Tarifauseinandersetzungen im Einzelhandel

Internationaler Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Arbeiter

Die Tarifverhandlungen im Einzelhandel mit bundesweit rund 2,5 Millionen Beschäftigten ziehen sich nun schon seit zwei Monaten hin. Seit dem 16. Mai wurde in rund 400 Kaufhäusern, Supermärkten etc. mit insgesamt gut 66.000 Beschäftigten für jeweils ein bis zwei Tage gestreikt. Für diese Woche sind weitere Verhandlungsrunden geplant. Gewerkschaft und Arbeitgeberverband sind dabei nicht nur mit der zunehmenden Wut der Beschäftigten, sondern auch mit einem sich verstärkenden internationalen Konkurrenzkampf unter den Großkonzernen konfrontiert.

Die wirtschaftliche Lage des Einzelhandels sei so katastrophal, "dass es eigentlich eine Nullrunde geben müsste. Im Handel wäre selbst ein Inflationsausgleich zu viel", so Hermann Franzen, Präsident des Hauptverbandes des deutschen Einzelhandels (HDE) gegenüber der ARD.

Laut HDE sei der Umsatz des ersten Quartals dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr um real 4,5 Prozent gesunken. Der Einzelhandelsverband prognostizierte deshalb schon vor Beginn der offiziellen Tarifverhandlungen einen weiteren Stellenabbau um 30.000 Arbeitsplätze und Tausende weiterer Geschäftspleiten. Nach Ansicht der Arbeitgebervertreter bedeute jedes Zehntelprozent Lohnerhöhung über das Angebot hinaus die Vernichtung weiterer tausend Arbeitsplätze.

Ein Wirtschaftssektor im Umbruch

Doch ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung des Einzelhandels zeigt, dass nicht die ohnehin vergleichsweise niedrigen Löhne im Einzelhandel die Ursache für drohende oder tatsächliche Pleiten sind. Vielmehr tobt hier ein internationaler Verdrängungskampf der Großunternehmen untereinander. Auch der Einzelhandel unterliegt dem globalisierten Wettbewerb. Da es für die einzelnen Konzerne einige Schwierigkeiten bedeutet, die Tariflöhne direkt und drastisch zu senken, versuchen sie die Kosten durch eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit und durch die Steigerung der Arbeitshetze jedes einzelnen Beschäftigten zu drücken, um die Renditen für die Aktionäre zu erhöhen.

In den letzten Jahrzehnten war der Wettbewerb im nationalen Rahmen auf Kosten der mittelständischen Unternehmen ausgetragen worden. Während 1970 die traditionellen Fachgeschäfte, meistens Familienunternehmen, mit rund 65 Prozent am Gesamtumsatz des Einzelhandels beteiligt waren, sank dieser Anteil bis zum Jahr 2000 auf knapp 29 Prozent. Umgekehrt steigerten die Selbstbedienungsmärkte ihren Anteil am Umsatz im gleichen Zeitraum von sieben auf 21 Prozent, die filialisierten Fachgeschäfte (überregionale Filialketten wie die Optikerkette "Fielmann") von 13 auf 22 Prozent.

Im Jahr 2001 bestand die überwiegende Mehrheit der Einzelhandelsunternehmen immer noch aus kleineren Betrieben mit einem Jahresumsatz von unter 250.000 Euro. Diese Mehrheit aller Unternehmen des Einzelhandels erwirtschaftete allerdings nur 8 Prozent des Gesamtumsatzes. Die Großunternehmen mit einem Geschäftsvolumen von über 12 Millionen Euro stellten dagegen nur 0,4 Prozent aller Unternehmen, erwirtschafteten jedoch über die Hälfte (52 Prozent) des gesamten Umsatzes.

Während also tatsächlich eine Vielzahl Klein- und Familienunternehmen vor dem Ruin stehen, bauen die Filialketten und großen Einzelhandelskonzerne ihre Filialnetze weiter aus. Von 1990 bis 2001 wuchs die Verkaufsfläche in Deutschland um 35 Prozent und wird nach HDE-Schätzungen in diesem Jahr um weitere zwei Millionen Quadratmeter auf insgesamt 108 Millionen Quadratmeter anwachsen. Auch hierbei gibt es keine nennenswerten Neugründungen von kleinen Geschäften, sondern seit Jahren fast ausschließlich die Erweiterung des Geschäftsnetzes der großen Einzelhandelsketten. Dieser harte Wettbewerb der großen Einzelhandelskonzerne droht nun auch den einen oder anderen aus ihren Reihen unter die Räder kommen zu lassen.

Der größte dieser Konzerne in Deutschland, die Metro AG, umschließt die Einzelhandelsketten Real, Extra, Media Markt, Saturn, Praktiker und Kaufhof. Entgegen der durchschnittlichen Entwicklung, konnte Metro sowohl den Umsatz, als auch den Gewinn im vergangenen Jahr steigern. Der Konzern, der auf seiner Homepage das Motto "Wir machen Märkte" ausgibt, erhöhte 2001 seinen Umsatz um 5,5 Prozent auf knapp 50 Milliarden Euro. Selbst im ersten Quartal 2002 erhöhte sich der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 5,2 Prozent.

