Neue Studie der OECD

Die Kluft zwischen Arm und Reich hat von 1975 bis 1995 stark zugenommen

Die Einkommensunterschiede in den Industrieländern haben von Mitte der 1970er bis zur Mitte der 1990er Jahre stark zugenommen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OECD). Verlierer dieser Entwicklung waren Alleinerziehende und junge Menschen.

Die Autoren der Studie, Michael Förster und Mark Pearson, haben vorhandene Daten aus zwanzig Mitgliedsstaaten ausgewertet und verglichen.

Am Ende des Untersuchungszeitraums bezogen die ärmsten 30 Prozent der Bevölkerung in den beobachteten Ländern lediglich 5 bis 13 Prozent aller Einkommen - in Australien und Irland 5, in Großbritannien und Belgien 6, in den Niederlanden und den USA 8, in Deutschland 11 und in Japan 13 Prozent. Auf die reichsten 30 Prozent der Bevölkerung entfielen dagegen 55 bis 65 Prozent der Einkommen. Die größte Zunahme der sozialen Ungleichheit erfolgte in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den Niederlanden.

Bei diesen Zahlen wurden Einkommen aus Arbeit, soziale Transferleistungen und Einnahmen aus Kapitalanlagen und Selbständigkeit berücksichtigt.

Für die steigende Kluft zwischen Arm und Reich ist laut den Autoren weniger die Verarmung der ohnehin schon armen Schichten verantwortlich, als das starke Ansteigen der Einkommen der Reichen. Während die Löhne und Gehälter "relativ" gering gefallen oder gleichgeblieben sind, haben sich die Bruttoverdienste der oberen Schichten stark erhöht.

Wichtig sei bei dieser Entwicklung auch eine Konzentration der Beschäftigung in einzelnen Haushalten. "Es gibt mehr Haushalte, in denen alle Erwachsenen arbeiten, mehr Haushalte in denen kein Erwachsener arbeitet und weniger Haushalte, in denen ein Erwachsener arbeitet und einer nicht." 64,7 Prozent aller Haushalte (plus 4,1 Prozent) gelten als "vollbeschäftigt", 9,8 Prozent (plus 1,8 Prozent) als "beschäftigungslos".

[There are more households where all adults are working, more households where no adults are working, and fewer households where there is at least one adult working and one adult not working. / fully employed / workless]

Daraus lässt sich schließen, dass sich auf der einen Seite die Armut verfestigt (denn Arbeitslosigkeit ist damit gleichzusetzen) und auf der anderen Seite ein Arbeitseinkommen immer weniger dazu in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

In zahlreichen Stellungnahmen von Regierungen - insbesondere in Deutschland - wird betont, dass ein Großteil der Menschen, die als arm gelten (unter 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens), sich nur für kurze Zeit in dieser Lage befinden. Die beiden Autoren präsentieren Zahlen, die diese These zwar bestätigen, aber gleichzeitig deutlich machen, dass ein großer Teil der Bevölkerung in ständiger finanzieller Unsicherheit lebt.

In einigen ausgesuchten Ländern untersuchten sie die Armutszahlen über einen Zeitraum von sechs Jahren. In Deutschland gelten im jährlichen Durchschnitt 10,2 Prozent der Menschen als arm, in den USA 14,2 und in Großbritannien sogar 20 Prozent. In Deutschland waren 1,8 Prozent der Bevölkerung in jedem der sechs Jahre arm, in den USA 4,6 und in Großbritannien 6,1 Prozent. Aber jeder fünfte Einwohner Deutschlands (19,9 Prozent), jeder vierte US-Einwohner (26 Prozent) und mehr als jeder dritte Britte (38,4 Prozent) befand sich in dem untersuchten Zeitraum mindestens ein Mal in Armut. Armut ist in den reichsten Staaten der Erde demnach kein gesellschaftliches Randphänomen, sondern eine ständige Gefahr für einen Großteil der Bevölkerung.

Die Autoren stellen auch klar, dass Alleinerziehende und junge Leute die großen Verlierer der Ungleichheit in der Einkommensverteilung sind.

