AKP-Führer Erdogan gewinnt Nachwahl in Siirt

Recep Tayyip Erdogan, der Führer der islamischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), kann nun türkischer Premierminister werden. Am Sonntag gewann er bei einer Nachwahl in der Provinz Siirt einen Parlamentssitz, nachdem ihm die Wahlteilnahme im vergangenen November wegen einer Vorstrafe noch verwehrt worden war. Es wird allgemein erwartet, dass Erdogan seinen Statthalter Abdullah Gül in einigen Tagen an der Spitze der Regierung ablösen wird.

Noch bevor Erdogan den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht hat, ist seine Popularität allerdings bereits schwer angeschlagen. Seit das Parlament am 1. März den Aufmarsch amerikanischer Truppen gegen den Irak ablehnte, war er nämlich gezwungen, weit offener als ihm lieb war zugunsten der US-Regierung Stellung zu beziehen. Er wird das Parlament vermutlich ein zweites Mal über den amerikanischen Aufmarsch und die türkische Beteiligung am Krieg gegen das Nachbarland abstimmen lassen - was die AKP in eine Zerreißprobe stürzen könnte.

Erdogan, der sich selbst als Pazifist bezeichnet, verdankte den überragenden Wahlsieg seiner Partei im November dem Umstand, dass er der Bevölkerung inneren und äußeren Frieden und eine Verbesserung der sozialen Lage versprach. Gleichzeitig gab er dem militärischen und wirtschaftlichen Establishment zu verstehen, dass er sich nicht mit ihm anlegen werde - schon gar nicht, wenn es um das "nationale Interesse" geht.

Im Konflikt zwischen den USA und dem Irak gestaltet sich dieses "nationale Interesse" nun folgendermaßen: Erstens will die türkische Armee beim Einmarsch in den Nordirak unbedingt dabei sein, um die Kurden zu entwaffnen, die Entstehung eines eigenständigen Kurdenstaats zu unterbinden und sich ein Mitspracherecht über die Ölquellen von Kirkuk und Mossul zu sichern. Zweitens braucht die türkische Wirtschaft die 30 Milliarden Dollar Zuschüsse und Kreditbürgschaften, mit denen Washington im Falle einer Kriegsbeteiligung lockt. Ansonsten, fürchtet man, werden die Folgen des Krieges schrecklich sein. Der Verband der türkischen Börsen und Handelskammern rechnet schon jetzt mit wirtschaftlichen Einbussen von 16,6 Milliarden Dollar - egal, ob das Land den Krieg unterstützt oder nicht.

Diese Fragen werden in der türkischen Presse ganz offen und ohne falsche Scham diskutiert. Auch das Sprachrohr der Kriegstreiber in Washington hat Ankara unverhohlen darauf hingewiesen, was auf dem Spiele steht: "Selbst wenn man das dringend benötigte Geld (und Wohlwollen der USA) einmal beiseite lässt", schreibt das Wall Street Journal, "würde die Türkei ebenso wie jede andere Nation aus einem Nachbarn Irak Nutzen ziehen, der frei von Diktatur und UN-Sanktionen ist. Die Türkei würde sich einen größeren Einfluss auf einen Nachkriegsirak sichern, besonders beim Umgang mit den Kurden... Jetzt sind die USA in jeder Hinsicht berechtigt, die türkischen Wünsche zu ignorieren und nach dem Krieg militärisch und politisch mit den Kurden zusammenzuarbeiten. Und die Türken können ihren Anteil an der irakischen Ölbeute vergessen."

Das Problem besteht darin, dass die öffentliche Meinung in der Türkei überhaupt nicht mit dem "nationalen Interesse" übereinstimmt. Laut einer Umfrage lehnen 94 Prozent der Bevölkerung einen Krieg gegen den Irak ab. Erdogan musste sich also entscheiden. Er konnte nicht länger den Pazifisten und Volkstribun spielen und gleichzeitig das "nationale Interesse" der Militär- und Wirtschaftselite verteidigen. Und er hat sich entschieden.

Er solidarisierte sich offen mit Generalstabschef Hilmi Özkök, der sich auf die Seite der USA gestellt hat. Unter der schützenden Hand der türkischen Armee wurden in den letzten Tagen amerikanische Truppen vom Mittelmeerhafen Iskenderun in die Osttürkei verlegt, als habe es nie eine anderweitige Parlamentsentscheidung gegeben. Außerdem sollen türkische Panzer und Soldaten auch schon die Grenze zum Nordirak überschritten haben.

Noch am Wahltag traf sich Erdogan mehrere Stunden lang mit dem amerikanischen Botschafter Robert Pearson, der ihm unverblümt sagte, was die Türkei zu tun habe. Laut der Zeitung Milliyet erklärte Pearson, die USA wollten den Krieg in zehn Tagen beginnen und die Türkei müsse deshalb "so früh wie möglich ihre Entscheidung treffen". Erdogan habe daraufhin lediglich verlangt, dass ihm keine Ultimaten gesetzt werden.

