Spinoza - neu betrachtet

Buchbesprechung

Israel, Jonathan I.: "Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750". Oxford University Press, 2001. ISBN 0-19-820608-9.

Es gehörte während der letzten Jahre schon beinahe zum guten Ton, negativ über die Aufklärung zu sprechen. So leugnen manche Autoren gar ihre Existenz, andere stellen sie als reaktionäre Entwicklung hin. Um so willkommener ist diese ernsthafte Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Sie begreift die Aufklärung als eine progressive Bewegung, die untrennbar mit dem Aufkommen des rationalen Denkens und den Prinzipien der Gleichheit und der Demokratie verknüpft ist.

Das neueste Buch von Jonathan Israel bildet einen großen und wichtigen Beitrag zur Ideengeschichte. Der Autor ist für eine solche Aufgabe hochqualifiziert. Seine vorangegangenen Arbeiten beinhalten unter anderen das Werk The Dutch Republic: Its Rise, Greatness, and Fall, 1477-1806(1). Er spannt darin einen großen zeitlichen Bogen aus der Perspektive Hollands, das sich zu jener frühen Phase der Aufklärung durch seine Dynamik auszeichnete. Wenn bereits The Dutch Republic durch seine enzyklopädisch breiten Kenntnisse bestach, so ist Radical Enlightment nicht weniger lehrreich.

In weiten Teilen ist das Buch ein Dialog mit dem belgischen Historiker Paul Hazard. Auch nach siebzig Jahren ist Hazards Buch The European Mind, 1680-1715eine der wenigen grundlegenden Studien geblieben, die sich mit der frühen Aufklärung befassen. Israel erweitert Hazards Konzeption einer Krise des europäischen Geisteslebens, die "zwar dem siebzehnten Jahrhundert entstammte, aber dennoch das gesamte achtzehnte Jahrhundert prägte". (2)

Israel setzt diese Krise mit einiger Berechtigung ein wenig früher als Hazard an. Letzterer datierte sie auf den Widerruf des Ediktes von Nantes 1685 (3), als viele der französischen Hugenotten nach Holland und England flohen, wo sie bei der Verbreitung der neuen, aus Frankreich stammenden Ideen eine große Rolle spielten. Israel jedoch konstatiert, dass in England und in der holländischen Republik die Herausforderung der alten Weltanschauung bereits auf die Mitte des 17. Jahrhundert datiert werden kann, genauer gesagt zwischen 1650 und 1680.

Israel stellt die These auf, dass die Aufklärung als internationales Phänomen statt als Zusammensetzung separater nationaler Strömungen verstanden werden muss. Er argumentiert, dass jene Republikaner, Materialisten und Atheisten, die von manchen Historikern unter dem Begriff "Radikale Aufklärung" subsumiert werden, keine Randfiguren gewesen seien, sondern im Gegenteil den unbestreitbaren Mittelpunkt der Entwicklung des modernen Denkens bildeten. Vor diesem Hintergrund misst er dem holländischen Materialisten Spinoza (1632-1677) weitaus mehr Bedeutung bei als üblich.

Spinoza erhält auf diese Weise seinen verdienten Stellenwert als bedingender geistiger Faktor für die Aufklärung, anstatt wie üblich als isolierte Gestalt zu erscheinen. Eine solche Neubewertung von Spinozas Einfluss folgt der vor kurzem erschienenen Biografie " Spinoza, A Life" von Stephen Nadler, die Ausdruck eines verstärkten Interesses an diesem während des letzten Jahrzehnts vernachlässigten Philosophen ist. (4) Nadlers Werk war die erste vollständige Biografie von Spinozas Leben. Er wertete mehr Archivquellen als üblich aus, um den Philosophen in seinem historischen Umfeld zu verstehen. So zeichnet sie zunächst ein Bild von Spinoza als Mitglied der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Holland. Nach seiner Exkommunikation gehörte er einer Gruppe von Freidenkern mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund an, die mit den führenden internationalen Wissenschaftlern und Mathematikern jener Zeit in Austausch stand.

