Ein unheilbar Kranker in einer kranken Welt?

Das Filmdebüt "England!" von Achim von Borries

"England!", der Abschlussfilm des Absolventen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Achim von Borries wurde auf mehreren Festivals mit Preisen bedacht, unter anderem mit dem Publikumspreis auf dem letzten Filmfestival in Cottbus. Die Berliner Zeitung erklärte unter der Überschrift "Hoffnung für den deutschen Film" den Streifen zum "bemerkenswertesten Film diesen Jahres".

Erzählt wird die Geschichte des jungen Ukrainers Valéri, der seit seiner Jugendzeit davon träumt mit dem Freund nach England zu reisen. England ist für beide Synonym für Freiheit und Glück, das Geburtsland der Beatles, eine phantastische Insel, deren Einwohner merkwürdigerweise nicht schwimmen können. Das sind zumindest die Vorstellungen der beiden, die aus der tiefsten ukrainischen Provinz stammen.

Erst die Auflösung der Sowjetunion schafft die Möglichkeit, in das ersehnte Traumland aufzubrechen. Valéri fährt mit dem Bus durch Polen bis an die Oder, wo er mit der Luftmatratze über die Grenze nach Deutschland setzt. Illegal in Berlin, droht er zu stranden, wie schon vorher sein Freund, den er hier abholen will, aber nur einen Grabstein vorfindet. Wie er ist auch Valéri 1986 bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl verstrahlt worden.

Der Ärztin in Kiew, die ihn befragt hatte, was er sich noch vom Leben verspreche, hatte Valéri erklärt: "Die Sonne scheint, die Vögel singen, das Leben ist schön und aufregend. Wieviel mehr könnte ich erhoffen?" Er ist ein schmächtiger Mensch, der im Alltag eine liebenswürdige Naivität an den Tag legt, die entwaffnend ist. Er sei "ein Guter" sagt Maria, die ihn liebt, aber letztlich bei ihrem Mann Shurik bleibt, der mit beiden Beinen fest im Leben steht.

Valéri wandelt wie der "kleine Prinz" oder ein gutmütiger Troll durch die Welt, in der, wie Pawel der Maler erklärt, "jeder nur seinen Kram macht", und wo die Arbeitsämter die "Kathedralen der Neuzeit" sind.

Im Bus kommt Valéri mit einem jungen Mädchen ins Gespräch, das auch nach Deutschland will. Sie zeigt ihm die Heiratsannonce eines älteren Herrn, Computerspezialist aus Hannover. "Ich hasse Computer", erklärt sie. Valéri ist entsetzt, dass sie diesen alten Mann ernsthaft heiraten will, weil sie ihre ganze Zukunft dadurch zerstören werde. Er versucht sie umzustimmen und schenkt ihr zum Schluss seinen Talisman. Sein eigener Weg ist durch die Krankheit vorgezeichnet. Später sehen sich beide zufällig im nächtlichen Berlin wieder. Sie hat ihre Entscheidung geändert. Der junge Mann an ihrer Seite scheint genauso verliebt und glücklich zu sein wie sie.

Valéris Gabe, in anderen Menschen das Bewusstsein der eigenen Würde wieder zu wecken, verstärkt ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben. Das ist selbst bei Shurik zu spüren, der seinem kleinen Sohn auf der einen Seite ein ganz normaler Vater sein will, auf der anderen Seite den aus der ehemaligen Sowjetunion neu nach Berlin Kommenden Arbeit beschafft, indem er sie in seine nicht immer sauberen Geschäfte einspannt, stets eine Waffe bei sich tragend.

Auf die Welt derjenigen, die sich wie Pawel und Maria resigniert an gesellschaftliche Realitäten angepasst haben, obwohl sie es im Grund des Herzens nicht wollen, wirkt Valéri wie eine zerbrechliche Kostbarkeit. Als mit Fortschreiten der Krankheit dessen Kraft versiegt, ist es mehr als ein Freundschaftsdienst von Pawel, mit ihm in Richtung England zu fahren. Erreichen tun sie das Ziel nicht. Valéri stirbt in Dover.

Das zärtliche Gefühl für diesen außergewöhnlichen Menschen überträgt sich auf den Zuschauer. Die Zeitschrift Cinema merkte an, Valéri könnte dem Werk Dostojewskis entsprungen sein. Es lohnt sich, diesem Gedanken ein wenig nachzugehen.

