WSWS-Veranstaltung gegen Irakkrieg an der Berliner Humboldt-Universität

"Die europäische Linke unterschätzt die Stärke der amerikanischen Arbeiterklasse"

Am 4. November lud die World Socialist Web Site zu einer Diskussionsveranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität über eine politische Strategie gegen den Krieg im Irak ein. Der Hörsaal war gut besucht, als der aus den USA angereiste Chefredakteur der WSWS, David North, seine Ausführungen begann. Seine Rede löste eine zum Teil heftige Diskussion aus.

North begann mit einem Blick auf die "tragischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts". Während es unter Politikern und Journalisten üblich ist, sehr oberflächlich auf unmittelbare Ereignisse zu reagieren und größere politische und historische Zusammenhänge zu ignorieren, erklärte North: "Wir leiten unsere politische Einschätzung nicht aus den jüngsten Nachrichten oder Schlagzeilen ab. Vielmehr stützen sich unsere politischen Standpunkte auf die historische Erfahrung - insbesondere auf die politischen Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts."

"Wie sah die Lage vor hundert Jahren aus?" fragte North und antwortete: "Unter der Oberfläche von wirtschaftlichem Reichtum und scheinbarem Aufschwung entwickelte der europäische Imperialismus jene Widersprüche, die zum größten Blutbad der bisherigen Geschichte führten. Wer hätte sich im Berlin der Jahre 1902 oder 1903 vorstellen können, was in den folgenden zwanzig oder dreißig Jahren in dieser Stadt oder diesem Land geschehen würde?"

Nur die herausragendsten Marxisten jener Zeit seien in der Lage gewesen, eine klare Orientierung zu geben, und zwar deshalb - so North - weil sie die Tagesereignisse im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung betrachtet hätten.

"Die Welt ist Augenblick und Beziehung", fuhr North fort. "Alle Ereignisse beinhalten und sind Ausdruck von grundlegenden historischen Prozessen. Wenn wir von einer wissenschaftlichen Perspektive sprechen, dann meinen wir damit, dass es einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen den von uns benutzten Begriffen und den objektiven Entwicklungstendenzen der Gesellschaft gibt."

Die Stärke der sozialistischen Arbeiterbewegung bestehe gerade in ihrer Fähigkeit, eine Praxis zu entwickeln, die sich auf ein korrektes Verständnis der objektiven sozioökonomischen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft stütze. Währende umgekehrt die grundlegende Schwäche der Bourgeoisie als gesellschaftliche Klasse darin bestehe, dass sich ihre subjektiven Ziele und Klasseninteressen in unlösbarem Gegensatz zu objektiven gesellschaftlichen Entwicklung befänden. Dieser Widerspruch drücke sich in den zum Teil absurden, von Selbsttäuschung geprägten Vorstellungen aus, die gegenwärtig tagein tagaus in amerikanischen Zeitungen und Medienkommentaren erschienen.

Der Redner legte dann dar, dass die Kriegsvorbereitungen der Bush-Regierung und die damit verbundenen Weltmachtpläne auf einer krassen Fehleinschätzung der internationalen politischen Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor zwölf Jahren beruhen. Der Kollaps der Sowjetunion habe keinen "Sieg im Kalten Krieg" bedeutet, sondern alle ungelösten Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt.

"Der Schein trügt!" erklärte North. "Die waffenstrotzende Militärpolitik der amerikanischen Regierung und ihr rücksichtsloses und selbstherrliches Auftreten gegenüber ihren bisherigen Verbündeten basiert nicht auf Stärke, sondern auf Schwäche."

