Die New York Times und der Fall John Walker

Die Herausgeber der New York Times haben im Fall des zwanzigjährigen US-Bürgers John Walker Lindh, der in Afghanistan amerikanischen Einheiten als Mitglied der Taliban in die Hände fiel, ihren Zynismus und ihre Unmenschlichkeit offenbart.

Am 21. Dezember erklärte die Times in einem Editorial ihr Einverständnis mit der Entscheidung des Justizministeriums, Walker nicht des Verrats, sondern der "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" anzuklagen, einem Verbrechen, das mit lebenslanger Haft bedroht ist. Das "klingt vernünftig", erklärt die Stimme des amerikanischen Liberalismus. (Allerdings bleibt festzuhalten, dass Präsident Bush Walker am selben Tag auf einer Pressekonferenz als al-Qaida Kämpfer bezeichnete und eine Anklage wegen Hochverrats nicht ausschließen wollte.)

Als erstes sollte man den Zeitpunkt beachten, zu dem das Editorial der Times erschien. Walker wurde Anfang Dezember in Masar-i-Scharif festgenommen. Daraufhin wurde er von CIA-Agenten verhört. Auf dem Videoband, das von dieser Episode gemacht wurde, ist zu sehen, wie er beschimpft und mit dem Tode bedroht wurde. Walker überlebte das anschließende Massaker, das die Nordallianz und US-Truppen in der Festung Kala-i-Dschanghi anrichteten; er musste während dieser Zeit 20 Stunden lang in einem Keller in eisigem Wasser stehen. Das Video des Interviews, das CNN mit ihm führte, zeigt einen verdreckten, verwundeten, scheinbar halbtoten jungen Mann.

Walker wurde dann auf ein amerikanisches Kriegsschiff, die USS Pelilieu im Persischen Golf vor der Küste Pakistans geschafft, wo er seit über zwei Wochen in Isolationshaft gehalten wird. Die US-Behörden haben dem von Walkers Eltern engagierten Anwalt James Brosnahan aus San Francisco nicht erlaubt, den jungen Mann zu sehen. Brosnahan hat in der Woche vor Weihnachten eine kurze Erklärung herausgegeben, in der er gegen die Entscheidung der amerikanischen Regierung protestierte, die Walkers Eltern die Erlaubnis verweigerten, ihren Sohn zu besuchen. Er vertrat den Standpunkt, dass Walker das Recht auf sofortige anwaltliche Vertretung habe. "Er befindet sich jetzt schon seit 16 Tagen in Haft und soll von mehreren Agenten der Regierung ohne anwaltlichen Beistand ununterbrochen verhört worden sein; auch mit seiner Familie wurde ihm jeder Kontakt verwehrt," sagte Brosnahan.

Aber die Times ist nicht an Walkers demokratischen Rechten interessiert, sondern beteiligt sich an der Vergiftung der öffentlichen Meinung gegen Walker, obwohl fast nichts über seinen Fall bekannt ist und ihm nichts nachgewiesen worden ist. Stattdessen wurde die gesamte schwerbewaffnete Staatsgewalt auf martialische Weise gegen ihn aufgeboten - gegen einen Zwanzigjährigen, der Dinge gesehen hat, die kein Zwanzigjähriger je sehen sollte. Die "Liberalen" der Times legen hier eine erschreckende Härte an den Tag.

Die Bush-Regierung hat echte Probleme, was sie Walker eigentlich vorwerfen soll. Da bewegt sie sich auf ausgesprochen unsicherem Gelände. Auf welcher juristischen Grundlage kann er wegen Verrats angeklagt werden? Weder war Walker in die Anschläge des 11. September verstrickt, noch war er in irgendeiner Weise an den Entscheidungen des Taliban-Regimes beteiligt. Er ging im vergangenen Mai nach Afghanistan, als die USA sich nicht im Krieg mit den Taliban befanden. Der Kongress hat auch danach zu keinem Zeitpunkt über eine Kriegserklärung abgestimmt. Walker hat nicht gegen die USA zu den Waffen gegriffen, sondern die USA haben die Waffen gegen Afghanistan erhoben, sie haben es bombardiert und sind in das Land eingedrungen.

