Die Lage der Jugend im kapitalistischen Russland

Der enorme soziale Niedergang, der sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland entwickelt hat, wirkt sich in erschreckender Weise auf die Mehrheit der Bevölkerung aus. Mit Ausnahme einer äußerst dünnen Schicht von Privateigentümern und Staatsbeamten sind alle anderen gesellschaftlichen Schichten - Arbeiter, Angestellte, Angehörige der Intelligenz, Studenten, Rentner und die ländliche Bevölkerung - gezwungen, um ihr Überleben und im wahrsten Sinne des Wortes um ihr tägliches Brot zu kämpfen.

In den vergangenen zehn Jahren entwickelte sich Russland zu einem Land mit der höchsten sozialen Ungleichheit in der Welt. Nimmt man den Unterschied zwischen dem Einkommen der reichsten 20 Prozent und der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung als Maßstab, so belegt Russland den Angaben des Human Development Report zufolge den ersten Platz. In Russland verdient das reichste Fünftel der Bevölkerung 14,53 mal so viel wie das ärmste, während dieses Verhältnis in den USA 8,91, in Deutschland 5,76 und in Japan 4,31 beträgt.

Gleichzeitig belegt Russland einen der ersten Plätze in der Rangliste der ärmsten Länder Europas. Das mittlere Jahreseinkommen des ärmsten Fünftels der Russen beträgt 881 US-Dollar. In Estland beträgt es 1.191, in Polen 2.186, in Tschechien 4.426, in Frankreich 5.359 und in den Niederlanden 7.109 US-Dollar.

Selbst überzeugte Antikommunisten müssen jetzt zugeben, dass sich das Leben von Dutzenden Millionen Menschen in den letzten Jahren extrem verschlechtert hat. So schreibt Alexander Zipko, ein gewendeter ehemaliger stalinistischer Ideologe in der Literaturnaja Gaseta: "Wenn man mit seinem Gewissen im Reinen und bei klarem Verstand bleiben will, muss man zugeben, dass unsere antikommunistische Revolution zumindest bis zum heutigen Tage dem Volk wesentlich mehr reale Vorzüge genommen als gegeben hat, und dass sie eine Revolution der Minderheit auf Kosten der Mehrheit im Namen privater eigennütziger Interessen war. Unsere antisowjetische Revolution hat zu einer unglaublichen Zerstörung des gesellschaftlichen Lebens geführt ... Das uns verhasste kommunistische Regime war wesentlich humaner als das, was durch unsere Mithilfe auf dessen Ruinen geschaffen wurde."

In seiner deutlichsten Form zeigt sich der soziale Niedergang des postsowjetischen Russlands an der Lage der älteren Generationen. Diejenigen, die ihr ganzes Leben lang viel und schwer gearbeitet haben, verloren im Ergebnis der "Schocktherapie" und der Inflation all ihre Ersparnisse. Ihre Renten befinden sich - vor allem seit der Finanzkrise vom August 1998 - auf einem Niveau, das höchstens die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse sicherstellt.

Vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit wird der Lage der Jugend gewidmet. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man die Berichte der Medien verfolgt. Dabei wird offensichtlich unterstellt, dass sich junge Menschen besser an die neuen Marktbedingungen anpassen können und in der Lage sind, sich auszubilden und sich aus eigener Kraft eine Stellung in der Gesellschaft zu erarbeiten.

Die Wirklichkeit sieht allerdings weniger rosig aus. Eine der schreiendsten und vernichtendsten Tatsachen der heutigen russischen Wirklichkeit besteht darin, dass der größte Teil der Jugend - gegenwärtig und in absehbarer Zukunft - jeglicher Möglichkeit beraubt ist, eine qualitativ gute Ausbildung und danach eine vernünftig bezahlte Arbeit zu bekommen. Selbst die offizielle Kremlpropaganda verspricht für die nächsten 20 bis 30 Jahre keine wesentlichen Verbesserungen für Millionen einfache Menschen, d. h. für das Leben einer ganzen Generation.

In diesem Sinne sehen die Perspektiven der heutigen jüngeren Bewohner Russlands so düster aus, wie niemals zuvor in der gesamten Nachkriegsgeschichte. In ihrer Masse sind sie nicht nur jeglicher Möglichkeit beraubt, das moderne Konsumtionsniveau zu erreichen, das ihnen von der Werbung so nachdrücklich aufgedrängt wird, ihnen fehlt auch die Atmosphäre relativer Solidarität und des Gefühls kollektiver Gemeinsamkeit, die in der Sowjetunion bei allen Unzulänglichkeiten zum Leben der Mehrheit der Menschen gehörte.

Während die Rentnergeneration, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet hat, ein moralisches Recht empfindet, von der Gesellschaft eine würdige materielle Unterstützung zu erhalten, sehen sich Jugendliche, die gerade die Schule oder die Universität abgeschlossen haben, der Schrankenlosigkeit des Marktes und der sozialen Schutzlosigkeit allein gegenübergestellt. Sie sind gezwungen, ihr Leben unter den Bedingungen eines im vollen Sinne des Wortes darwinistischen Überlebenskampfes zu beginnen.