Indem Israel den Einfluss des zwar zurückgezogen lebenden, aber keineswegs isolierten Philosophen auf diese historische Periode nachweist, steuert er einen wichtigen Beitrag zu der Geschichtsschreibung jener Epoche bei. Dabei verdeutlicht er, auf welche Weise Spinoza das aufklärerische Denken innerhalb Europas beeinflusste. Denn obwohl nur die radikalsten Denker seiner Zeit seinen Ideen zustimmten, so sahen sich doch auch die Konservativeren, die Spinozas Atheismus und Materialismus zurückwiesen, genötigt, ihm zumindest zu widersprechen.

Der englische Naturphilosoph und Chemiker Robert Boyle (1627-1691) diskutierte mit Henry Oldenburg, dem Sekretär der Royal Society, über Spinozas Thesen und verfasste mehrere Aufsätze zur Verteidigung von Wundern, der Wiederauferstehung und der göttlichen Schöpfung und Vorsehung. Pierre Bayle (1647-1706), der eine zentrale Rolle in der frühen Aufklärung spielte, setzte sich stark für die Verbreitung von Spinozas Philosophie ein.

Vielleicht unterhielt der englische Philosoph John Locke (1632-1704) zur Zeit seines Exils in Rotterdam Kontakte zu den Nachfolgern Spinozas. Auf jeden Fall besaß Locke alle Bücher Spinozas, obwohl diese verboten waren. Bereits in den 1690-er Jahren standen die Schriften Spinozas in jedem Buchladen zum Verkauf, und selbst polemische Angriffe auf ihn trugen nur zu ihrer weiteren Verbreitung bei, anstatt diese einzudämmen.

Besonders ist Israel die Darstellung der Rolle und des Einflusses der Zensur und des Ausmaßes der Verfügbarkeit verbotener Bücher, für die Holland ein wichtiger Umschlagort war, gelungen. Selbst in England, wo die Zensur vergleichsweise schwach war, übte das Blasphemie-Gesetz von 1698 einen repressiven Einfluss auf die Fortentwicklung der Geisteswissenschaften aus. (5) Darunter fielen nicht nur offene atheistische Angriffe auf die Religion, sondern sogar mancher Verteidigungsversuch des christlichen Glaubens.

Dagegen war die Zensur in Frankreich in sehr viel höherem Maße eine offene Bedrohung. Trotzdem sickerte auch dort verbotene Literatur Schrift für Schrift in das Land. So schmuggelte der Physiker Christiaan Huygens (1629-1695) Kopien der Werke Spinozas verborgen in dem Gepäck eines holländischen Botschafters nach Frankreich. 1705 entdeckte die Pariser Polizei in einer Reihe aristokratischer Stadthäuser Depots, in denen verbotene Bücher, die aus Holland stammten, gleich kistenweise aufbewahrt wurden. Gebildete Bedienstete in aristokratischen Haushalten scheinen bei dem geheimen Buchhandel eine große Rolle gespielt zu haben.

Israel widerlegt auch die These des Historikers Robert Darnton, dass der größte Teil der verbotenen Literatur erotischer Natur gewesen sei. Darnton zufolge war der Polizei im Frankreich Louis XIVen besonders am Verbot solcher Literatur gelegen. Die Schriften ernsthafter Philosophen, die das Regime nicht als Bedrohung aufgefasst habe, seien hingegen nicht zensiert worden. Israel weist demgegenüber nach, dass neben den Erotika auch die Werke von Bayle, Spinoza und anderen Philosophen illegal vertrieben wurden.