Valéri hat etwas von Fürst Myschkin aus dem Roman "Der Idiot". Als dieser junge russische Fürst des 19. Jahrhunderts nach einem Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz, voll von "Französischen Ideen" in das zaristische Russland zurückkehrt, wird ihm von Seiten der intriganten, von Demoralisierung und moralischer Verwahrlosung gezeichneten Petersburger Gesellschaft zunächst eine gewisse verwunderte Achtung und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Sein Auftreten rührt an vergessen geglaubte Gefühle und Ideale der Jugendzeit und löst eine Art nostalgischer Sentimentalität aus. Schließlich überwiegt jedoch, was längst hinter seinem Rücken geflüstert wird: Dieser Heilige sei lediglich ein weltfremder Narr, ein "Idiot".

In der Geschichte vom "Traum eines lächerlichen Menschen" beabsichtigt die Hauptfigur, der Welt überdrüssig und voller Ekel über seine eigene Person, sich zu erschießen. Ein Traum verhindert dieses Vorhaben. Bei einem nächtlichen Flug durch den Weltraum, begegnet dem jungen Mann eine menschliche Gesellschaft, die von allgemeiner Harmonie und Liebe regiert wird und deren Existenz er, wie er ihnen gegenüber ergriffen erklärt, in seinem Herzen schon immer gefühlt habe.

Dostojewskis Hauptwirkungsfeld lag in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in einer Zeit, als die Euphorie breiter Bevölkerungsschichten über die bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa und ihrer propagierten humanistischen Ideen in tiefe Enttäuschung umgeschlagen war. Der alten Unterdrückung durch den Adel folgte die neue durch die kapitalkräftigen bürgerlichen Eliten in Gemeinschaft mit dem Adel. Nicht wenige Intellektuelle kamen zu der Auffassung, dass alle Absichten, die Welt zu verbessern, stets scheitern müssten, da der Mensch von Natur aus egoistisch sei. Das einzige, was sensible Menschen tun könnten, wäre, das Leiden unter diesem Zustand zu kultivieren. Das Motiv des Leidens durchzog die Kunst der Romantik ebenso wie das Motiv der "Erlösung" durch eine reine Liebe.

Es scheint, dass "England" und einige andere Filme der jüngeren Zeit, beispielsweise Lars von Triers "Dancer in the Dark", auf solche romantischen Motive zurückgreifen. Die heutige Gegenwart ist ebenfalls geprägt von breiter Enttäuschung und Desillusionierung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion vor zehn Jahren, die Demontage der sozialen Marktwirtschaft zugunsten hemmungsloser globaler Spekulation und die immer heftigeren Kriege der letzten Jahre scheinen für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung die Bestätigung dafür zu liefern, dass der Mensch trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt, organisch unfähig für ein harmonisches Zusammenleben sei.

Bleibt dem Künstler, der nicht bereit ist, denen zu folgen, die die Wahrheit über das Wesen des Menschen begeistert aus den elementaren Trieben der Tierwelt ableiten, nichts weiter, als einem allgemeinen Weltschmerz zu huldigen, versüßt durch einem kleinen Schuss Religion?

Ein nochmaliger Rückblick in die Zeit Dostojewskis macht sichtbar, dass diese Form des intellektuellen Katzenjammers nicht die damals allgemein verbreitete geistige Tendenz in Europa war. Es war auch die Zeit eines Ferdinand Lassalle und der viel beachteten utopisch-sozialistischen Ideen von Saint-Simon, Fourier und Owen. Parallel dazu gewann die auf dem historischen Materialismus beruhende Methode der Gesellschaftsanalyse von Marx und Engels an Anziehungskraft. Unter ihrem Einfluss wuchs unter denjenigen, die nicht länger an Utopien und die menschliche Vernunft an sich glauben mochten, die Erkenntnis, dass die Grundlage für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft und der Schaffung eines "neuen Menschen" im Aufbau einer neuen revolutionären Bewegung besteht, die bewusst auf einer rationalen Erklärung der kapitalistischen Widersprüche fußt.

