, die Demonstranten für die Gewalt verantwortlich zu machen. Das wurde allerdings untergraben, als mit einer Ausnahme alle 93 Demonstranten, die beim Überfall auf eine Schule verhaftet worden waren, wieder freigelassen und der Vorwurf der Gewaltanwendung gegen sie fallen gelassen wurde. Die Schule hatte als Unterkunft für Demonstranten und als Büro für das Sozialforum Genua gedient.

Die Berichte über Polizeigewalt haben auch innerhalb Italiens die Kritik an der Regierung schärfer werden lassen. Berlusconis eigener Fernsehsender Canale 5 brachte drastische Szenen von dem Überfall auf die Schule und zeigte Pfützen von Blut der Protestler auf den Gängen. Zeitungen haben detaillierte Berichte über Menschenrechtsverletzungen gebracht.

Die Tageszeitung La Repubblica brachte die Enthüllungen eines anonymen Polizeioffiziers, der an dem Überfall auf die Schule beteiligt war. Nach seinem Bericht reihte die Polizei Demonstranten an der Wand auf. "Sie pinkelten eine Person an. Wer nicht Facette Nera [ein faschistisches Lied] sang, wurde verprügelt. Ein Mädchen erbrach Blut, aber der Abteilungsführer schaute nur zu. Sie drohten, Mädchen mit ihren Schlagstöcken zu vergewaltigen." Der Offizier berichtete auch, dass rechte Schläger bei der Polizei ermutigt worden waren, brutal mit den Verhafteten umzuspringen, und dass ihnen Straffreiheit zugesichert worden sei.

Auch die Polizeirazzia in den Büros der unabhängigen Mediengruppe Indymedia hat zum Vorwurf der Verletzung von Bürgerrechten geführt. Bei der Razzia mitten in der Nacht, an der dreizehn Polizeioffiziere und 70 Beamte teilnahmen, rammten Polizeifahrzeuge die Türen der Schule ein, in der das Medienzentrum untergebracht war und Demonstranten schliefen. Bei dem folgenden Angriff wurden 90 Menschen festgenommen und mindestens 66 verletzt.

Journalisten versteckten sich unter Schreibtischen, während Polizisten durch das Gebäude stürmten und Computer und Dokumente beschlagnahmten.

Augenzeugen berichten, dass 30 Krankenwagen notwendig waren, um die geprügelten Protestler zu behandeln; viele von ihnen mussten aus dem Gebäude getragen werden. Dr. Roberto Papparo, der Chefarzt der Notfallstation des Ospedale San Martino, des größten Krankenhauses von Genua, in dem mehr als fünfzig der Verletzten behandelt wurden, sagte: "Wenn diese Leute nicht ins Krankenhaus gebracht worden wären, dann wären zweifellos einige von ihnen nicht mehr am Leben."

Die Brutalität setzte sich im Sammellager für Verhaftete Bolzaneto fort, einer früheren Sporthalle, die speziell für die Vernehmung sogenannter "Rädelsführer" hergerichtet worden war. Demonstranten, die aus der Schule dorthin verlegt worden waren, behaupten, dort stundenlanger physischer und psychischer Folter unterworfen worden zu sein. Gefangene, auch solche mit gebrochenen Gliedmaßen, wurden mit gespreizten Armen und Beinen an einer Wand aufgestellt und beschimpft und geschlagen.

Die Zeitung La Stampa hat die Justizbehörden aufgefordert, den Augenzeugenberichten über die Verletzung "der Regeln eines demokratischen Staates" durch die Polizei auf den Grund zu gehen.

Francisco Martone, ein Senator der Grünen Partei, sagte, Faschisten hätten die Polizei infiltriert, während Massimo D'Alema, der Vorsitzende der Demokratischen Linken (der reformierten italienischen KP), den Rücktritt von Innenminister Claudio Scajola forderte, der als die rechte Hand von Berlusconi angesehen wird. Scajola und Gianni De Gennaro, der nationale Polizeichef Italiens, machen sich gegenseitig verantwortlich. De Gennaro betont, dass seine Polizei in Übereinstimmung mit den Instruktionen des Ministers gehandelt habe, während Scajola jede Verantwortung zurückweist.