Spinoza sei "das philosophischen Schreckgespenst der frühen Aufklärung in Europa" gewesen und wurde zum "Ausgangspunkt für eine systematische Neubestimmung des Menschen, der Astronomie und der Evolutionslehre, sowie von Politik, der gesellschaftlichen Hierarchie, der Sexualität und der Moral". Nach Spinozas Theorie besteht das Universum aus einem einzigen Stoff, dem das Denken und die "Ausdehnung" (ein Begriff, der durch das wissenschaftliche Verständnis jener Tage über die geometrischen Eigenschaften der Dinge herrührt) als Attribute zugeordnet sind, und so schuf Spinoza das Fundament für den Materialismus von La Mettrie (1709-1751), Diderot (1713-1771), Helvétius (1715-1771) und d'Holbach (1723-1789).

Israel entwickelt ein klares, präzises und der Philosophie Spinozas gewogenes Porträt. Er legt dar, das es Spinoza als Hauptverdienst anzurechnen ist, dass er derjenige war, der die Vielzahl der existierenden Strömungen des atheistischen Denkens, die ihre Ursprünge teils in antiken oder orientalischen Traditionen hatten, teils in der modernen Philosophie wurzelten, zu einem kohärenten System bündelte. Obwohl in Spinozas Schriften noch von "Gott" die Rede ist, stimmen in seiner Philosophie das göttliche Prinzip und die Natur überein. Er war auf keinen Fall ein Pantheist, der Gott als spirituelle Kraft begriff, die der Natur Leben einhauchte.

Spinoza entwickelte sein Gedankengut in der Auseinandersetzung mit Descartes (1596-1650). Descartes Ausgangspunkt ist das Denken, verkörpert in seinem wohl bekanntesten Ausspruch "Ich denke, also bin ich". Im Gegensatz dazu setzt Spinoza bei der Substanz an. Er erklärt, dass alles, was existiert, nur unbegrenzte Stofflichkeit ist; dass Gott nicht als höchste Instanz über die Welt existiert; dass Stoff aus Stoff entsteht; dass es keine ideelle Welt des Geistes oder des Denkens gibt; dass selbst Gott Materie ist. Spinozas Kritiker erklärten dies zur "Grundlage seiner gesamten ehrfurchtslosen Doktrin".

Spinozas System ist deterministisch, reguliert durch die Gesetze der Natur. Die Menschen hielten sich selbst für frei, so Spinoza, da sie sich ihrer Wünsche und Verlangen bewusst seien, "doch nicht die Gründe, die sie etwas wünschen und verlangen lassen" wahrnehmen. Die Menschen stellten sich ein göttliches Wesen vor, das existiere, um die Welt nach ihren Bedürfnissen zu lenken, das die Frommen belohne und die Ungläubigen bestrafe. "Jeder, der danach strebt, die natürlichen Gründe für etwas aufzudecken, das die meisten Menschen für übernatürlich halten, der,natürliche' Dinge verstehen möchte statt ihnen wie ein Dummkopf gegenüber zu stehen, wird allgemein als Häretiker verdammt."

Israel anerkennt, dass Spinozas Konzeption: "Die Ordnung und der Zusammenhang der Ideen stimmt mit der Ordnung und dem Zusammenhang der Gegenstände überein" eine "komplexe und herausfordernde These ist, die der moderne Leser in Frage stellen wird". Es ist dem Autor anzurechnen, dass er nicht zögert, diesen Aspekt von Spinozas Philosophie in den Mittelpunkt zu rücken, da er zentral für ein materialistisches Verständnis der Welt ist, obwohl gerade darüber höchst kontrovers diskutiert wird.

Spinoza wies Descartes Dualismus, die Trennung von Geist und Körper, mit Nachdruck zurück. Das Denken ist für Spinoza ein Attribut der Materie. Das menschliche Denken ist genau wie die Eigenschaften des menschlichen Körpers eine Kategorie der Substanz. Das Denken ist eine Entsprechung der Phänomene der physischen Welt. "Jene zwei Stränge der Phänomene sind nur der Wahrnehmung nach getrennt, tatsächlich jedoch nicht", wie Israel erläutert. Sie sind lediglich "verschiedene Aspekte ein und derselben Realität".

