Bundestagswahlkampf im Ruhrgebiet

Der SPD schlägt eine Welle des Unmuts entgegen

Der Bundestagswahlkampf im Ruhrgebiet findet gewöhnlich auf der Straße statt. Die Bundestagswahlkandidaten vor Ort sind gezwungen, zu den Wählern zu gehen, an den Infoständen ihrer Parteien in den Innenstädten, auf Straßen- oder Stadtteilfesten. Auf Wahlveranstaltungen laufen sie Gefahr, allein vor leeren Stühlen zu sitzen.

In der vergangenen Woche lud jedoch der Bürgerring des Oberhausener Stadtteils Alstaden zu einer Podiumsdiskussion mit den Oberhausener Bundestagskandidaten aller Berliner Parteien ein.

Oberhausen liegt im Westen des Ruhrgebiets und unterscheidet sich nicht von anderen Städten des ehemaligen Reviers. Noch vor zehn bis zwanzig Jahren war sie durch die Stahl- und Kohleindustrie geprägt. Wie in allen Städten der Region war dies der Ausgangspunkt des Filzes von SPD und Gewerkschaften, der alle Poren der Gesellschaft durchdrang. In den vergangenen Monaten befand sich Oberhausen durch die Pleite des letzten großen dort ansässigen Industrieunternehmens, der Babcock Borsig AG, in den Schlagzeilen.

Genau 33 Leute waren gekommen, um die Bundestagsmitglieder Walter Grotthaus (SPD), Marie-Luise Dött (CDU) sowie die Bundestagskandidaten Norbert Axt (Die Grünen), Christian Opdenhövel (FDP) und Fritz Meineke (PDS) zu sehen und zu hören. Das Thema der Podiumsdiskussion lautete: "Ist unsere Gesundheitsversorgung nach der Bundestagswahl noch gesichert?"

Die Mehrzahl der Anwesenden, knapp vor oder bereits im Rentenalter, begrüßten sich herzlich. Man kannte sich als Nachbarn aus dem Stadtteil, als Mitglied des Bürgerrings und/oder der örtlichen SPD und CDU. Die Organisatorin begrüßte die ihr zum großen Teil bekannten Gäste und entschuldigte den PDS-Kandidaten, der durch einen "Hexenschuss" verhindert war. Er ließ aber ausrichten, dass er sich bei diesem Thema ohnehin der SPD anschließe.

Zu Beginn durften alle Redner ein Statement zum Thema Gesundheitssystem bzw. Gesundheitsreform abgeben. Die Frau auf dem Podium, die CDU-Kandidatin und Vorsitzende des Bundes katholischer Unternehmer, durfte eröffnen. Sie forderte mehr "Wettbewerb bei Krankenkassen und Leistungserbringern", sprich Ärzten und Krankenhäusern, und begründete Einschränkungen bei den Krankenversicherungsleistungen damit, dass "die medizinisch notwendige Versorgung gewährleistet sein muss". Was sich hinter dem "medizinisch Notwendigen" verbirgt, erklärte sie nicht.

Der FDP-Kandidat wurde deutlicher: "Wer sich nicht die Zähne putzt, soll später auch kein Gebiss bekommen." Dieser jungdynamische Westerwelle-Verschnitt forderte "mehr Wettbewerb, mehr Eigenverantwortung" und die Einführung von Wahlleistungen, "ähnlich wie bei der Kaskoversicherung eines Autos". Im selben Atemzug sprach er sich für einen Arbeitsplatzabbau bei den Krankenkassen aus.

Der Vertreter der Grünen, ein enddreißigjähriger Alternativer, der sich in dieser Runde älterer Menschen sichtlich unwohl fühlte, blieb während der gesamten Diskussion relativ ruhig. "Wir wollen - grundsätzlich - am Solidarprinzip festhalten", gab er kleinlaut bei.

So blieb es Wolfgang Grotthaus von der SPD überlassen, gegen die CDU- und FDP-Vorschläge zu polemisieren. Angesichts deren rechter Stellungnahmen warf sich der Sozialdemokrat in die von ihm so geliebte Pose des radikalen Kämpfers für die Arbeitnehmerrechte.