Berlusconis Vorschlag, zukünftige für Italien geplante Gipfeltreffen anderswo stattfinden zu lassen, wird von denen im italienischen Establishment kritisiert, die eine solche Maßnahme als Schlag gegen die Bemühungen des Landes sehen, eine führende Rolle in der Weltarena zu spielen. Romano Prodi, der Präsident der Kommission der Europäischen Union, warnte den Ministerpräsidenten, dass eine solche Entscheidung "ein Schlag, eine wirkliche Niederlage" für seine Regierung wäre.

Berlusconi hat sich als Gegenleistung zum Versprechen der Opposition, ihre Forderung nach dem Rücktritt Scajolas fallen zu lassen, mit einer Reihe begrenzter gerichtlicher Untersuchungen der Gewaltexzesse einverstanden erklärt. In einer, wie es beschrieben wurde, mit "versteinerter Mine" und "sichtbar erschüttert" vor dem Senat gehaltenen Rede gestand der Ministerpräsident die wachsende internationale Empörung ein und versprach: "Wenn es Missbrauch, Exzesse und Gewalt gegeben hat,.... dann wird es keine Schonung für die geben, die das Gesetz verletzt haben."

Die Einsetzung von sechs gerichtlichen Untersuchungsausschüssen ermöglichte es Scajola, am 1. August ein von der Opposition eingebrachtes Misstrauensvotum mit 180 zu 106 Stimmen, bei einer Enthaltung, zu überleben. Unmittelbar danach ordnete Scajola die Entlassung dreier hochrangiger Vertreter der Polizeikräfte an: Ansoino Andreassi, stellvertretender Polizeichef der G-8 Schutztruppe, Arnaldo Barbera, Chef der Antiterrorismusabteilung, und Francesco Colucci, Polizeichef von Genua. In einer Erklärung hieß es, sie würden auf "andere Posten" versetzt, über die keine näheren Angaben gemacht wurden.

Später forderte Berlusconi in einer vom Fernsehen übertragenen Rede die Opposition auf, seine Regierung "in einer gemeinsamen Front gegen den Terror" zu unterstützen.

Die Untersuchungen haben einen strikt begrenzten Auftrag. Es ist bereits erklärt worden, dass viele der beteiligten Polizisten nicht identifiziert werden können.

Diese weitgehend kosmetischen Maßnahmen haben nur wenig dazu beigetragen, den Ärger in der Öffentlichkeit über das gewaltsame Vorgehen der Polizei zu dämpfen. Sie zielen eindeutig auf politische Schadensbegrenzung ab, werden höchstens individuelle "Exzesse" feststellen und die Regierung von jeder Verantwortung freisprechen.

In der ersten parlamentarischen Untersuchung gab der Chef der Nationalen Polizei, De Gennaro, zu, dass es möglicherweise einige "exzessive Fälle von Gewaltanwendung" gegeben habe, aber er stellte sie als das Ergebnis individueller Irrtümer hin und nicht als bewusst geplant.

Es gibt aber Hinweise, dass es einen solchen Plan tatsächlich gegeben hat, und dass führende Mitglieder der Regierung Berlusconi direkt darin verwickelt sind.

Sowohl Berlusconi wie auch Fini, der stellvertretende Ministerpräsident und neofaschistische Führer der AN, besuchten Genua in der Vorbereitung auf den Gipfel. Fini prahlte damit, dass er persönlich letzte Hand an das Sicherheitskonzept gelegt habe, obwohl er qua Amt überhaupt nichts mit der Polizei zu tun hat. Im Senat beschuldigten Mitglieder der Opposition Fini, dessen AN ihre Wurzeln im faschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) hat, seine Anhänger bei der Polizei und den Sicherheitskräfte ermutigt zu haben, "Köpfe einzuschlagen".

