Bundestagswahl 2002

SPD und Grüne knapp bestätigt

Mit einem knappen, aber eindeutigen Vorsprung hat die amtierende Koalition von SPD und Grünen am Sonntag die Bundestagswahl für sich entschieden.

Die beiden Regierungsparteien werden mit 306 Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Das sind vier mehr, als für die absolute Mehrheit erforderlich, und elf mehr als die 295 Abgeordneten von Union und FDP. Zwei Sitze entfallen auf die PDS, die erstmals seit der deutschen Vereinigung nicht mehr als Fraktion im Bundestag vertreten ist.

SPD und Union lagen am Ende der Auszählung mit 38,5% der abgegebenen Stimmen gleichauf. Die SPD blieb mit einem minimalen Vorsprung von 8864 Stimmen stärkste Partei und stellt dank vier Überhangmandaten erneut die stärkste Fraktion im Bundestag. Gegenüber der letzten Bundestagswahl vor vier Jahren hat die SPD 2,4% eingebüßt, während die Union 3,4% hinzugewann.

Den Ausschlag für die rot-grüne Mehrheit gaben die Grünen, die sich von 6,7 auf 8,6% verbesserten und damit deutlich vor der FDP lagen. Die Liberalen legten lediglich 1% zu und erreichten mit 7,2% ihr selbstgestecktes Ziel von 18% nicht annähernd.

Die PDS fiel von 5,1 auf 4% zurück und erreichte weder die 5-%-Marke noch die drei Direktmandate, die für den Einzug in den Bundestag erforderlich sind. Sie wird nur noch durch zwei Abgeordnete vertreten sein, die im Osten Berlins ein Direktmandat gewannen.

Die rechtsextremen Parteien - Republikaner, NPD und Schill-Partei - blieben alle deutlich unter 1%. Zusammen erreichten sie 1,8%. Die Wahlbeteiligung lag mit 79,1% etwas niedriger als bei der letzten Wahl.

Stoiber akzeptiert das Wahlergebnis nicht

Das endgültige Wahlergebnis zeichnete sich erst nach einer langen und merkwürdigen Nacht ab. Während der Wahlsieger sonst nach wenigen Minuten bekannt ist, sobald die Wahllokale um 18 Uhr schließen und die ersten Hochrechungen erscheinen, dauerte es diesmal mehrere Stunden, bis das Ergebnis feststand. Das vorläufige amtliche Endergebnis wurde erst gegen vier Uhr morgens veröffentlicht.

Bis nach Mitternacht schwankten die Hochrechnungen hin und her, wobei die Voraussagen der beiden großen öffentlichen Fernsehanstalten ARD und ZDF manchmal weit auseinander lagen. Das ZDF hatte schon um 18 Uhr ein Kopf-an-Kopf-Rennen von SPD und Union vorausgesagt, während die ARD zeitweise einen Vorsprung der Union von fast drei Prozent prophezeite.

Trotz des völlig unsicheren Wahlausgangs präsentierte die Union dem Fernsehpublikum während des gesamten Abends eine rauschende Siegesfeier. Stoiber ließ sich erst in Berlin an der Seite der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und anschließend in München von Parteimitgliedern frenetisch umjubeln. Selbst als die SPD in den Hochrechnungen immer näher an die Union heranrückte, verkündete er noch, die Union sei nun wieder stärkste Partei und stärkste Fraktion im Bundestag - was sich beides als falsch herausstellen sollte.

Kaum jemand hätte angesichts dieses Erfolgstaumels der Union geglaubt, dass sie gerade das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer gesamten Geschichte eingefahren hatte. Mit Ausnahme von 1998 hatten die Christdemokraten seit 1953 bei allen Bundestagswahlen immer deutlich über 40% gelegen und waren nur zwei Mal - 1972 und 1998 - von der SPD übertroffen worden.

Als Stoibers Niederlage am frühen Montagmorgen schließlich unwiderruflich feststand, wurde deutlich, dass sein siegessicheres Auftreten keinem Missverständnis entprang. Er ist nicht bereit, das Votum der Wähler zu akzeptieren, die ihn für vier Jahre in die Opposition verwiesen haben.

In einem Interview des ZDF erklärte er, es sei angesichts der knappen Mehrheit von SPD und Grünen zu erwarten, dass die neue Regierung mit den wirtschaftlichen Problemen Deutschlands nicht fertig werde. Darüber hinaus sei sie außenpolitisch isoliert. "Ich gebe der Regierung nicht lange Zeit," sagte er und behauptete, die Union habe einen "strategischen Sieg" errungen, "der dazu führen wird, dass die Regierung keine vier Jahre durchhalten kann. Binnen Jahresfrist werden wir die Regierung neu bilden können."