Angesichts der wachsenden Wirtschaftsprobleme in den USA fühle sich die herrschende Elite in Washington von ihren internationalen Konkurrenten bedroht und nutze ihre Militärmacht, um ihre Dominanz in der Weltpolitik aufrechtzuerhalten. Vor allem innenpolitisch spiele die Kriegsvorbereitung eine wichtige Rolle. Die Bush-Regierung habe keine Antwort auf die dramatische Zunahme sozialer Spannungen und Konflikte in der Gesellschaft. Ihre Versuche, patriotische Stimmungen zu schüren, liefen bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ins Leere. Gleichzeitig nutze die Regierung den sogenannten "Krieg gegen den Terror", um grundlegende demokratische Rechte abzuschaffen.

Gestützt auf jüngste Statistiken und Sozialstudien gab North ein deutliches und erschreckendes Bild über den sozialen Niedergang, der in den USA in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Während sich an der Spitze der Gesellschaft ein bisher nie gekannter verschwenderischer Reichtum angesammelt hat, werden die Lebensbedingungen für die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in wachsendem Masse unerträglich. Zwar könnten sich die wachsenden sozialen Spannungen nicht in bisher bekannten Formen entladen, weil alle Gewerkschaften und Parteien sich völlig gegen die Interessen der Arbeiter stellten, doch sei eine soziale Explosion in den USA völlig unvermeidbar.

Diesen Teil seiner Rede leitete North mit der Feststellung ein: "Die europäische Linke unterschätzt seit Jahren die Stärke der amerikanischen Arbeiter." Auch das feige, unterwürfige Verhalten, das Außenminister Joschka Fischer (Grüne) bei seinem jüngsten Besuch in Washington an den Tag legte, habe seine Ursache in einer solchen Unterschätzung der inneren Widersprüche und Konflikte in der amerikanischen Gesellschaft, beziehungsweise einer Überschätzung der scheinbar unbesiegbaren Macht der US-Regierung.

North fuhr fort:

"Lassen Sie mich als amerikanischer Sozialist Folgendes sagen: Vielleicht stimmen Sie mir in vielen Fragen zu, und vielleicht haben Sie auch hier in Deutschland über die wachsende wirtschaftliche und soziale Krise in Amerika gelesen, die eine wichtige Triebkraft der gegenwärtigen Kriegsentwicklung bildet. Aber eine Frage steht nach wie vor im Raum: Gibt es wirklich eine gesellschaftliche Kraft, die in der Lage ist, diesen Krieg zu stoppen, wenn die amerikanische Regierung entschlossen ist, ihn zu führen? Unsere Antwort darauf ist ein uneingeschränktes Ja.

Eine ernsthafte Opposition gegen den Krieg muss sich der Arbeiterklasse zuwenden. Sie muss anerkennen, dass es in den USA eine revolutionäre Kraft gibt, die trotz der gegenwärtigen politischen Verwirrung in breiten Teilen der Bevölkerung eine fortschrittliche Lösung der gesellschaftliche Krise herbeiführen kann. Wer das ablehnt, verfällt entweder in völligen Pessimismus und Hoffnungslosigkeit oder endet bei Illusionen in die Friedfertigkeit der eigenen Regierung.

Die zweite wichtige Grundlage eines Kampfes gegen Krieg besteht darin, dass diese Opposition international sein muss. Die Tatsche, dass bereits in diesem frühen Stadium der Oppositionsbewegung sich internationale Formen des Widerstands herausbilden, ist eine Quelle großen Optimismus. Die Globalisierung der Produktion schafft die objektiven Voraussetzungen für eine bewusste Internationalisierung des Klassenkampfs.

Mit anderen Worten: Notwendig ist ein international koordiniertes Vorgehen der Arbeiterklasse gegen Militarismus und Krieg auf der Grundlage eines Programms, das sich gegen den Kapitalismus richtet und die Kriegsfrage mit der sozialen Frage verbindet. Das ist der Kernpunkt unserer Orientierung."

In der folgenden Diskussion ergriff ein Vertreter des "Irakischen Oppositionskomitees" das Wort und warf dem Redner vor, er habe sich hinter die irakische Regierung gestellt und verteidige ein Regime, das mit Terror herrsche. Er unterstützte die US-Kriegsvorbereitungen und rief erregt, die Geschichte habe gezeigt, dass "Faschismus nur durch Gewalt besiegt werden kann."