Was die "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" angeht, so sollte sich die Times lieber weniger weit weg umschauen. Erinnern wir uns noch einmal daran, dass das Taliban-Regime und, allgemein gesprochen, der islamistische Fundamentalismus letztendlich das Produkt der tragischen, zwanzigjährigen Verwicklung der USA in Afghanistan sind. Unter den Regierungen Carter, Reagan und Bush förderte die USA aus politischen Gründen den islamischen Fundamentalismus als Instrument des kalten Kriegs gegen die ehemalige UdSSR. Das hatte schlimme Folgen für die Völker Afghanistans und Pakistans wie auch für die Tausende Unschuldigen, die am 11. September im World Trade Center starben. Die gesamte Garde, die jetzt von den amerikanischen Medien verteufelt wird: Osama bin Laden, Mullah Mohammed Omar und all die anderen, gelangten als Ergebnis der Politik der USA zu Prominenz.

Im März 1985 erklärte Präsident Ronald Reagan in Richtung der Sowjetunion: "Auf der ganzen Welt sind ihre Agenten, ihre Satellitenstaaten in der Defensive - in der moralischen Defensive, der intellektuellen Defensive und der politischen und wirtschaftlichen Defensive. Freiheitsbewegungen entstehen und machen sich bemerkbar, und zwar auf beinahe jedem von Menschen bewohnten Kontinent - in den Bergen Afghanistans, in Angola, Kambodscha und Mittelamerika... [es sind] Freiheitskämpfer." Die "Freiheitskämpfer" von gestern verkörpern heute das "Böse" schlechthin - darin besteht der Zynismus von Washingtons Realpolitik.

Dann sind da noch die langjährigen Beziehungen der US-Regierung und der Wirtschaftselite, insbesondere der Ölindustrie, mit dem saudischen Königshaus. Dieser halbfeudale theokratische Despotismus, der bin Laden und andere hervorgebracht hat, ist von den USA seit mehr als einem halben Jahrhundert auf Kosten der Bevölkerung und der Region gestützt worden. Die besonders engen Beziehungen der Familie Bush (und anderer Mitglieder des inneren Zirkels von Bush senior, wie James Baker und Frank Carlucci), die durch die Carlyle Gruppe mit den Saudis und der Familie bin Laden verbunden sind, sind gut dokumentiert. Es ist bekannt, dass das FBI mehreren Mitgliedern der Familie bin Laden half, nach dem 11. September mit einer gecharterten Boing 727 die USA zu verlassen.

Außerdem wäre die amerikanische Rolle bei der Konsolidierung der Macht der Taliban eine umfassende öffentliche Untersuchung wert, obwohl sie von der Times, den übrigen US-Medien und dem politischen Establishment sicher nicht begrüßt würde. Es ist eine historische Tatsache, dass ein Sprecher der amerikanischen Ölgesellschaft Unocal im September 1996 Nachrichtenagenturen informierte, dass das Projekt einer Ölpipeline jetzt, nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban, leichter zu verwirklichen sein werde. Es ist ebenso eine Tatsache, dass das US-Außenministerium nur Stunden nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der neuen Regierung bekannt gab (eine Ankündigung, die später zurückgenommen wurde.)

Die Times predigte in ihrem Editorial vom 21. Dezember über Walkers "ernste Fehler", für die er "die strafrechtlichen Konsequenzen tragen muss". Wer sonst muss solche Konsequenzen tragen? Wenn es um die "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" geht, dann würde die Times, wenn sie sich im offiziellen Washington umsähe, eine ganze Reihe möglicher Verdächtiger finden: Carter, Brzezinski, Kissinger, Bush senior usw. Es gibt in und im Umkreis der heutigen Bush-Regierung Leute, die viel mehr Erfahrung mit den Taliban, ihrer inneren Arbeitsweise und ihren Verbrechen haben, und die, wenn man einmal einen kühnen Tipp wagen möchte, auch eine Menge mehr über den 11.September wissen, als John Walker.

Das einzige, was die Times zum Verständnis von Walkers persönlicher Entwicklung beiträgt, ist ein Schwall von Beleidigungen, mit dem sie den gefangenen Jugendlichen überschüttet. In ihrem Artikel wird über "das beklagenswerte Gewicht dessen, was dieser Zwanzigjährige nicht weiß", gesprochen und behauptet, dass seine Suche nach Wissen "von Anfang an mit unbeschreiblicher Ignoranz verbunden war". Derartige Ausdrücke träfen wohl eher für den momentanen Bewohner des Weißen Hauses zu.

Gestützt auf das Wenige, was man weiß, scheint es sich bei Walker um einen tragischen Fall zu handeln, der von soziologischer und historischer Bedeutung ist. Walkers Schicksal sagt etwas über die allgemeine amerikanische Erfahrung und noch mehr über die Erfahrung seiner Generation aus.