Er sprach sich für die "Stärkung des Solidarprinzips" und die "paritätische Finanzierung", d.h. für die Finanzierung des Gesundheitssystems durch Unternehmen und Beschäftigte, aus. Doch in SPD-Kreisen sind bereits Vorschläge diskutiert worden, eben diese Finanzierung aufzubrechen. Die Bundesregierung wird dabei wie schon bei der Rentenreform ohne Scheu erklären, die paritätische Finanzierung sei beibehalten worden, obgleich das Gegenteil der Fall ist. Außerdem ließ sich auch Grotthaus für alle zukünftigen Kürzungen im Gesundheitssystem eine Hintertür offen, indem er sagte, man müsse diskutieren, was "wünschenswert ist und was nicht".

Wolfgang Grotthaus' politischer Werdegang ist typisch für das Ruhrgebiet. Er hat die sogenannte Ochsentour durch die Gremien der SPD und Gewerkschaften gemacht und sich nach oben gedient. Sein Vater war Bergmann auf der Zeche Concordia in Oberhausen und Gewerkschaftsaktivist der IG-Bergbau. Er selbst begann 1963 im Alter von 16 Jahren eine Ausbildung als Chemielaborant auf der Zeche, in der auch sein Vater arbeitete und später durch einen tragischen Betriebsunfall sein Leben verlor. Die Mitgliedschaft in der IG Bergbau war selbstverständlich. 1968 schloss er eine Weiterbildung zum staatlich geprüften Chemielaboranten ab. In diesem Jahr wechselte er zum Babcock-Unternehmen und folglich in die IG Metall.

Ein Jahr später, 1969, wurde er Mitglied der SPD. Schnell stieg er eine Stufe nach der anderen auf der politischen Karriereleiter empor: über den Ortsvereinsvorstand (Mitglied seit 1970, Vorsitzender von 1978 bis 1999), das Stadtverordneten-Mandat für den Wahlkreis Lirich-Nord (1975 bis 1989), zum Bezirksvorsteher der Bezirksvertretung Alt-Oberhausen (1989 bis 1994), zum Bürgermeister der Stadt Oberhausen (1994 bis 1998) und zum stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD Oberhausen (1986 bis heute).

Parallel dazu verlief sein gewerkschaftlicher Aufstieg im Babcock-Konzern. Ab 1980 fungierte er bis zum Jahre seines Einzugs in den Bundestag 1998 als freigestellter Betriebsratsvorsitzender der Deutschen Babcock Anlagen GmbH. Von 1982 bis 1997 gehörte er verschiedenen Aufsichtsräten des verschachtelten Babcock-Konzerns an.

Wie bei vielen Aufsteigern in SPD und Gewerkschaften verbirgt sich hinter seinem kumpelhaften Auftreten - er sprach auf der Veranstaltung zur Gesundheitsreform in breitem Ruhrgebiets-Dialekt beinahe alle Anwesenden mit "Kollege" an - eine unübersehbare Überheblichkeit und Arroganz gegenüber einfachen Arbeitern, zu denen er früher selbst gehörte. Nicht selten sind es gerade diejenigen, die aus dem Arbeitermilieu aufgestiegen sind, die jede selbstständige Regung von unten, oder auch nur ein Wort des Widerspruchs oder der Kritik, scharf zurückweisen. Die Angst, von den Arbeitern zur Rechenschaft gezogen zu werden, führt dazu, dass sie jedem anderen die Kompetenz absprechen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen.

Diese Haltung war auf der Veranstaltung sehr deutlich sichtbar. Es war auffallend, wie der Bundestagsabgeordnete Grotthaus den Wählern über den Mund fuhr, wenn er Widerspruch aus dem Publikum bekam. Und den bekam er reichlich. Immerhin waren neben den Mitgliedern von CDU und SPD auch einige Arbeiter und Arbeiterinnen gekommen. Diese schilderten einfach ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. Eine ältere Frau berichtete, dass sie nicht mehr wie früher die angemessene Behandlung ihrer Augenkrankheit bekomme. "Das kann nicht sein", herrschte Grotthaus sie an, "wann war denn das? Vielleicht wie wir noch gar nicht an der Regierung waren?" Gelächter im Saal.

Ein anderer Versammlungsteilnehmer berichtete, dass er trotz mehrerer Bandscheibenvorfällen von seiner Krankenkasse keine medizinisch notwendige Matratze bekomme, sein Arzt ihm daher empfehle, die Kasse zu wechseln. "Da haben wir nichts mit zu tun, das ist Sache der Kassen", erwiderte Grotthaus. "Wechsle halt deine Krankenkasse, dafür haben wir den Wettbewerb". Empörung im Saal.