Die Metro AG ist dabei selbst ein Kind der Umstrukturierung des deutschen Einzelhandels. In der heutigen Form erst 1996 durch die Fusion mehrerer Handelsketten entstanden, wurde die Metro AG zu einem der 20 größten börsennotierten Unternehmen Deutschlands. Der Konzern beschäftigt in 24 Ländern 230.848 Beschäftigte und hat die Größe, den Marktanteil und die finanziellen Reserven, um andere Konzerne zu verdrängen. "Konsequente internationale Expansion", "klare Renditeorientierung" und "Optimierung der Vertriebswege" sind dabei die selbsterklärte Strategie.

Konkurrenz erhält die Metro AG vom größten Einzelhandelskonzern der Welt, dem amerikanischen Wal*Mart -Konzern. Seit dreieinhalb Jahren mit inzwischen 95 Kaufhäusern und 17.000 Beschäftigten allein in Deutschland versucht die Handelskette wachsende Marktanteile zu erschließen. Gerüchte gehen allerdings von Verlusten in dreistelliger Millionenhöhe bei einem geschätzten Umsatz von knapp 2,5 Milliarden Euro in Deutschland aus. Angeblich sollen sechs Häuser des internationalen Konzerns geschlossen werden.

Die Situation der Beschäftigten

Für die Beschäftigten - nicht nur bei der Metro AG - bedeutet dieser Konkurrenzkampf eine weitere Verschlechterung ihrer Situation. Sie sind es in Wahrheit, die sich in einer katastrophalen Situation befinden. Seit langem gehören die Beschäftigten des Einzelhandels zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitern in Deutschland. Das Einstiegsgehalt für einen Vollzeitarbeitsplatz liegt zwischen 1050 und 1400 Euro brutto. Die Auszubildendenlöhne beginnen bei knapp 500 Euro im ersten Lehrjahr und im dritten Jahr bekommt ein Azubi rund 600 Euro. Diese unterdurchschnittlichen Löhne sind gleichbedeutend mit einer Existenz am Rande der Armut, die durch die Notwendigkeit, flexibel zu jeder Tageszeit einsetzbar zu sein, noch verschärft wird. Gerade Alleinerziehende können über ihr Gehalt keine qualifizierte Betreuung finanzieren, während sie nachmittags und bis in den Abend hinein arbeiten müssen. Hinzu kommt die seit Jahren kontinuierlich steigende Belastung durch die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten.

Weiteres Merkmal des Einzelhandels ist die fortschreitende "Flexibilisierung" der Arbeitsverhältnisse. Vollzeitarbeitsplätze sind in enormem Umfang in Teilzeitarbeitsplätze und Niedriglohnjobs umgewandelt worden. In diesem Wirtschaftsbereich sind mehr als die Hälfte aller Stellen Teilzeitarbeitsplätze. Über 20 Prozent dieser Teilzeitstellen sind wiederum Niedriglohnjobs (die ehemaligen 630-Mark-Jobs). Dabei konzentrieren sich diese in den großen Konzernen. So arbeiten beispielsweise alle 3.708 geringfügig Beschäftigten im Einzelhandel der Kreise Bonn und Rhein-Sieg - immerhin 18 Prozent der Gesamtbeschäftigtenzahl - in den fünf Unternehmen mit mehr als 250 Arbeitsplätzen (laut Bericht über den Einzelhandel Bonn/Rhein-Sieg der Dialoge Beratungsgesellschaft vom Juni 2001).

Wie in anderen Wirtschaftbereichen auch wurden Kosteneinsparungen im Einzelhandel durch Stellenabbau "erwirtschaftet". Parallel zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und der Ausweitung der Verkaufsfläche verloren im Einzelhandel allein seit 1994 rund 250.000 Menschen ohne nennenswerte Gegenwehr der Gewerkschaften ihren Arbeitsplatz. Dementsprechend stieg die Arbeitsproduktivität der Beschäftigten, also der Umsatz pro Arbeitnehmer; beispielsweise um 11 Prozent in den Jahren von 1998 bis 2001.

Doch die Unternehmen planen für die nächsten Jahre weiteren Arbeitsplatzabbau sowie eine Senkung der Lohnkosten. Der Karstadt-Quelle -Konzern, der als einer der ersten Opfer der wachsenden Konkurrenz gehandelt wird und daher in seinem Warenhausbereich im vergangenen Jahr bereits 4.000 Arbeitsplätze vernichtet hat, kündigte inmitten der Tarifauseinandersetzung an, die Löhne auf eine leistungsorientierte Bezahlung umstellen zu wollen und alle außertariflichen Sozialleistungen zu streichen. Allein diese Lohnsenkung hätte bei einem Vollzeitarbeitsplatz einen jährlichen Lohnverlust von 1000 Euro ausgemacht! Bei Karstadt wird der Umsatzrückgang als Begründung ausgegeben, obwohl der Konzern im Jahr 2001 trotzdem den Vorsteuergewinn um 26 Prozent auf 344 Millionen Euro steigerte, 121 Millionen Euro als Rücklagen einstellte und eine sechsprozentige Dividendenerhöhung auf 0,71 Euro ausgab und damit Millionen an die Aktionäre ausschüttete.

