Israel demontiert die palästinensische Autonomiebehörde

Ankündigung einer "vernichtenden und entschlossenen" Militäroffensive

Die "neue", von Israel eingeleitete Politik ist nichts weniger als die schrittweise Besetzung des Westjordanlands und Demontage der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Am 18. Juni entschied Ariel Scharons Koalitionsregierung aus Likud und Arbeitspartei, Teile der Autonomiegebiete erneut zu besetzen, angeblich als Reaktion auf sämtliche Selbstmordanschläge. Seitdem hat die israelische Armee Nablus, Dschenin, Bethlehem und das Gebiet Betunia nahe Ramallah besetzt und Kalkilia und Tulkarem umzingelt. Fabriken im Gazastreifen wurden mit Granaten und Raketen dem Erdboden gleichgemacht.

Tausende Palästinenser wurden festgenommen und mehr als 1.500 befinden sich noch in Haft.

Als die Armee das Feuer auf einen Gemüsemarkt in Dschenin eröffnete, starben drei Kinder und ein Mann und 26 Menschen wurden verwundet. Zionistische Siedler terrorisierten Nablus.

Die israelische Besetzung wird sich in den nächsten Tagen ausweiten. Die Regierung droht mit einer "vernichtenden Offensive" und der dauerhaften Wiederbesetzung palästinensischer Gebiete, bis die Selbstmordattentate und die Feuerüberfälle auf Israelis aufhören. Amos Yaron, der Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, erklärte dem israelischen Rundfunk: "Wir müssen viel härtere Maßnahmen ergreifen als bisher. Wenn das bedeutet, in die Gebiete einzumarschieren und dort für längere Zeit zu bleiben, dann werden wir das in Betracht ziehen müssen."

Den Vorwand für die Offensive lieferten palästinensische Selbstmordattentate in Jerusalem und ein Angriff auf die jüdische Siedlung Itamar auf der Westbank, denen 36 Israelis zum Opfer fielen.

Die Selbstmordanschläge gegen unschuldige Zivilisten sind verzweifelte, schreckliche Taten von Jugendlichen, die unter dem Einfluss von politischen Tendenzen stehen, die keine wirkliche Perspektive für den Kampf gegen die israelische Unterdrückung haben. Aber solche Taten als Ursache für die erneute Besetzung der Westbank und des Gazastreifens hinzustellen, stellt die Realität auf den Kopf. Seit ihrer Amtsübernahme hat die Scharon-Regierung daran gearbeitet, den Rahmen für eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern zu zerstören, wie sie zuerst in dem Osloer Abkommen skizziert worden war.

Der von Jassir Arafats Fatah-Führung versprochene Frieden und der versprochene eigene Staat haben in der Zwischenzeit zu immer schlechteren sozialen Bedingungen, zu mehr zionistischen Siedlungen und zu einem Wiederaufleben militärischer Gewalt geführt, die aus Rache für jeden getöteten Israeli drei Palästinensern das Leben kostete. Mindestens 1.403 Palästinenser und 539 Israelis sind seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Intifada im September 2000 getötet worden.

Jetzt versucht Scharon, Bedingungen zu schaffen, unter denen er vollenden kann, was er begonnen hat, und das zerstören kann, was von der Autonomiebehörde noch übrig ist. Deshalb ignoriert seine Regierung die Tatsache, dass Arafat die Selbstmordanschläge wiederholt verurteilt hat. Er möchte Arafat aus der Führung entfernt sehen, nicht weil der Fatah-Führer der geheime Kopf terroristischer Anschläge ist, sondern weil Scharon will, dass die militanteren Fraktionen in der Autonomiebehörde und die islamistischen Oppositionsgruppen Israel einen Casus belli für eine erneute Besetzung der Westbank und des Gazastreifens liefern.

Arafat hat nicht nur die Selbstmordanschläge verurteilt, sondern auch eine "vollkommene, umfassende Verurteilung jeder Art von Operationen gegen israelische Zivilisten" ausgesprochen und dazu aufgerufen, diese "völlig einzustellen". "Ausländische" Kräfte würden junge, verzweifelte Palästinenser benutzen, sagte er über die arabischen Hintermänner von Hamas, und sie ermutigen, Anschläge gegen Bezahlung auszuführen. Obwohl er den Hamas-Führer Scheich Ahmed Jassin unter Hausarrest gestellt hat, ergreift Israel keinerlei Maßnahmen gegen Hamas und den Islamischen Dschihad, sondern nur gegen die Autonomiebehörde und die Fatah.