Ihre Vorwürfe wurden von einem Artikel im Spiegel vom 6. August gestützt. Unter der Überschrift "Viva Pinochet" berichtet das Magazin: "An jenem Samstagnachmittag, als in Genua der Straßenkrieg tobte, saß eine kleine Gruppe Politiker in der Einsatzzentrale der Carabinieri, dem Forte San Giuliano: Parlamentarier der Alleanza Nazionale, angeführt von ihrem Vorsitzenden Gianfranco Fini - Berlusconis Stellvertreter, Italiens Vizepremier."

Die engen Beziehungen der Faschisten mit dem Sicherheitsapparat gehen auf die 60er Jahre zurück, als sie bei einer Terrorkampagne zusammenarbeiteten, die das Ziel hatte, den italienischen Staat zu destabilisieren und den Weg für einen Putsch zu bereiten. Zu der "Strategie der Spannungen" gehörte auch der Einsatz von Provokateuren und das Legen von Bomben, die beträchtliche Opfer kosteten und den Linken in die Schuhe geschoben wurden.

Vielfach ist die Befürchtung zu hören, dass diese Methoden wieder zum Leben erweckt werden. In den Wochen vor dem Gipfel wurden "Antiglobalisierungsextremisten" für Bombenanschläge in Mailand, Bologna, Treviso und Genua verantwortlich gemacht. Berlusconi behauptete, Todesdrohungen erhalten zu haben.

Besonders der "Schwarze Block", eine Gruppe von Anarchisten, erweckte während der Proteste Aufmerksamkeit. Es wird allgemein und mit einiger Berechtigung angenommen, dass der Schwarze Block stark vom Staat infiltriert ist und im Wesentlichen unter der Leitung des Polizei und der Sicherheitskräfte operierte, um Vorwände für ein Eingreifen gegen ansonsten friedliche Demonstranten zu liefern. "Der Schwarze Block war ein Instrument der Polizei, da gab es eine klare Strategie," sagte Luca Casarini, einer der Führer der Gruppe Tute Bianchi (Weiße Overalls), der Presse.

Etwa 35 der talentiertesten Regisseure Italiens, angeführt von dem Altmeister Francesco Maselli, waren in Genua, um die Proteste zu dokumentieren. Einige von ihnen sagten aus, Zeuge einer engen Zusammenarbeit zwischen der Polizei und zahlreichen Mitgliedern des Schwarzen Blocks geworden zu sein. Letztere wurden dabei beobachtet, wie sie nach Belieben Polizeistationen betraten und wieder verließen. David Ferrio, einer der Regisseure in der Stadt, nahm eine Szene auf, in der ein Protestler mit einem Taschentuch über dem Mund auf den ersten Blick die Polizei anzugreifen schien. Später filmte Ferrio die gleiche Person, die jetzt ein Polizeiabzeichen trug, wie sie einem Paar auf einem Moped Anweisungen erteilte.

Auch wird der Vorwurf erhoben, dass der Schwarze Block daran beteiligt war, die Bedingungen für die Polizeirazzia auf den Schulkomplex zu schaffen, der dem Sozialforum Genua als Hauptquartier diente. Das Wall Street Journal zitierte am 9. August den Bericht von Marta Vincenzi, der Gouverneurin der Provinz Genua. In dem Artikel behauptete Frau Vincenzi, dass 200 bis 300 Militante des Schwarzen Blocks am Abend des 19. Juli friedliche Demonstranten aus einer Sporthalle neben dem Martin Luther King Gymnasium vertrieben hätten. Dadurch wurden einige Demonstranten gezwungen, in den Komplex des Sozialforums Genua zu wechseln, wo sie dann später von der Polizei angegriffen wurden.

Siehe auch:
Politische Fragen, die der Gipfel in Genua aufgeworfen hat
(7. August 2001)
Globaler Wirtschaftsrückgang vertieft Gegensätze in Genua
( 27. Juli 2001)
G-8-Gipfel in Genua - Illusion und Wirklichkeit
( 24. Juli 2001)
Loading