Auch die Metro AG hat in der Vergangenheit - trotz Umsatz- und Gewinnsteigerungen - insbesondere bei der Kaufhof AG viele Filialen geschlossen, Löhne gekürzt (etwa durch Abschaffung des Weihnachtsgeldes) und Personal abgebaut. Zur gleichen Zeit erzielte die Kaufhof AG eines der besten Geschäftsergebnisse zeit ihres Bestehens.

Eines der abstoßendsten Beispiele für die Arbeits- und Einkommensbedingungen des Einzelhandels stellt das Schlecker -Unternehmen der Eheleute Schlecker dar. Die Strategie der Unternehmer setzte voll und ganz auf die Reduzierung der Lohnkosten, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können. Minimale Besetzung der Filialen mit einer einzigen Verkaufskraft, teilweise ergänzt durch die Filialleitung, Koppelung der Löhne an die Filialumsätze, "freiwillige" Lohnsenkungen bei ausbleibendem Erfolg der Filiale, illegale untertarifliche Bezahlung und Bespitzelung und Überwachung der Beschäftigten durch Detektive sind nur einige Beispiele der Praxis dieses Unternehmens. (Schlecker wurde wegen Vortäuschung tariflicher Bezahlung zu elf Monaten Haft auf Bewährung und einer Strafe von einer Million Mark verurteilt.)

Die Rolle von Verdi

Der größte Trumpf der Großkonzerne bei der Durchsetzung ihrer Angriffe auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ist die Gewerkschaft. Die verhandlungsführende Gewerkschaft Verdi hatte aufgrund des harten Konkurrenzkampfs im Einzelhandel bereits deutlich niedrigere Forderungen aufgestellt als Gewerkschaften anderer Branchen in den diesjährigen Tarifverhandlungen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) forderte Verdi zum Beispiel eine Lohnsteigerung von 3,7 Prozent sowie eine Einmalzahlung von 50 Euro. Dies, so glaubten die Verdi-Führer, wäre ihr Beitrag zur Konsolidierung der deutschen Großunternehmen.

Doch die Arbeitgeber nahmen diese Haltung - wie zu erwarten - zum Anlass, dementsprechend niedrige Angebote zu machen. In NRW boten sie beispielsweise nach vier Verhandlungstagen und fast zwei Monaten Streik nur 1,7 Prozent Lohnerhöhung für die ersten 12 Monate und für weitere 12 Monate eine Erhöhung entsprechend der Preissteigerungsrate an.

Dafür (für dieses Entgegenkommen ihrerseits) sollen die Tariflöhne durch die Einführung neuer niedriger Tarifgruppen noch weiter abgesenkt werden. Sie haben vor, durch den Einsatz von so genannten "Ladenhilfen" im kaufmännischen Bereich und "Lagerhilfen" im gewerblichen Bereich die Lohnkosten zu senken.

Nun hätte Verdi keinerlei Skrupel, dies gegen die Beschäftigten durchzusetzen. Die Lohnsteigerungen der letzten Jahre brachten nie mehr als einen Inflationsausgleich ein. 1997 wurde sogar ein Tarifvertrag abgeschlossen, der eine Reallohnverringerung bedeutete. Was die Arbeitsbedingungen angeht, so erklärte der Grüne Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, auf dem Gründungskongress im März vergangenen Jahres, dass ein Anwachsen der "Teilzeit-, Leiharbeits- und anderer neuer Beschäftigungsverhältnisse" auch "Chancen eröffnen [kann, d.V.], für den Einzelnen wie für die Gesellschaft".

In diesem Jahr steht aber einer schnellen Einigung die wachsende Wut der Beschäftigten entgegen. Vor vier Jahren sind die SPD und die Grünen gerade von der arbeitenden Bevölkerung gewählt worden, damit die stetige Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und finanziellen Lage ein Ende hat. Die Hoffnungen, die in die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) gesetzt worden sind, sind bitter enttäuscht worden. Nach vier Jahren unter SPD und Grünen haben Arbeiter und ihre Familien wegen deren Politik und der tatkräftigen Unterstützung der Gewerkschaften nicht nur keine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung ihrer Lage hinnehmen müssen. In der Wut und Empörung der Verkäuferinnen und Verkäufer über die harte Haltung der Arbeitgeber schwingt daher auch unausgesprochen aber handgreiflich Protest und Wut gegen die Bundesregierung mit.

Siehe auch:
Metallerstreik in Deutschland beendet
(18. Mai 2002)
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