Freiheit und Gleichheit

Eine der großen Stärken dieses Buches ist es, dass der Autor hervorhebt, wie sich die fortschrittlichen Ansätze Spinozas mit Begriffen wie politischer Freiheit und sozialer Gleichheit verbanden. Der englische Philosoph Hobbes (1588-1679) entwickelte zwar eine materialistische Philosophie, doch blieb er in seinen Anschauungen ein treuer Anhänger des Absolutismus. Im Gegensatz dazu setzte Spinoza Vernunft und Freiheit gleich, befürwortete eine Regierung auf der Grundlage des Mehrheitsbeschlusses und gab der demokratischen Republik den Vorzug vor der Monarchie. Spinoza entwickelte die Vision, dass eine solche Regierungsform die Freiheit der Gedanken und der Rede zuließe und der Tatsache Rechnung tragen würde, dass die natürliche Gleichheit aller Menschen sich in ihrem politischen System widerspiegeln müsse.

Nadler spricht in seiner Biografie für eine persönliche Beziehung zwischen Spinoza und Jan de Witt, der die Holländische Republik regierte. Er merkt an, dass de Witts Gegenspieler diesen des Schutzes Spinozas anklagten und dass Spinoza im Gegenzug gegen die Ermordung de Witts während eines anti-republikanischen Aufruhrs im Jahr 1672 protestieren wollte. Der Tod de Witts, so Nadler, beendete schlagartig die tolerante politische Atmosphäre, die es Spinoza gestattet hatte seine Ideen zu entwickeln.

Israel zweifelt zwar jede persönliche Beziehung zwischen de Witt und Spinoza an, bestätigt aber, dass Spinoza der zeitgenössischen Politik keineswegs gleichgültig gegenüberstand. Nach dem Sturz des Regimes von de Witt hatte Spinoza mit einem repressiveren und komplizierteren politischen Klima zu kämpfen, denn seine Theorie, dass es weder ein göttliches Strafen der Ungläubigen noch eine jenseitige Entlohnung für die Frommen gebe, stand im Verdacht umstürzlerisch zu sein. Die holländischen Behörden überwachten Spinoza in den Jahren vor seinem Tod 1677 sehr sorgfältig, so dass "der Philosoph die letzten achtzehn Monate seines Leben quasi unter Hausarrest verbrachte".

Die repressive Atmosphäre des späten 17. Jahrhundert drängte sein Gedankengut ins gesellschaftliche Abseits und in die Illegalität, doch aus dem vorliegenden Buch wird deutlich, dass der Autor jenen Aufbruch im Denken, an dem Spinoza Anteil hatte, als direkten ideologischen Vorläufer der französischen Revolution von 1789 wertet. Die Aufklärung war eine "Revolution des Geistes, die sich ausdehnte und Eingang in breite Gesellschaftsschichten fand, noch lange bevor die Revolution an sich losbrach".

Doch das Buch weist auch zwei ernste Mängel auf. Zum Ersten weigert sich Israel, John Locke den verdienten Platz in der Aufklärung zuzugestehen. Seiner Ansicht nach war Locke ein Vertreter der gemäßigten Aufklärung, dessen Ideen gegen Spinozas und die Theorien anderer radikalerer Denker ausgespielt wurden. Dies ist eine deutliche Unterschätzung des Beitrages, den Locke zu der Entwicklung des materialistischen Denkens beisteuerte. Locke hielt fest, dass dem Menschen keine übergeordnete Idee immanent sei, sondern dass er alle seine Vorstellungen von der sinnlichen Wahrnehmung herleite. Der Sensualismus John Lockes trug in ebenso hohem Maße zu den materialistischen Schlussfolgerungen der französischen Philosophen des 18. Jahrhundert bei, wie es die Idee Spinozas taten. Spinoza den Vorzug gegenüber Locke zu geben ist ein einseitiger Blickwinkel.

