Attac Berlin hält an politischer Zensur fest

Attac Berlin hat in der Jungen Welt vom 3. April auf den Offenen Brief der Redaktion der World Socialist Web Site vom 26. März geantwortet. Die WSWS hatte in dem Brief dagegen protestiert, dass zwei Vertreter von attac ihrem Redaktionsmitglied Ulrich Rippert auf der Berliner Friedensdemonstration vom 22. März kurzfristig Redeverbot erteilt hatten. (siehe: http://www.wsws.org/de/2003/mar2003/atta-m26.shtml).

Die Stellungnahme von attac Berlin geht mit keinem Wort auf die politischen Gründe ein, mit denen Carl-Friedrich Waßmuth und Jan Sievers das Redeverbot gerechtfertigt hatten. Stattdessen bringt sie eine Reihe organisatorischer Vorwände vor, die zum größten Teil schlicht unwahr sind. Attac Berlin bestätigt damit den Vorwurf der politischen Zensur: Die Organisation nutzt ihren organisatorischen Einfluss auf die Friedenskundgebungen, um bestimmte, ihr nicht genehme Standpunkte mit bürokratischen Mitteln zu unterdrücken.

In der Stellungnahme von attac wird erklärt, die WSWS sei "in Friedenskreisen bis dahin völlig unbekannt gewesen", ihre Mitarbeiter seien erst "wenige Tage vor der Demonstration erstmals im Plenum aufgetaucht" und es sei völlig normal, "am Tag der Kundgebung keine unbekannten Redner mehr in die Rednerliste aufzunehmen". Außerdem müssten die Organisatoren dafür sorgen, dass "Kundgebungen nicht mehrere Stunden dauerten". All diese Behauptungen sind nachweislich unwahr oder gehen völlig am Kern der Sache vorbei.

Tatsache ist, dass Ulrich Rippert bereits am 21. Januar in einem Brief an das Aktionsbündnis 15. Februar, zu dessen Trägerkreis auch die "Achse des Friedens" und attac gehören, einen Redebeitrag der WSWS beantragt hatte. Seit Anfang März nahmen dann Vertreter der WSWS regelmäßig an den wöchentlichen Treffen der "Achse des Friedens" teil. Dort war die WSWS - eine der meistgelesenen internationalen Web Sites, die eindeutig Stellung gegen den Krieg beziehen - sehr wohl bekannt.

Auf dem Treffen vom 20. März beschloss die "Achse des Friedens" mehrheitlich, dass ein Vertreter der WSWS auf der Kundgebung vom 22. März sprechen solle. Dies wurde im Protokoll vermerkt und auf der nachfolgenden Sitzung vom 27. März - d.h. nachdem Ripperts Beitrag unterdrückt worden war - noch einmal ausdrücklich bestätigt. Angesichts dieses Sachverhalts wurde zu Beginn der Demonstration Ulrich Rippert als zweiter von insgesamt drei Rednern festgelegt. Neben ihm befanden sich ein Vertreter der Gruppe "Schüler gegen den Krieg" und der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele auf der Rednerliste.

Es kann also keine Rede davon sein, dass die WSWS den Organisatoren nicht bekannt war, sich erst am Tag der Kundgebung um die Aufnahme in die Rednerliste bemühte oder - bei lediglich drei vorgesehnen Rednern! - aus Zeitgründen nicht sprechen konnte. Vielmehr rechtfertigten die beiden Vertreter von attac, Carl-Friedrich Waßmuth und Jan Sievers, das Redeverbot mit rein politischen Argumenten.

Sie erklärten, dass ein Flugblatt der WSWS mit den politischen Standpunkten von attac nicht zu vereinbaren sei. Insbesondere sei es "unverantwortlich", den Angriff der USA auf den Irak mit dem Blitzkrieg der Nationalsozialisten gegen Polen im Jahr 1939 zu vergleichen. Das sei "völlig übertrieben". Wenn das auf der Kundgebung gesagt würde, könne das nicht nur attac schaden, "sondern auch ein völlig falsches Zeichen in Richtung USA senden".

