Interview mit einem israelischen Kriegsdienstverweigerer

"Wir können eine neue Führung einsetzen"

Israels Oberster Gerichtshof ordnete am 25. Juni die Entlassung eines Offiziers der israelischen Armee aus dem Gefängnis an, obwohl dieser nur 13 von den 35 Tagen Arrest abgesessen hatte, zu dem er verurteilt worden war, weil er den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert hatte.

Der 29-jährige Oberleutnant David Sonnschein, ein Mitbegründer der Gruppe Mut zur Verweigerung, wurde am 13. Juni in Haft genommen, nachdem er einem Einberufungsbefehl zum Dienst in den besetzten Gebieten nicht nachgekommen war. Er wurde von seinem Kommandanten einem Disziplinarverfahren unterzogen, ohne dass er sich rechtlichen Beistand nehmen konnte. Seine Freilassung erfolgte, nachdem der Oberste Gerichtshof ein Urteil über einen Antrag Sonnscheins verschoben hatte, der ein Verfahren vor einem Militärgericht verlangte. Da das Disziplinarverfahren ohne Urteilsbegründung durchgeführt wurde, erachtete es der Oberste Gerichtshof als ungültig.

Sonnscheins Unterstützer begrüßten seine Entlassung mit Jubel und Applaus. Sein Rechtsanwalt argumentierte, dass das Gericht eigentlich ein Urteil darüber fällen müsste, ob ein demokratischer Staat seinen Bürgern das Recht gewährt, ihre Argumente vor Gericht vorzutragen, besonders angesichts einer möglichen Gefängnisstrafe.

Der Ursprung der Bewegung Mut zur Verweigerung geht auf einen offenen Brief vom Januar diesen Jahres zurück, in dem 35 Reservisten den Dienst im Westjordanland und Gazastreifen mit der Begründung ablehnten, die israelische Besatzung sei unrechtmäßig und ihr militärisches Vorgehen unmoralisch.

Amit Maschiach, ein Sprecher der Gruppe, sagte gegenüber der Tageszeitung Haaretz, dass bis heute 88 Mitglieder der Gruppe Einberufungsbefehlen nicht Folge geleistet haben und Disziplinarverfahren durch ihre Kommandanten unterzogen wurden. "Alle von ihnen erhielten nach 10-minütigem Verfahren die maximale Strafe von 35 Tagen," erklärte er.

Die Gruppe Jesch Gwul ("Es gibt eine Grenze") berichtet, dass viele andere Reservisten und Soldaten inhaftiert worden sind, darunter Oberfeldwebel Amit Bar-Tzedek, ein Reservist des Panzerkorps, der am 16. Juni in einer Basis in Ost-Galiläa zu 21 Tagen Arrest verurteilt wurde. (Es handelt sich hierbei um seine zweite Verurteilung wegen Dienstverweigerung in den besetzen Gebieten, nachdem er im Februar/März 2001 bereits 28 Tage lang in Haft genommen worden war.) Der Reservist und Oberfeldwebel der Infanterie Guy Rosin wurde am 16. Juni zu 28 Tagen Arrest verurteilt.

Derzeit befinden sich neun Kriegsdienstverweigerer im Gefängnis - ein starker Rückgang von der Rekordzahl von 69 Inhaftierten im April diesen Jahres, als im Rahmen der "Operation Schutzschild" Massen von Reservisten einen kurzfristigen Einberufungsbefehl erhielten.

AR ist ein 28-jähriger Mann, der vor kurzer Zeit seine Unterschrift unter den offenen Brief der Gruppe Mut zur Verweigerung setzte. Er sprach mit einem Korrespondenten der World Socialist Web Site in Israel. Auf seinen Wunsch wurden einige biografische Details geändert.

WSWS: Erzählen sie uns etwas über sich.

AR: Ich habe mein ganzes Leben lang in der israelischen Armee gedient und meine Pflichten immer erfüllt. Ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein, und ich glaube, dass Israel ein jüdischer und demokratischer Staat sein muss. Daher denke ich, dass Scharons Politik, für die er die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten hat, nur Schaden anrichten kann hinsichtlich der Möglichkeiten Israels, sich selbst zu schützen und Teil der Region zu sein. Ich denke, dass die Besatzung nichts als Verzweiflung und Hass in der arabischen Bevölkerung hervorruft. 35 Jahre Besatzung sind der Grund, warum sich junge Männer und Frauen in unseren Städten in die Luft sprengen. Allerdings meine ich, dass ihre Taten vom moralischen Standpunkt aus zu verurteilen sind. Als wir in den 1930-ern und 1940-ern für unsere nationale Befreiung kämpften, haben wir keine Selbstmordattentate begangen. Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir die arabischen Häuser und ihr Land verlassen müssen, um jene Intellektuellen zu stärken, die die moralische Haltung der Araber verbessern wollen.