Es gilt jedoch als ausgemacht, dass er alles tun wird, um den Forderungen der USA, des Militärs und der Wirtschaft nachzukommen. Laut einem Bericht der Zeitung Hürriyet sollen im Rahmen der Regierungsumbildung die vier Minister entlassen werden, die am 1. März gegen die Stationierung amerikanischer Truppen gestimmt haben.

Auch prominente Kriegsgegner aus den Reihen der AKP im Parlament kippen bereits um. So hat Parlamentspräsident Bülent Arinc erklärt, eine zweite Abstimmung mit einem "positiven" Ergebnis würde das Ansehen des Parlaments nicht beeinträchtigen: "Jeder würde es respektieren." Und Mehmet Elkatmis, Leiter der parlamentarischen Menschenrechtskommission, prophezeite: "Ich kann mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, wenn der Antrag dem Parlament wieder vorgelegt wird, kommt er durch."

Die Regierung hatte die Abgeordneten unmittelbar nach der verlorenen Abstimmung über den Irak-Krieg mit einem Sparhaushalt unter Druck gesetzt, der die Erhöhungen indirekter Steuern vorsieht - u.a. sollen die Sozialabgaben der Beschäftigten im öffentlichen Dienst erhöht, die Agrarsubventionen für die Bauern verringert und die Autobahn- und Brückengebühren verteuert werden. Offenbar hatte die Regierung die amerikanischen "Kriegsentschädigungen" bereits fest in ihren Haushalt eingeplant.

Bei der Nachwahl in Siirt scheint das Eintreten für den Krieg Erdogan vorerst nicht geschadet zu haben. Die AKP vereinte knapp 85 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich und gewann damit alle drei Abgeordnetensitze, die neu vergeben wurden, nachdem es in dem Wahlbezirk im November zu Unregelmäßigkeiten gekommen war.

Man sollte sich allerdings keine falschen Vorstellungen über den demokratischen Charakter dieser Wahl im kurdischen Ostanatolien machen, das von bitterer Armut und Arbeitslosigkeit geprägt ist. Zugelassen waren nur die beiden Parteien, die im November auf nationaler Ebene die äußerst diskriminierende Zehn-Prozent-Hürde überwunden hatten und im Parlament vertreten sind: Die AKP und die in der Tradition des Kemalismus stehende CHP.

Die AKP hatte im November in Siirt nur 18 und die CHP 9 Prozent der Stimmen erhalten. Wahlsieger war die kurdisch nationalistische DEHAP, die es auf 33 Prozent brachte, aber an der nationalen Zehn-Prozent-Hürde scheiterte. Diesmal rief die DEHAP zum Wahlboykott auf und hatte damit einigen Erfolg: Über 40 Prozent der Wahlberechtigten blieben den Urnen fern oder gaben ungültige Stimmzettel ab.

Laut türkischen Medienberichten haben außerdem lokale Erwägungen zu Erdogans Wahlerfolg beigetragen. Viele Wähler hofften auf eine bessere Behandlung der Region, wenn der Premierminister aus dem eigenen Wahlkreis stammt - auf den sogenannten Özal-Effekt. Turgut Özal, der aus dem südostanatolischen Malatya stammte, lenkte reichliche staatliche Gelder und Bauprojekte in seine Heimat, als er von 1989 bis 1993 der Regierung vorstand.

Trotz seinem Wahlerfolg in Siirt und dem Druck, der von allen Seiten auf die Abgeordneten ausgeübt wird, muss Erdogan nach wie vor mit Problemen rechnen, wenn er eine zweite Kriegsresolution im Parlament einbringt. Vor allem das voraussichtliche Scheitern einer zweiten UN-Resolution, die den Krieg ausdrücklich legitimiert, kompliziert seine Aufgabe. Das angekündigte russische und französische Veto gibt auch den Kriegsgegnern in der Türkei wieder Aufwind.

Erdogan sieht sich so gezwungen, seine eigene Zukunft mehr und mehr mit der Politik und dem Kriegsglück der USA zu verbinden. Wenige Monate nach dem triumphalen Wahlerfolg, der seiner Partei die absolute Mehrheit im Parlament einbrachte, beginnt die Fassade der AKP zu bröckeln. An die Regierungsmacht gespült von der Unzufriedenheit der Armen in Stadt und Land, verkauft sie sich den USA als Söldner und klammert sich, zu Tode erschreckt über die Opposition der Bevölkerung, an die Stiefel der Militärs.

Siehe auch:
Türkisches Parlament widersetzt sich US-Kriegsplänen
(4. März 2003)
Weshalb die türkische Regierung die USA gegen den Irak unterstützt
( 7. Januar 2003)
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