Arafat ging jedoch noch viel weiter: Er demonstrierte seine Bereitschaft, den Friedensplan zu akzeptieren, den US-Präsident Bill Clinton im Dezember 2000 vorgeschlagen hatte. Am 21. Juni forderte er in einem Interview mit der israelischen Zeitung Haaretz die Beendigung des Krieges. Er werde den Clinton-Plan "absolut", ohne Änderungen akzeptieren, wonach die Palästinenser in 95 Prozent der Westbank und dem ganzen Gazastreifen einen Staat bekämen und die Souveränität über das arabische Viertel von Jerusalem erhielten. Im Gegenzug werde Arafat nicht länger das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen fordern, mit Israel Land austauschen und die jüdischen Siedlungen akzeptieren. Er versprach, dies bedeute "das Ende des Konflikts zwischen Palästina und Israel".

Palästinensische Vertreter haben das Angebot schon dem US-Außenminister Colin Powell unterbreitet und versprochen, die von Israel und den USA geforderten politischen Reformen einzuführen, darunter auch die Durchführung von Wahlen, was bedeuten könnte, dass Arafat innerhalb weniger Monate die Macht verliert.

Arafats Angebot wird jedoch auf keinen fruchtbaren Boden fallen, denn Scharon hat nicht die Absicht, solchen Vorschlägen zuzustimmen, wie sie von Clinton oder seinem eigenen Vorgänger, Ehud Barak, formuliert worden waren. Er will erreichen, dass die USA einen richtigen Krieg gegen die Palästinenser akzeptieren, und die Bush-Regierung davon überzeugen, dass dies ein integraler Bestandteil deren eigener Pläne zur Wiederaufnahme des Kriegs gegen den Irak sei. In einer Rede vor dem Zionistischen Weltkongress in Jerusalem bestand Scharon letzte Woche erneut darauf, die Palästinenser auf die Liste der Völker und Staaten zu setzen, welche die Bush-Administration in ihrem angeblichem Krieg gegen den Terror ins Visier genommen hat. Er erwähnte den jüngsten Selbstmordanschlag und sagte seiner Zuhörerschaft: "Diesmal steht hinter dem Terror die palästinensische Terrorbehörde mit Unterstützung einer terroristischen Achse - Iran, Syrien und bin Laden."

Zwar hält die Bush-Regierung bisher an ihrer Behauptung fest, sie suche nach einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, doch wirkt dies mittlerweile schon reichlich abgedroschen.

Sowohl Bush als auch sein Sprecher Ari Fleischer haben Scharons jüngste Angriffe unterstützt, wie sie jeden Akt der Aggression Israels unterstützen. "Der Präsident versteht Israels Recht auf Selbstverteidigung, besonders nach einem derart schwerwiegenden Anschlag," sagte Fleischer.

Das Weiße Haus machte viel Aufhebens davon, dass auch seine Bemühungen zur Friedenssicherung durch die Selbstmordanschläge behindert würden, und behauptete, es sei gezwungen gewesen, eine wichtige Rede Bushs zu verschieben, in der er Maßnahmen zur Beendigung des Konflikts habe vorschlagen wollen. Doch die hinausgezögerten Vorschläge sind bereits weitgehend durchgesickert, und sie bestehen in einem Plan, die Palästinenser in ein stark befestigtes Ghetto zu zwingen, das Israel und dessen Meister USA vollkommen ausgeliefert wäre.

Bushs Angebot beinhaltet die Anerkennung dessen, was er zynisch als "provisorischen Palästinenserstaat" bezeichnet, der jedoch gerade mal vierzig Prozent der Westbank und des Gazastreifens umfassen soll. Welche Form und Grenzen er zuletzt annehmen wird, soll erst in drei Jahren entschieden werden, während die USA darauf bestehen, dass, wer immer dann die palästinensische Führung ausüben wird, jede Opposition gegen Israel unterdrücken muss. Ein erfahrener US-Politiker erklärte, selbst ein provisorischer Staat werde erst nach der Umsetzung von Reformen ausgerufen, was frühestens in einem Jahr der Fall sein könne.