Indem Israel Spinoza und Locke gegeneinander stellt, redet er unnötigerweise jenen das Wort, die die progressive historische Rolle der Aufklärung leugnen. Wie bereits der Titel des Buches vorwegnimmt, teilt Israel die Konzeption einer radikalen Aufklärung, die Personen wie Spinoza umfasst, und einer gemäßigten, allgemeineren Aufklärung, repräsentiert durch John Locke und Sir Isaac Newton (1642-1727).

Eine solche Teilung geht auf Historiker wie Margaret Jacob zurück. Diese betrachteten die radikale Aufklärung als das Denken von "intellektuellen Oppositionellen, Männern und vielleicht einigen wenigen Frauen, die zumeist Exilanten waren, unfähig sich den großen Philosophen wie Voltaire und d´Alembert, oder liberalen Anhängern der Religion wie den Newtonianern in England anzuschließen, die auf die aufgeklärte Monarchie vertrauten." (6)

Spinoza und einige weitere, sekundäre Persönlichkeiten, die üblicherweise nicht in den Geschichtsbüchern erscheinen, werden hier als Ausnahmefiguren dargestellt. Dieser Ansatz teilt im Endeffekt die Vorbehalte der postmodernen Theoretiker gegen die Aufklärung als Ganze. Israel erkennt zwar die Unangemessenheit einer solchen Betrachtung, da durch sie Spinoza ins Abseits gedrängt wird. Ihm ist der zentrale Stellenwert, den Spinoza innerhalb des modernen europäischen Denkens einnimmt, bewusst, doch trotzdem schließt er sich der künstlichen Scheidung der Aufklärung in radikal und gemäßigt an. Eine solche Differenzierung ist unhistorisch und streitet ab, dass eben auch die herausragendsten Denker dieser Periode Zeitgenossen waren. Der historische Kontext wird außer Acht gelassen.

Die Unterscheidung zwischen radikalen und gemäßigten Aufklärern fällt selten leicht. Betrachten wir beispielsweise John Locke, den man als politisch konservativ bezeichnen könnte, weil er den Kompromiss von 1688 akzeptierte, der den holländischen Monarchen Wilhelm von Oranien auf den Thron hob. Dennoch wohnt seinen politischen Theorien ein revolutionäres Moment inne. Er verteidigte ausdrücklich das Recht, einer ungerechten Regierung Widerstand zu leisten, und trat unnachgiebig für Gleichheit ein.

Und nicht nur im Reich des Geistes sprengt Locke jeden Versuch, ihn durch eine simplifizierende Kategorisierung als Konservativen aufzufassen. Locke verbrachte lange Zeit seines Lebens damit, politisch zu konspirieren, und er setzte sich aktiv für den Sturz der Regierung Charles II in England ein. Er flüchtete, als diese Pläne scheiterten, nach Holland und wurde dort durch englische Spione überwacht. Handwerker, Theoretiker der Gleichheit, ehemalige Soldaten Cromwells und Republikaner waren seine politischen Gesinnungsgenossen. Wie radikal die politischen Überzeugungen dieser Menschen auch immer gewesen sein mögen, nahmen doch diejenigen, die wie Locke überlebten, Stellungen unter Wilhelm von Oranien an, nachdem die revolutionäre Welle der Jahrhundertmitte verebbt war.

Locke verkörperte jene Klasse, die sich nach 40 von Unruhe und Turbulenzen geprägten Jahren nach Frieden und Stabilität sehnte. Trotzdem trug er zu den folgenden revolutionären Bewegungen bei, indem er die Grundlagen der englischen Revolution in einer Art und Weise kodifizierte, dass sie zum Grundbestandteil der politischen Überzeugungen von Menschen wie Thomas Paine und Thomas Jefferson wurde. Thomas Paine studierte Locke intensiv für sein Werk "Rights of Men", und Jefferson flocht in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ganze Sätze von Locke ein.