Alles, was wir über ihn wissen, deutet darauf hin, dass Walker ein außergewöhnlicher junger Mann und ein Idealist war. "Er wollte etwas Reines erreichen, und er stellte schon in frühem Alter Fragen," sagte sein Vater Frank Lindh dem San Francisco Chronicle. "Wir ermutigten ihn, Ausschau zu halten."

Allerdings scheint seine Suche von Beginn an desorientiert und verwirrt gewesen und in religiösen Obskurantismus abgeglitten zu sein. Seine Suche begann scheinbar mit der Lektüre der Autobiographie von Malcolm X und führte ihn zu einer Beschäftigung mit dem Islam. Als Teenager besuchte er Internet Chat Rooms und Moscheen in der Bay Area von San Francisco, wo er auf Anhänger der " 'Tablikhi Jamaat' traf, einer Bewegung, deren Namen man grob mit 'Vereinigung für das Predigen' übersetzen könnte. Sie ermutigt Moslems, diejenigen zu kontaktieren, die dabei sind, den Glauben zu verlieren, und sie unter den Einfluss einer Moschee zurückzuführen." ( Associated Press)

"Nachdem er mit Sechzehn eine High School abgeschlossen hatte, reiste Lindh mit dem Segen seiner Eltern 1998 nach Jemen, um arabisch zu studieren. Nach zehn Monaten im Jemen kehrte er 1999 nach Hause zurück. Er hielt sich acht Monate im Marin County auf, fühlte sich aber offensichtlich einsam und unruhig. Im Februar 2000 reiste er wieder in den Jemen und zog schließlich nach Pakistan weiter, wo er an einer islamischen Schule nahe der Grenze zu Afghanistan studierte. Dort ließ sich Lindh mit den Taliban ein. Dies teilte er CNN-Journalisten mit, während seine Verletzungen, die er während der tödlichen Gefangenenrevolte in Masar-i-Scharif erlitten hatte, behandelt wurden."

Verachtung für den Materialismus des Westen und Sehnsucht nach dem scheinbar spiritualistischeren Osten sind nicht so sonderbar oder selten, wie es im ersten Moment scheinen mag. Solche Gefühle tauchen in der kulturellen und politischen Geschichte des Westens immer wieder auf, von Sir Richard Burton bis zu Lawrence von Arabien. In Walkers Fall nahmen sie eine reaktionäre und tragische Form an.

Der Fall Walker wirft viele beunruhigende Fragen auf, die die Herausgeber der Times in ihren weihevollen Tönen, deren nur die reiche Elite fähig ist, nicht anzusprechen wagen. Warum gerät ein idealistischer Jugendlicher auf einen solchen Weg? Was wären die möglichen Alternativen gewesen?

Der Kommentar versichert, dass Walker "in eine Grube gestürzt ist, die er sich selbst gegraben hat". Anfang des Jahres sprach die Times in einem anderen Fall mit tragischen Dimensionen, dem des rechtsradikalen terroristischen Oklahoma Bombers Timothy McVeigh, von "einem von selbsterzeugter Militanz umgarnten Geist". Der Tenor klingt ähnlich: Das Schicksal von Walker und McVeigh sei völlig selbstverschuldet, es habe nichts mit der allgemeinen Lage der amerikanischen Gesellschaft oder ihrer jüngeren Generation zu tun.

Der Ärger und die Verwirrung im Kommentar der Times spiegelt eine Beunruhigung wider, die nicht ausschließlich politisch ist. Irgendwie weist der Fall Walker zu sehr vor die eigene Haustür. Die Herausgeber reagieren ausgesprochen verärgert auf jedes Anzeichen, dass Jugendliche ihre Werte, die Gesellschaft, die sie reich und selbstzufrieden gemacht hat, zurückweisen. Es ist für diese Leute völlig unverständlich, wie irgendjemand mit den Ergebnissen des Börsen- und Profitbooms der 90er Jahre unzufrieden sein kann, oder mit der Ungleichheit in den USA, der Korruption und der Arroganz ihrer herrschenden Elite.