Dostojewski selbst, dessen utopisch-sozialistische Ideen ihn später zurück zur Religion führten, schrieb 1861:

"Man kann sich zum vergangenen Leben und zu den vergangenen Idealen nicht naiv, sondern geschichtlich einstellen. Auf der Suche nach Schönheit hat der Mensch gelebt und sich gequält. Wenn wir sein vergangenes Ideal verstehen und das, was ihn dieses Ideal gekostet hat, so... werden wir einer außerordentlichen Achtung für die ganze Menschheit Ausdruck geben, werden uns durch das Mitgefühl für sie veredeln, werden begreifen, dass dieses Mitgefühl und Verständnis für das Vergangene ja gerade uns - und gerade uns - das Vorhandensein von Humanität, von Lebenskraft und Fähigkeit zu Fortschritt und Entwicklung garantiert."

Dieser sehr genaue Beobachter seiner Zeit sezierte das Milieu seiner Figuren, ihre Beziehungen zueinander, die komplizierten Verästelungen ihrer Psyche, ihre inneren Kämpfe, die ständige innere Hin- und Hergerissenheit der Charaktere. Das macht die Figuren bis heute so plastisch, glaubhaft und aktuell. Das Hauptgewicht in Achim von Borries Film beruht hingegen auf einem Humanismus, der sich aus naiver Traumhaftigkeit speist. Die Figuren wirken skizzenhaft, die Brüche in ihren Charakteren mechanisch. Im Vordergrund steht eine kindliche Lichtgestalt.

Der Film deutet nur an, dass in dieser eindimensionalen Heiligenfigur etwas bohrt, was mindestens genauso schmerzt wie die unmittelbare Krankheit. Unter der Hinterlassenschaft des verstorbenen Freundes findet Valéri alte sowjetische Zeitungsartikel, in denen die Reaktorkatastrophe verharmlost und gleichzeitig versichert wird, dass die Partei "Tag und Nacht" im Einsatz sei.

Valéris mit Sicherheit komplexer Charakter bleibt dem Zuschauer verschlossen. Alles, was seine Existenz als fellbemütztes, koboldhaftes Fabelwesen stören könnte, wird aus dem Film verdrängt. Valéri leidet still und unauffällig, solange er kann, dabei lächelnd. Schließlich weist die Kamera zunehmend auf die vom Nasenbluten verschmierten Kissen. Zum Schluss bricht aus Valéri eine Schroffheit heraus, die stark aufgesetzt wirkt, weil bis hierhin keine innere Entwicklung in der Figur sichtbar gewesen war.

Die diffuse melancholische Aura, die Valéri trotz seines freundlichen Optimismus immer umgibt, ist wesentliches Element des Films. Sie wirkt weltumspannend. Ist nicht auch die Welt unheilbar krank? Sequenzen, in denen sich Valéri an die Jugendzeit mit den Freunden zurückerinnert, erstrahlen dagegen in einem nostalgisch verklärenden goldgelben Licht. Die russische folkrockhafte Filmmusik weckt Assoziationen an die 70er Jahre. War die Zeit besser, wo man noch kindlich unschuldig dachte, in Unwissenheit gehalten und den Einflüssen des Westens entzogen war?

Die Festivalerfolge des Films, von dem der junge Regisseur zunächst befürchtet hatte, das Publikum würde ihn eher langweilig finden, weisen auf ein Bedürfnis nach tiefen, aufrichtigen Gefühlen jenseits der Heuchelei, Korruptheit und Verlogenheit, die gegenwärtig das öffentliche Leben dominieren. Valéri ist jener Zynismus, mit dem Teile der intellektuellen Mittelschichten heute so organisch verwachsen sind, völlig fremd.

Leider zeigt sich der Film unfähig, die unbestimmte Sehnsucht des Publikums nach sozialer Wärme und Harmonie auf eine höhere, bewusstere Ebene zu lenken. Die Erscheinung des anrührenden Valéri, der offenbar zu gut für diese Welt ist, kommt so auch dem Bedürfnis einer neben dem Zynismus ebenfalls verbreiteten Kultur des Opportunismus entgegen, wo das Ritual des an der Welt verzweifelnden Individuums in einer Atmosphäre demonstrativ zur Schau gestellter Betroffenheit zelebriert und genossen wird und der Traum von "England" mit der festen Absicht verbunden ist, dort niemals anzukommen.

Siehe auch:
Lars von Triers "Dancer in the dark"
Wenn man sie nicht sieht - dann bleibt die Welt ein wunderbarer Ort

(26. Oktober 2000)
Loading