Auch andere widersprachen aufgebracht den platten Wahlkampfreden. Einem ehemaligem Bergmann der Zeche Concordia platzte schließlich der Kragen, als Grotthaus das "Problem" schilderte, das angeblich darin bestehe, dass immer weniger Arbeiter die Rentner, die nicht mehr arbeiten würden, bezahlen müssten: "Aber wir haben schon 40 Jahre gearbeitet und uns kaputtmalocht."

Grotthaus' Reaktion war stets dieselbe. Er fuhr den Rentnern über den Mund und stellte sie als unwissend dar, obwohl sie von ihren eigenen Erfahrung gesprochen hatten. Er erwiderte stets, er könne ihnen "ja einmal ein paar Unterlagen und Zahlen [von der SPD] zum Lesen geben" und darüber am nächsten Tag noch einmal sprechen. "Kollege, da weist du aber nicht so genau Bescheid." Diese in jahrzehntelanger Arbeit innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie erlernte Art, Kritiker abzukanzeln, erinnerte stark an die stalinistischen Bürokraten in der DDR, die auch gerne auf ihre Arbeitervergangenheit hinwiesen und daraus das Recht ableiteten, jeden mundtot zu machen.

Gegen Ende fragte der Autor dieser Zeilen wie er, Grotthaus, gedenke, gegen die Pharmaindustrie vorzugehen, die bekanntlich den größten Teil der Gesundheitsausgaben von 250 Millionen Euro verschlinge. Grotthaus hatte in der Diskussion angedeutet, dass dies etwa über eine Positiv- oder Negativliste bei Arzneimitteln notwendig sei, insbesondere da die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die ursprüngliche Budgetierung der Arzneimittelausgaben (Grotthaus: "Ein Fehler, das gebe ich zu.") wieder aufgehoben hatte.

Ich erinnerte ihn an sein Credo, das er auf seiner Website vorstellt: "Sage was du denkst und tue was du sagst". Ich bezweifelte, dass er und die SPD die Interessen der Wirtschaft den Bedürfnissen der Bevölkerung unterordnen. Die soziale Bilanz der SPD/Grünen-Bundesregierung zeige vielmehr, dass deren Politik - nicht nur in der Frage des Gesundheitssystems - im Interesse der Wirtschaft stehe. Zum Wirtschaftsminister sei gleich ein Manager gemacht worden, nämlich das ehemalige Veba-Vorstandsmitglied Werner Müller. Die SPD vertrete - anders als dies hier dargestellt werde - eben nicht die Interessen der Arbeiter. Darauf reagierte Wolfgang Grotthaus höchst aufgebracht, während die meisten Anwesenden eher Zustimmung signalisierten.

Wie ich mir dies hätte erlauben können, ihn den Kämpfer, so anzugehen, ihn, der 18 Jahre lang als Betriebsrat gearbeitet habe. "Eine Unverschämtheit ist das." Wieder hielt er ein Büchlein der SPD mit den Erfolgen der Bundesregierung hoch und wies mich an, dies erst einmal zu lesen. Meinen Hinweis auf Wirtschaftsminister Müller (parteilos) gedachte Grotthaus mit der Vita des Wirtschaftsmanns im Schattenkabinett des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber (CSU), Lothar Späth (CDU), zu kontern. Späth habe in Jena bei der von ihm übernommenen Firma Jenoptik erst Millionen an Subventionen kassiert und dann 16.000 "Arbeitsplätze freigesetzt".

Nicht nur ich fragte, was denn mit Babcock sei. "Dort werden auch Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut, von der SPD." Nun kam auf der Veranstaltung Leben auf. Grotthaus rief empört "Lüge", ich wies auf die Sozialdemokraten in Aufsichtsrat und Betriebsrat hin, unter deren Augen und Mitverantwortung die Arbeitsplätze abgebaut werden. "Unverschämtheit", entfuhr es Grotthaus, und er fügte wörtlich hinzu: "Ich möchte Sie einmal sehen, wenn sie im Aufsichtsrat im Frühjahr ein 100-prozentig stichhaltiges Testat des Wirtschaftsprüfers vorgelegt bekommen. Da können sie nur noch abnicken." Raunen, Empörung und ungläubiges Gelächter im Saal.

Der Moderator brach höflich aber bestimmt die Diskussion ab. Alle Kandidaten durften ein kurzes Schlussstatement abgeben, dann stellt der Diskussionsleiter zufrieden eine große Übereinstimmung unter den Podiumsteilnehmern fest.

Siehe auch:
Die Babcock Pleite
(20. Juli 2002)
Die Vorbereitungen für den Umbau des Gesundheitswesens laufen
( 7. Juli 2002)
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