Es ist bezeichnend, dass attac Berlin in ihrer Stellungnahme mit keinem Wort auf diese Begründung eingeht, mit der der Redebeitrag von Ulrich Rippert unterdrückt wurde. Wir hatten schon im Offenen Brief erwähnt, dass der Vergleich mit 1939 vielleicht von der Bush-Regierung als "falsches Zeichen" aufgefasst werde, nicht aber von den zahleichen Kriegsgegnern in der Vereinigten Staaten. Und wir hatten darauf hingewiesen, dass ein derartiger Vergleich der Bundesregierung höchst ungelegen kommt.

Seit Kriegsbeginn bemüht sich die Bundesregierung intensiv darum, das angespannte Verhältnis zur US-Regierung wieder zu normalisieren. Sie hat ihre Opposition gegen den Irakkrieg praktisch aufgegeben und äußert nur noch die Hoffnung auf ein möglichst schnelles Ende des Krieges, was unter Umständen, unter denen sie den Angreifern uneingeschränkte Überflug- und Nutzungsrechte für die Basen in Deutschland gewährt, gleichbedeutend mit der Hoffnung auf einen schnellen amerikanischen Sieg ist. "Wir dürfen nie vergessen," sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung vom 3. April, "dass es sich bei jenen Staaten, die jetzt den Krieg gegen den Irak anführen, um Bündnispartner und befreundete Nationen handelt".

Gleichzeitig hat die rot-grüne Regierung aus dem einseitigen Vorgehen der USA den Schluss gezogen, Deutschland und Europa beschleunigt aufzurüsten. "Europa muss seine militärischen Fähigkeiten so weiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und unserer Verantwortung für Konfliktprävention und Friedenssicherung entsprechen", sagte Schröder. Ein verfrühter Krach in der Nato könnte da nur hinderlich sein. Deshalb will die Bundesregierung unter allen Umständen vermeiden, dass das Verhältnis zur amerikanischen Regierung durch öffentliche Vergleiche mit den Nazis zusätzlich belastet wird.

Attac kommt diesem Bedürfnis entgegen. Anders lässt sich die Zensurmaßnahme gegen Ulrich Rippert nicht erklären. Die Organisation übt zwar verschiedentlich Kritik an der Bundesregierung, ist aber sorgfältig darauf bedacht, dass diese Kritik eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Sonst würde sie ihre zahlreichen Beziehungen zum Regierungslager und zu all jenen gefährden, die mit einem Bein im Lager der Regierung und mit dem anderen im Lager der Antikriegsbewegung stehen.

Dabei bestätigt jeder neue Kriegstag den Vergleich mit 1939. Für die ungeheure Brutalität, mit der die US-Luftwaffe Tausende von Bomben auf wehrlose Städte wirft, mit der Panzer und Hubschrauber in dichtbewohnte Gebiete eindringen und auf alles schießen, was sich bewegt, mit der Militärsprecher stolz die "Vernichtung" und "Ausmerzung" sogenannter "Widerstandsnester" verkünden und mit der Tausende irakische Soldaten und Zivilisten regelrecht abgeschlachtet werden, gibt es nicht viele andere Parallelen in der Geschichte. Selten zuvor ist ein derart umfassender Krieg mit derart ungleichen Waffen geführt worden. Aber für attac ist ein Vergleich mit der deutschen Invasion in Polen ein Grund zur Zensur!

Heute wird meist vergessen, dass der zentrale Anklagepunkt im Nürnberger Prozess das Planen und Auslösen eines Angriffskriegs war. Deswegen wurden die führenden Nazis verurteilt und gehenkt. Gleichzeitig wurde damit ein Präzedenzfall geschaffen. Jeder Krieg, der nicht der Selbstverteidigung dient oder durch die UNO gedeckt ist, gilt seither als Verbrechen.