Auch der ARD sagte Stoiber, er werde als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehen, sollten SPD und Grüne vorzeitig die Macht verlieren.

Das ist eine offene Drohung, die aus der Wahl hervorgegangene Regierung so bald wie möglich zu stürzen. Das Argument von der knappen Mehrheit ist dabei völlig abwegig. Die Union hat unter Adenauer mit der Mehrheit von einer Stimme und unter Kohl mit der Mehrheit von vier Stimmen regiert, ohne dass dies zu größeren Problemen führte.

Stoiber tritt so selbstbewusst auf, weil er die großen Wirtschaftsverbände und die amerikanische Regierung hinter sich weiß.

Die US-Regierung hatte bereits unmittelbar vor dem Urnengang massiv zugunsten Stoibers in den Wahlkampf eingegriffen, als sie eine unbedachte Äußerung der Justizministerin Herta Däubler-Gmelin zu heftigen Attacken gegen die Regierung Schröder nutzte. Am Tag nach der Wahl setzte sie ihr brüskes Verhalten fort. Am Montag Nachmittag stand eine offizielle Gratulation Washingtons zum Wahlsieg immer noch aus, was nach Auffassung der Süddeutschen Zeitung "als Abweichung von den diplomatischen Ritualen einer Ohrfeige für Schröder gleichkommt".

Auch viele Wirtschaftsführer reagierten abweisend auf das Wahlergebnis. Der Spiegel fasst ihre Reaktion in die Worte: "Schlimmer hätte es nicht kommen können". Der Chefanalyst einer Privatbank meinte: "Aus Börsensicht ist das eine unangenehme Situation." Eine nur hauchdünne Mehrheit für die künftige Bundesregierung könne die schwache Wirtschaftslage und miese Börsenstimmung weiter verschlechtern. Der wichtigste deutsche Aktienindex DAX gab im Laufe des Tages über fünf Prozent nach.

Votum gegen Irakkrieg

Die Ursachen für diese feindselige Reaktion werden deutlich, wenn man das Wahlergebnis genauer untersucht. Noch vor wenigen Wochen waren alle Umfragen von einem sicheren Erfolg Stoibers ausgegangen. Das Blatt wandte sich erst, als Schröder offen gegen die Kriegspläne der US-Regierung auftrat. Das Votum für Rot-grün ist eine klare Absage an die Pläne der Bush-Regierung, Krieg gegen den Irak zu führen

Das wird auch von Schröders Gegnern anerkannt. Günther Beckstein, Stoibers Spezialist für Innenpolitik, beschwerte sich darüber in einer Fernsehrunde: Das sei das wichtigste Thema an den Infoständen der Union gewesen. Wähler hätten gefragt, ob es wahr sei, dass eine Stimme für die Union eine Stimme für Krieg sei.

Die Mobilisierung gegen die Kriegsgefahr brachte auch Wähler auf die Beine, die sich resigniert aus der Politik zurückgezogen hatten. Sie stimmten nun aus Protest gegen den wirtschaftsfreundlichen Kurs Stoibers wieder für die SPD.

Eine Karte der Erstimmenergebnisse liest sich wie eine Karte des sozialen Gefälles in Deutschland. Sie zeigt nicht nur eine scharfe Polarisierung zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. (Karte: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,214492,00.html)

Im Süden, wo die Einkommen am höchsten und die Arbeitslosenrate am niedrigsten ist, gingen fast alle Direktmandate an die Union. In Bayern hat die CSU gegenüber 1998 einen Zuwachs von 11 Punkten erzielt und fast 60% erreicht. Vom bundesweiten Zuwachs der Union entfallen 2,2% allein auf Bayern und damit auf die CSU. In den restlichen Bundesländern hat die CDU lediglich um 1,1% zugelegt.

Das bayrische Ergebnis hat einige Verwunderung ausgelöst. Innenminister Otto Schily verwies in der ARD vielsagend auf Dachau, wo die CSU bei der Kommunalwahl im April in großem Stil Wahlfälschungen organisiert hatte.

In Baden-Württemberg, dem zweiten südlichen Bundesland, war der Erfolg der Union mit 43% weniger spektakulär, aber auch dort fielen mit Ausnahme einiger großstädtischer Wahlkreise alle Direktmandate an die CDU.