Die Antwort von David North fand in der Versammlung starken Beifall:

"Unsere Opposition gegen den Krieg bedeutet nicht, dass wir die Politik von Saddam Hussein unterstützen. Aber wir vertrauen den Kampf gegen Saddam Hussein nicht dem Imperialismus an. Unsere Bewegung - das Internationale Komitee der Vierten Internationale - bekämpfte bereits das Regime von Saddam Hussein, als dieser von der amerikanischen Regierung stark unterstützt wurde. Als Hussein in den siebziger Jahren an die Macht kam, wurde dies von der amerikanischen Regierung mitgetragen, weil sie in ihm eine wichtige Stütze im Kampf gegen sozialistische Bewegungen im Nahen Osten sahen. Auch in den achtziger Jahren halfen sie ihm im Krieg gegen den Iran.

Daher ist jede Politik, die versucht, die Probleme der irakischen Bevölkerung mit Hilfe des amerikanischen Imperialismus zu lösen, völlig bankrott. In allen unterentwickelten Ländern hat der Imperialismus eine blutige und reaktionäre Tradition. Die Demokratie wird nicht durch amerikanische Bomben und ein Massaker an Tausenden Menschen in den Irak kommen. Jeder Iraker, der sich in diesem Krieg mit dem amerikanischen Imperialismus verbündet, macht sich des schlimmsten Verrats schuldig.

Die irakisch Arbeiterbewegung hat eine lange Geschichte. Sie verfügte über eine der stärksten Kommunistischen Parteien der Welt, die durch die Politik des Stalinismus in eine Katastrophe geführt wurde. Man muss politisch schon sehr naiv sein und einer unglaublichen Selbsttäuschung unterliegen, wenn man annimmt, der amerikanische Imperialismus, der Krieg führt, um die irakischen Ölreserven zu stehlen und sich anzueignen, verfolge irgendwelche Ziele im Interesse des irakischen Volks."

Zwei Jugendliche, die Attac nahe stehen, wollten wissen, was jetzt sofort konkret getan werden müsse, um die Kriegsentwicklung zu stoppen. North antwortete:

"Wir sind keine politischen Wunderheiler und halten es für falsch, nach Abkürzungen zu suchen, um den langen und schwierigen Kampf zu umgehen, eine neue politische Führung in der Arbeiterklasse aufzubauen. Das große Problem, mit dem wir heute überall auf der Welt konfrontiert sind, ist eine Krise der politischen Perspektiven. Alle großen Organisationen, die in der einen oder anderen Art und Weise behauptet haben, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, haben sie völlig verraten. Das ist das tragische Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts.

Unsere Perspektive besteht im Aufbau einer internationalen revolutionären Partei. Und wir tun das unter Bedingungen, unter denen Millionen Menschen überall auf der Welt keine politische Heimat mehr haben. Sie haben keine Organisationen mehr, die direkt ihre Interessen ansprechen.

Wir durchleben gegenwärtig eine Periode grundlegender Veränderungen der Weltwirtschaft, und die Geschichte lehrt uns, dass derartige Veränderungen unweigerlich auch neue politische Formationen entstehen lassen. Es gibt keinen Weg darum herum, die Arbeiterklasse in den Kampf gegen den Krieg hinein zu ziehen, und das ist nur möglich, wenn man den Kampf gegen Krieg mit den großen sozialen Problemen verbindet, denen die Arbeiter heute überall auf der Welt gegenüber stehen. Die einzig realistische Perspektive im Kampf gegen Krieg besteht darin, die Arbeiterklasse als politische Kraft zu mobilisieren, unabhängig von allen bürgerlichen Parteien, einschließlich der Grünen."

Siehe auch:
Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft
(10. Oktober 2002)
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