Diese schockierende gesellschaftliche Realität war anfangs noch durch die Anfang der 90er Jahre aufgekommenen Hoffnungen auf eine Erneuerung überdeckt. Der wirkliche Inhalt der sozialen Veränderungen war dem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht von Anfang an klar. Die Finanzkrise vom August 1998 hat einen Schlussstrich unter diese ursprüngliche Periode der Euphorie gezogen. Jetzt zeitigen die Folgen der zehnjährigen Durchführung kapitalistischer Reformen ihre ersten, wirklich bitteren und schockierenden Früchte.

Hier nur einige charakteristische Grundzüge des modernen russischen Lebens.

· In dem Land mit einer Bevölkerung von 145 Millionen gibt es zwei Millionen Obdachlose.

· Nicht weniger als 270.000 Mädchen und junge Frauen haben etwas mit der Prostitution zu tun. Diese Zahl wurden vom "Runden Tisch" vorgelegt, der Ende vergangenen Jahres in Saratow unter der Bezeichnung "Rechtliche, soziale und moralische Probleme der Prostitution" tagte. Laut den Angaben aus Saratow liegt das Alter der Prostituierten zwischen 18 und 25 Jahren. Die meisten kommen vom Lande. Die meisten davon sind russischer Nationalität, es gibt aber auch Kasachinnen, Tatarinnen, Georgierinnen und Frauen aus Aserbaidschan. 5 Prozent sind verheiratet und 7 Prozent haben Kinder. 6 Prozent haben eine höhere Ausbildung, 50 Prozent eine mittlere. ( Sewodnja, 3. Januar 2001)

· Den Angaben der Arbeitsbehörde zufolge arbeiten nur ungefähr 20 Prozent der Hochschulabgänger in ihrem Beruf. Für St. Petersburg beträgt diese Zahl sogar nur 15 Prozent.

Die Petersburger Studentenzeitung Gaudeamus widmete dieser Besonderheit einen Artikel, der zum Schluss kam, dass es zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildung kaum Berührungspunkte gibt. Im Laufe der 90er Jahre hatten Jura, Management und Ökonomie zu den populärsten Studiengängen gehört, nun gibt es ein Überangebot derartiger Spezialisten. "Jetzt stehen Jura und Ökonomie", schreibt Gaudeaumus, "auf einer so genannten ‚schwarzen Liste‘ der Ausbildungsrichtungen mit den geringsten Anforderungen. In dieser Liste sind ebenfalls Management, Buchhaltung, Finanzen und Controlling aufgeführt." Im Grunde bedeutet das, dass ein bedeutender Teil der Studienabgänger der letzten Jahre niemals in ihrem Beruf arbeiten wird.

Zur Zeit gibt es laut Gaudeaumus eine erhöhte Nachfrage nach Spezialisten in der Textil-, der Bau- und der Lebensmittelbranche sowie im Ingenieur- und technischen Bereich. Das ist aber weder mit einer grundlegenden Ausweitung des Arbeitsmarktes noch mit einer Erhöhung des Lohnniveaus verbunden. Geringfügige Verbesserungen in einigen Sektoren des Arbeitsmarktes können nicht das Beschäftigungsproblem der Jugend als Ganzer lösen.

Auch der Gang in die Selbständigkeit bietet keinen Ausweg. War es Anfang der 90er Jahre noch relativ einfach, eine neue "Firma" zu eröffnen, so hat die Zahl privater Unternehmen ungefähr in der Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem fällt ihre Anzahl unaufhörlich und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sich diese Tendenz verändert. Die fortschreitende Konzentration von Eigentum in den Händen einiger Weniger treibt den Niedergang der kleinen Privatunternehmen und Kleinbauern eher voran.

Die perspektivlose Lage der heutigen russischen Jugend führt zu einem Anwachsen der Unzufriedenheit und verschärft das Bedürfnisses nach grundlegenden "Veränderungen".

Angesichts des Fehlens jeder gesellschaftlichen Perspektive äußert sich diese Unzufriedenheit nicht selten in zerstörerischen, antisozialen und reaktionären Stimmungen. Soziologen weisen in erster Linie auf das Anwachsen von Aggressivität, Alkoholismus, Drogensucht und Kriminalität hin. Auch nationalistische oder sogar faschistische Demagogen machen sich die verzweifelte Lage der Jugend zunutze. Verschiedenen Angaben zufolge war ausgerechnet Schirinowski Anfang der 90er Jahre einer der bekanntesten Politiker unter Schülern der russischen Provinz.

In einer wesentlich ausformulierteren Form fanden ähnliche Stimmungen innerhalb der Jugend ihre Widerspiegelung in Filmen wie Brat-1und Brat-2[ Bruder-1 bzw.-2], in denen der junge Hauptheld bei seinem Zug durch Tschetschenien seine Feinde unbarmherzig "fertig macht", wo Juden und Ukrainer dämonisiert werden und die nationalistische Losung, "Man muss in Russland und nicht in Amerika leben", das wichtigste Leitmotiv ist.

Die Zeitung Nesawissimaja Gaseta(28. Juni 2001) weist allerdings darauf hin, dass vor allem das "junge Business" Träger der nationalistischen Stimmungen ist, der nationalistische Schwenk also insbesondere jene berührt, die selbständig unternehmerisch tätig sind, und nicht so sehr die Mehrheit. Im Ganzen sind die Stimmungen unter den Jugendlichen sehr instabil und können sich schnell ändern.

Siehe auch:
Der schreckliche Preis der kapitalistischen Restauration
(3. Januar 2001)
Soziale Krise in Russland nimmt afrikanische Ausmaße an
( 27. Oktober 1999)
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