In den westlichen Bundesländern befinden sich die meisten Städte in SPD-Hand, während die CDU vorwiegend ländliche Wahlkreise eroberte. Im Ruhrgebiet, wo die SPD in den vergangenen Jahren viele Rathäuser an die CDU verlor, büßt sie zwar gegenüber 1998 einiges ein, erzielte aber dennoch Ergebnisse zwischen 50 und 60%. Viele enttäuschte SPD-Wähler haben wieder sozialdemokratisch gestimmt. In Hessen, wo CDU und FDP 1999 die rot-grüne Landesregierung abgelöst hatten, erreichten SPD und Grüne zusammen über 50%.

Die Grünen haben vor allem in den Großstädten hinzugewonnen und vielfach zweistellige Ergebnisse erzielt. Viele Mitglieder der städtischen Mittelschichten haben aus Protest gegen einen Irakkrieg für die Grünen gestimmt, die ihren Wahlkampf ganz auf Außenminister Joschka Fischer abgestimmt hatten.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Erfolg von Hans-Christian Ströbele, der in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg erstmals ein Direktmandat für die Grünen gewann. Ströbele, der abweichend von der Fraktion sowohl gegen die deutsche Beteiligung am Kosovo- wie am Afghanistan-Krieg gestimmt hatte, war von der Parteiführung auf einen aussichtlosen Listenplatz gesetzt worden und ist nun gegen deren Willen über das Direktmandat in den Bundestag zurückgekehrt.

Die nördlichen und östlichen Bundesländer befinden sich vollständig in SPD-Hand. Eine Ausnahme bildet lediglich Sachsen und vereinzelte Wahlkreise an der Küste. Im Osten gewann die SPD 4,6% hinzu und erreichte fast 40 Prozent der Stimmen, mehr als im Westen, wo sie 4% verlor. Die Union erzielte im Osten dagegen nur 28%, während sie im Westen mit 41% stärkste Partei ist.

Die PDS erreichte im Westen, wo sie nie hatte Fuß fassen können, 1,1%. Im Osten verlor sie jeden vierten Wähler und kam noch auf 16,8%. Rund 300.000 PDS-Wähler wechselten zur SPD, weitere 300.000 blieben zuhause. Die PDS hat ihre Fähigkeit, sich als Partei des sozialen Protests darzustellen, weitgehend eingebüßt, seit sie in der Regierungsverantwortung drastische Sozialkürzungen mitträgt. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wo sie sich in den letzten Jahren an der Regierungsarbeit beteiligt hatte, waren die Verluste am höchsten.

Gespaltene Gesellschaft

Das Wahlergebnis ergibt das Bild einer tief zerrissenen und gespaltenen Gesellschaft. Die regionalen und politischen Gegensätze, die darin zum Ausdruck kommen, sind eine verzerrte Widerspiegelung scharfer Klassengegensätze. Indem sie die Kriegsfrage zum Wahlkampfthema machten, haben SPD und Grüne Erwartungen geweckt, die sie nur schwer wieder dämpfen können.

Das ist der Grund für die Skepsis und offene Feindschaft, die der Regierung aus Washington und aus Wirtschaftskreisen entgegenschlägt. Ein Kommentar, den der Spiegel zum Wahlausgang veröffentlichte, hat dies zynisch auf den Punkt gebracht. "Vor vier Jahren hatten die Deutschen Schröder gewählt, weil sie Veränderung wollten," heißt es dort. "Heute haben die Wähler für ihn gestimmt, weil er vielen als Garant dafür gilt, sie vor großen Veränderungen zu bewahren. Zu befürchten ist, dass Schröder seine Wähler nicht enttäuschen wird."

Nach den Erfahrungen der letzten vier Jahre kann es keinen Zweifel geben, dass SPD und Grüne alles tun werden, um den Erwartungen, die die Wirtschaft in sie setzt, nachzukommen. Schon am Wahlabend war das häufigste Wort, das von den sozialdemokratischen und grünen Vertretern zu hören war, "Disziplin". Eine knappe Mehrheit sei kein Nachteil, versicherten sie, sondern helfe, die Faktion zu disziplinieren.

Am Montag hat Herta Däubler-Gmelin auf Druck des Kanzlers ihren Rücktritt eingereicht, um die US-Regierung zu beschwichtigen. Generalsekretär Franz Müntefering, bekannt für seinen Feldwebelstil, wird die Leitung der Bundestagsfraktion übernehmen und dort für Ordnung sorgen. Schon jetzt steht fest, dass der neue Koalitionsvertrag viele Kürzungsmaßnahmen enthalten wird, die mit Rücksicht auf die Bundestagswahl zurückgestellt wurden.

Siehe auch:
Baut eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse auf!
(19. September 2002)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2002 enthalten.)
Loading