WSWS: Wie sehen Sie den derzeitigen Konflikt in Palästina?

AR: Ich habe kein Vertrauen in Jassir Arafats Führung und ich glaube, dass seine Weigerung, Baraks Vorschläge in Camp David anzunehmen, der Grund war, warum Scharon bei den Wahlen im Februar 2001 massive Unterstützung erhielt. Nichtsdestotrotz fordere ich mein Volk dringend auf, die besetzen Gebiete zu verlassen - nicht den Palästinensern zuliebe sondern uns zuliebe. 35 Jahre Besatzung haben nicht einem einzigen Ziel des Zionismus gedient. Wir müssen uns im Rahmen der Grenzen von 1967 verteidigen und nicht Länder besetzen, die uns nicht gehören. Sicherlich haben wir eine historische Verbindung zu Judäa und Samaria [dem Westjordanland]. Ich weiß, dass Sie und Ihre Strömung den Zionismus ablehnen und unser historisches Recht zurückweisen, einen jüdischen Staat im Land Isarel zu haben.

WSWS: Wir denken, dass die Zukunft der jüdischen und arabischen Arbeiter und Jugendlichen von einer Lösung auf sozialistischer, demokratischer und säkularer Grundlage abhängt.

AR: Ich denke, dass die Vereinigung der Bewohner Israels und Palästinas nur eine Frage der Zeit ist, aber wir brauchen mindestens ein oder zwei Jahrzehnte, um über einen gemeinsamen Staat nachdenken zu können, insbesondere da wir wissen, dass Israel, trotz seiner Fehler, eine demokratische Tradition hat. Ist Arafat besser als Saddam Hussein oder Baschar al-Assad? Er ist weniger korrupt, weil er weniger Macht hat als sie. Ich denke, man kann die Geschichte nicht zur Eile antreiben; es gibt Stadien, und man muss diese Stadien berücksichtigen.

Ich glaube, wir müssen uns der Tatsache stellen, dass es zwei Nationen in Eretz Israel [dem Land Israel] gibt, und wir müssen eine Zwei-Staaten-Lösung vorantreiben. Ich glaube nicht, dass Arafat diesen historischen Kompromiss durchführen kann; weder Arafat noch Ariel Scharon bemühen sich um eine gemeinsame Zukunft. Beide leben in einer Vergangenheit der nationalen Symbole. Wir brauchen eine neue Führung, und wenn ich "wir" sage, dann meine ich Israelis und Palästinenser.

WSWS: Aus welchen Motiven verweigern Sie den Dienst in den besetzten Gebieten?

AR: Ich akzeptiere das Argument, dass man in einem demokratischen Staat Entscheidungen akzeptieren muss, die von der Mehrheit der Bürger getroffen wurden. Aber wenn wir seit 35 Jahren eine andere Nation besetzen, warum sollten wir ihr dann nicht das Recht geben, an diesem Prozess der Entscheidungsfindung teilzuhaben? Israel weigert sich, internationales Recht anzuerkennen. Israel hat keine Souveränität über die besetzten Gebiete. Ich werde meinem Volk, meinem Land, meinem Staat dienen - innerhalb der anerkannten Grenzen.

WSWS: Verstehen Sie Sich als Zionist?

AR: Ich bin ein Zionist, der einen demokratisch-jüdischen Staat anstrebt. Für mich sind diese zwei Sachen nicht zu trennen. Politiker wie Efi Eitam [Vorsitzender der National Religiösen Partei] verdrehen die Ziele des Zionismus. Wir sind zwar eine Minderheit, aber die Reservisten haben mit nur ein paar Dutzend Leuten begonnen und heute sind sie Hunderte. Ich denke, dass wir eine neue Führung einsetzen können. Seitdem sich die Arbeitspartei an die Seite von Scharon gestellt hat, braucht die Linke in Israel eine neue Führung - junge Leute, Sozialdemokraten, die bereit sind, für die Zukunft ihrer Nation zu kämpfen, und dabei viel Mut, moralische Grundsätze und Vertrauen in die historische Rolle eines demokratischen Israels im Nahen Osten haben.

WSWS: Welche Botschaft haben Sie als Reservist und Kriegsdienstverweigerer für die Palästinenser?

AR: Ich denke, dass die Palästinenser von uns lernen müssen, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Nur durch den Kampf von Juden und Arabern für zwei Staaten und gegenseitige Anerkennung können wir unseren Familien und Kindern eine gerechte Zukunft bieten.

Siehe auch:
Protest israelischer Armeereservisten eröffnet ein neues Kapitel im Kampf gegen den Zionismus
(14. Februar 2002)
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