Condoleezza Rice, die nationale Sicherheitsberaterin, gab einen weiteren Hinweis auf Bushs wahre Absichten. Sie erklärte den Mercury News von San Jose, Kalifornien, die Regierung sei nicht scharf darauf, einen von den USA ausgehandelten Friedensplan weiterzuverfolgen, und ein Palästinenserstaat dürfe sich nicht auf Arafats Autonomiebehörde stützen, welche "korrupt und von Terror durchsetzt" sei.

Die Bemühungen Washingtons der letzten Monate, sich als Vermittler zwischen Israel und der Autonomiebehörde aufzuspielen, sind von den groteskesten politischen Berechnungen bestimmt, die man sich vorstellen kann. Um sich der Unterstützung seiner wichtigsten arabischen Verbündeten, wie Ägypten, Jordanien und Saudi Arabien, in einem Krieg gegen den Irak zu versichern, musste Amerika in gewisser Weise auf Distanz zu Israels brutaler Behandlung der Palästinenser gehen.

Diese Haltung nimmt Powell ein, während dem Pentagon nahestehende Hardliner, darunter auch Vizepräsident Dick Cheney, eine offen pro-israelische Haltung favorisieren und dies als Bestandteil ihrer Kampagne gegen den Irak betrachten.

Die arabischen Regime sind ihrerseits nur zu gerne bereit, Bushs Scharade mitzuspielen, weil sie den radikalisierenden Effekt der israelischen Offensive auf ihre eigene Bevölkerung fürchten. Doch wird diese Fiktion nachgerade unhaltbar.

Powell wurde nicht nur an den Rand gedrängt, sondern durch die gegnerische Fraktion lächerlich gemacht. In einem Interview mit der arabischen Zeitung al-Hayat bezog sich Powell auf die Möglichkeit, einen provisorischen Palästinenserstaat zu gründen, und erklärte, die USA würden auch weiterhin mit Arafat zusammenarbeiten. Fleischers Reaktion erfolgte postwendend, als er den Medien sagte: "Der Präsident hat Ratschläge von vielen erhalten, und viele dieser Leute gaben ihm Ratschläge über Nahost in mehrfacher Ausfertigung." Bush habe keinen provisorischen Staat unterstützt, meinte er, indem er den Vorschlag Powell zuschrieb: "Der Außenminister denkt von Zeit zu Zeit über einen Ratschlag nach, den er erhält, und er tut dies öffentlich, was sein Vorrecht ist."

Den arabischen Staaten ist kaum mehr ein Feigenblatt übrig geblieben, um ihre Blöße zu decken. Ägyptens Außenminister Ahmed Maher sagte über Bushs widerrufene Vorschläge: "Dieser Vorschlag bedeutet, dass heute ein solcher Staat existiert, aber vielleicht morgen nicht mehr. Es ist unverständlich, und niemand hat je von so einer Sache gehört."

Den jordanischen König Abdullah fühlte sich bemüßigt, die USA vor einer möglichen politischen Katastrophe zu warnen, die sich entwickeln könnte, weil Washington stillschweigend Scharons Bestreben akzeptiert, die Autonomiebehörde in Stücke zu schlagen. In einem offenen Interview mit der belgischen Zeitung Le Vif/L'Express, sagte er, Arafat sei nicht länger "in der Lage, die Gefühle der palästinensischen Öffentlichkeit und ihren Extremismus zu kontrollieren...

Wir sagen den Amerikanern: Ihr bittet uns, gegen Terrorismus zu kämpfen, aber indem ihr diesen israelisch-palästinensischen Konflikt nicht lösen könnt, bindet ihr uns die Hände. Ich habe dem US-Präsidenten in unmissverständlichen Worten gesagt, dass der Zorn bei weitem nicht verraucht ist. Ich betonte, dass sich die Situation im Nahen Osten noch verschlimmern wird, wenn die Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und den Palästinensern sich weiter hinziehen. Ich erklärte allen Ländern, mit denen wir befreundet sind, dass wir das Schlimmste noch nicht hinter uns haben."

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