Schwerwiegender ist der zweite Mangel des Werks. Israel erwähnt im ganzen Buch mit keinem Wort den Marxismus, auch nicht an Stellen, an denen es den Sachzusammenhang verständlicher machen würde. Zwar mag Spinoza zwei Jahrhunderte vor Marx gestorben sein, doch man kann seinen Ideen kaum gerecht werden, wenn man die enge Verbindung außer Acht läßt, die zweifelsohne durch Spinozas materialistische Perspektive mit dem Marxismus besteht.

Aus diesem Grunde ist das Denken Spinozas von außerordentlicher Aktualität. Er war nicht nur zu seiner Zeit ein aufrüttelnder, wacher Geist, auch für das 20. Jahrhundert besitzt seine Philosophie solche Qualitäten. Der Philosoph und Pazifist Bertrand Russell (1872-1970) hielt es für nötig, Spinoza zu diskreditieren. Er erklärte, dass seine (Spinozas) Philosophie eine "altmodische" Sicht der Dinge darstelle, "die weder die Wissenschaft noch die Philosophie heutzutage akzeptieren kann". (7) Als der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1857-1932) versuchte den Marxismus zu untergraben, griff er Spinozas materialistisches Verständnis der Widerspiegelung der äußeren Welt im menschlichen Denken an.

Der russische Marxist G. W. Plechanow (1857- !918) verteidigte die Tradition des historischen Materialismus gegenüber Bernstein und erkannte an, dass der Marxismus tief in der Schuld von Spinoza stünde. "Der Materialismus von heute ist eigentlich ein Spinozismus, der sich seiner selbst bewusst geworden ist." (8) Er erinnerte sich, wie er 1889 Friedrich Engels in London besuchte und mit ihm über Spinozas Philosophie diskutierte. Plechanow fragte: ",Also denken Sie,...dass der alte Spinoza recht hatte, als er sagte, das Denken und die Ausdehnung stellten nur zwei Attribute ein und derselben Materie dar?' Und Engels antwortete:,Natürlich, der alte Spinoza hatte Recht.'" (9)

Israel schreibt über Spinozas Konzeption, dass sie Form, Ordnung und Einheitlichkeit der gesamten Tradition des radikalen Denkens" beflügelt. Diese Tradition reißt aber für den Autor mit der französischen Revolution ab. Er verfolgt sie nicht bis zum Marxismus weiter. Indem er dadurch die Tragweite seiner Argumentation sehr einschränkt, passt er sich seinem akademischen Publikum an, das dem Marxismus feindlich gesonnen ist und jede ernsthafte Diskussion über ihn von sich weist.

Anmerkungen

1) Jonathan Israel, The Dutch Republic: Its Rise, Greatness, and Fall, 1477- 1806, Oxford Press, 1995.

2) Paul Hazard, The European Mind, 1680-1715, Fordham University Press, 1990.

3) Das Edikt von Nantes, das den achten frz. Glaubenskrieg 1598 beendete, garantierte den frz. Protestanten, den Hugenotten, Glaubensfreiheit und das Recht zur Ausübung ihrer Religion. Als Louis XIV es aufhob, mussten viele von ihnen das Land verlassen.

4) Stephen Nadler, Spinoza, a Life, Cambridge University Press, 1999.

5) Während der englischen Revolution in den 1640ern war die Zensur erheblich gelockert worden. Das Blasphemie-Gesetz von 1698 gehörte einer Reihe von Maßnahmen an, die gegen religiöses Abweichen, Atheismus, Materialismus und revolutionäre Ideen eingesetzt wurden.

6) Margaret Jacob, The Radical Enlightment: Pantheists, Freemasons and Republicans, Allen and Unwin, 1981.

7) E. V. Ilyenkov, Dialectical Logic, Essays on its History and Theory, Progress Publishers, 1977, S. 42.

8) G. V. Plekhanov, Selected Philosophical Works, Vol. II, Progress Publishers, S. 320.

9) Ebd. S. 339.

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