Walker und McVeigh hörten auf die falschen Propheten und wählten den völlig falschen Weg, doch wer trägt dafür in erster Linie die Verantwortung? Was waren ihre Alternativen? Diese Jugendlichen sahen keine Möglichkeit, innerhalb der existierenden Institutionen eine gerechte und gleiche Gesellschaft zu schaffen. In der offiziellen Kultur und den Medien mit ihrer abstumpfenden Anbetung von Reichtum und Markt gab es nichts, was ihren Idealismus und ihren Instinkt für Selbstaufopferung angesprochen hätte. Sie sind darin nicht allein. Dass eine große Zahl amerikanischer Jugendlicher keine Möglichkeit für ein sinnvolles Leben sieht, mag auch eine Erklärung für die schrecklichen Schießereien an der Columbine High School und anderen Mittelschulen sein.

Walkers Fall ist faszinierend und keineswegs so abwegig, wie Bush und die Medien uns glauben machen wollen. Die Bush-Regierung hat anscheinend schon von ihrer ursprünglichen Absicht Abstand genommen, Walker des Hochverrats anzuklagen. Zweifellos wäre es ihr lieb, die ganze Angelegenheit hinter verschlossenen Türen zu regeln. Wenn je ein Anwalt gebraucht wurde, der sich nicht einschüchtern lässt, der sich gegen die öffentliche Meinung stellt und sie zwingt, einen Blick auf die Umstände, die gesellschaftlichen und die persönlichen, eines Falls zu werfen, dann jetzt. Der Fall Walker hat etwas Grundlegendes an sich.

Ein Teil der amerikanischen Bevölkerung spürt schon jetzt, dass es bei Walker um mehr geht, als die Medien eingestehen möchten. Dieser Teil der Bevölkerung hat sich selbst noch nicht festgelegt. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass eine amerikanische Jury, der alle Fakten dargelegt werden, John Walker zwangsläufig und übereilt verurteilen würde.

Eine Gesellschaft zeigt ihr wahres Gesicht zu einem guten Teil darin, wie sie ihre Jugend behandelt, auch diejenigen, die Fehler machen. John Walker ist mehr oder weniger zufällig in eine tragische Lage geraten. Die offizielle Reaktion ist von wütender Brutalität geprägt. Der frühere Präsident George Bush (senior) sagte gegenüber ABC TV: "Zwingt ihn, seine Haare und sein schmutziges Gesicht so zu lassen, wie es jetzt ist, und zwingt ihn, durch das Land zu wandern, dann werdet ihr sehen, was die Leute über ihn denken. Er ist einfach verabscheuungswürdig." Und dies von einem Mann, der in seinem ganzen Leben nicht einen Augenblick der Armut oder des Mangels erlebt hat, und dessen eigener Sohn bis in seine Vierziger nicht gerade ein Musterknabe war. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Walker und Bush junior besteht darin, dass letzterer nicht einen Augenblick lang von altruistischen, hochherzigen oder menschlichen Motiven beflügelt war.

Die Los Angeles Times verwahrte sich ausdrücklich dagegen, Walkers Alter in Rechnung zu stellen: "Macht es wirklich einen Unterschied, ob John Walker Lindh, der zwanzigjährige Amerikaner, der nach einem blutigen Gefängnisaufstand von Taliban-Gefangenen im vergangenen Monat in die Schlagzeilen der Weltpresse geriet, ein bewusster und kaltblütiger Taliban-Krieger war, oder ob er einfach auf seiner jugendlichen Odyssee nach geistiger Selbsterkenntnis vom Weg abgekommen ist? Amerikanische Gerichte haben bei jugendlichen Kriminellen zunehmend die Geduld mit solchen Nuancen verloren."

Gibt es niemanden, der sich für diesen Jugendlichen einsetzt?

Die Frage - was brachte Walker nach Afghanistan? - ist mit einer noch weit komplexeren Frage verbunden: Was brachte die USA nach Afghanistan? Walker ist ein Bestandteil der Katastrophe, die Amerika über dieses Land gebracht hat. Der gegenwärtige Krieg hat seine Wurzeln nicht in Zentralasien, sondern in den USA. Die schreckliche Gewalt, die die Bush-Regierung und das amerikanische Militär gegen Afghanistan richten, kann nicht ohne Berücksichtigung der tiefen sozialen Gegensätze in Amerika selbst verstanden werden. Die "liberale" Inhumanität der Times und die besondere Entwicklung Walkers sind ein weiterer Aspekt dieser Gegensätze.

Siehe auch:
Timothy McVeigh: Der Werdegang eines Massenmörders
(26. April 2001)
Das Massaker an der Columbine High School: Amerikanische Pastorale
( 28. April 1999)
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