Bei den jungen Menschen machen die Autoren sowohl die längere Ausbildungszeit sowie die überproportional gestiegene Jugendarbeitslosigkeit dafür verantwortlich. Bei den Alleinerziehenden sei vor allem die weitverbreitete Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen schuld.

Die durchschnittlichen Einkommen der alleinerziehenden Mütter und Väter liegen zwischen der Hälfte (USA) und zwei Dritteln (skandinavische Länder und Griechenland) des Durchschnittseinkommens aller Menschen im arbeitsfähigen Alter. Mit Ausnahme von Schweden, wo neun Zehntel der Alleinerziehenden berufstätig sind, ist die weitverbreitete Arbeitslosigkeit unter ihnen dafür verantwortlich. Insbesondere in Deutschland ist die mangelhafte Betreuungsmöglichkeit von Kindern und damit die Erwerbsunfähigkeit der alleinstehenden Eltern Hauptfaktor für die Armut.

Gewinner sind hingegen die 41- bis 50-jährigen. Diese Altersgruppe erzielte in allen Ländern die höchsten Einkommen. Dennoch werden auch sie nicht von Armut verschont. Es gibt allerdings nur zwei Länder, in denen die Armutsrate in den untersuchten 20 Jahren in allen Altersgruppen angestiegen ist: die Niederlande und Großbritannien.

Die beiden OECD-Autoren haben auch die sozialen Transfer-Leistungen (Sozialstaatsausgaben, Subventionen) in den einzelnen Ländern untersucht. Solche Leistungen dienen vorwiegend dem Ziel, die Armut etwas zu mildern, zum Beispiel einen teilweisen Ausgleich für Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung zu leisten. Die Autoren haben aber festgestellt, dass auch sie nicht hauptsächlich den ärmsten Schichten zugute kommen.

In einigen Ländern - darunter Griechenland, Frankreich, Ungarn, Italien, Mexiko und Deutschland - erhalten die unteren 30 Prozent der Bevölkerung weniger als 30 Prozent der Sozialstaatsleistungen. Dort werden diese Leistungen nicht von Jung an Alt, von Arbeitenden an Arbeitslose oder von kinderlosen an kinderreiche Familien, kurzum von reicheren an ärmere Gruppen transferiert, sondern relativ "gleichmäßig" verteilt.

In Deutschland erhielten im Jahre 1994 die unteren 30 Prozent der Einkommensskala nur 28,5 Prozent aller sozialen Transferleistungen, ein Minus von 4,9 Prozent seit 1984. Der Transfer-Anteil bei den Rentnern im unteren Einkommensbereich betrug sogar weniger als 20 Prozent. Bedeutend besser schnitten die mittleren 40 Prozent der Einkommenstabelle ab - 42,2 Prozent, plus 4,1 Prozent. Aber selbst die oberen 30 Prozent, die reichen Bevölkerungsgruppen, erhielten mehr als die Armen, nämlich 29,2 Prozent, fast ein Prozent mehr als zehn Jahre zuvor.

Wenn Wirtschaft und Politik die "hohen sozialen Transferausgaben" bemängeln, haben sie stets nur die Armen im Sinn, vornehmlich Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe.

Die Zahlen der OECD-Untersuchung sind relativ alt und nur bedingt für internationale Vergleiche geeignet. So erklären die Autoren insbesondere, dass die Zahlen aus den USA aufgrund der angewandten statistischen Erhebungsmethoden nicht zwingend nachweisen, dass die Armut dort weniger ausgeprägt sei als etwa in Großbritannien. Im Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Regierung sei darüber hinaus die Erhebung einiger Superreicher, die rund 3 Billionen Euro ihr Eigen nennen, einfach weggelassen worden. Außerdem würde eine weitere Unterteilung der unteren und oberen Schichten noch eine weit drastischere Spreizung der Einkommen aufzeigen, insbesondere in den USA.

Die im Auftrag der OECD erstellte Studie belegt aufs Neue eine internationale Tendenz, die viele Menschen tagtäglich am eigenen Leibe erfahren: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die ersten Opfer sind Alleinerziehende, Kinder, junge und alte Menschen.

Siehe auch:
Kinderarmut in Deutschland
(30. Juni 2001)
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
( 16. Mai 2001)