Auf den amerikanisch-britischen Krieg gegen den Irak trifft dies eindeutig zu. Der Angriff erfolgte vollkommen unprovoziert und gegen den Willen der UN. Er verstößt eindeutig gegen das Völkerrecht. Niemand fühlte sich durch den Irak bedroht, noch nicht einmal die Nachbarländer, die den Krieg in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht wollten. Die Hinweise auf Verbindungen zu Al-Quaida waren so dürftig, dass selbst die amerikanische Propaganda zögerte, sie auszuschlachten. Für die angeblichen Massenvernichtungswaffen gibt es nicht die Spur eines Beweises. Und die Behauptung, der Krieg solle dem irakischen Volk Freiheit und Demokratie bringen, ist lachhaft. Es gab und gibt kaum ein diktatorisches Regime in der Region - einschließlich desjenigen von Saddam Hussein - das seinen Aufstieg nicht der Mithilfe der CIA verdankt.

Der Krieg verfolgt eindeutig imperialistische Ziele - die Kontrolle über die reichhaltigen irakischen Ölfelder und die politische Neuordnung der gesamten Region unter amerikanischer Vorherrschaft. Er wird von einer ultrarechten Clique im Weißen Haus und im Pentagon geführt, die auch die demokratischen Rechte der amerikanischen Bevölkerung immer offener mit Füßen tritt.

Auch das Verhalten der Bundesregierung ruft Erinnerungen an die dreißiger Jahre wach - an die Appeasement-Politik des britischen Premiers Neville Chamberlain. Durch Zugeständnisse und Entgegenkommen versuchte dieser Hitler einzubinden und seinen Appetit zu zügeln, was den deutschen Diktator zu immer kühneren und aggressiveren Schritten ermutigte. 1938 stimmte Chamberlain in München der deutschen Besetzung des Sudetenlandes zu. Hitler besetzte kurz danach auch die restliche Tschechoslowakei und wagte schließlich den Angriff auf Polen.

Ähnlich verhält sich die Bundesregierung gegenüber der Bush-Administration. Sie protestiert, gibt nach und passt sich an. Während sich die US-Regierung über das Völkerrecht hinwegsetzt und mit Drohungen gegen Syrien, den Iran und Nordkorea zu erkennen gibt, dass ihr Appetit mit der Eroberung des Irak noch lange nicht gestillt ist, beschwören Schröder und Fischer die Unverzichtbarkeit der Nato und unterlassen alles, was die Falken im Weißen Haus reizen könnte.

Letztlich ergibt sich die Unfähigkeit der deutschen Regierung, Bush ernsthaft entgegenzutreten, aus gemeinsamen Klasseninteressen. Sie kritisiert die unilaterale Außenpolitik der Bush-Administration, die ihren eigenen außenpolitischen Interessen zuwiderläuft, eifert dem amerikanischen Vorbild aber bei den Angriffen auf demokratische und soziale Recht nach.

Ernsthaft entgegentreten kann Bush nur eine Bewegung von unten, die die arbeitende Bevölkerung Amerikas mit derjenigen Europas und der übrigen Welt vereint. Indem sie die scharfe Kritik der WSWS an Bush politisch zensiert, behindert attac eine solche Bewegung. Wie wir im Offenen Brief schrieben: "Die Friedensbewegung kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich nicht von der Regierung instrumentalisieren lässt und bereit ist, gegen die Politik von Schröder, Fischer und Co. aufzutreten. Das aber erfordert, dass in der Friedensbewegung ein fairer und demokratischer Meinungsstreit über die künftige politische Orientierung stattfindet und unterschiedliche Standpunkte nicht unterdrückt werden."

Siehe auch:
Gegen politische Zensur und bürokratische Willkür. Offener Brief an attac Berlin
(26. März 2003)
Attac-Verantwortlicher hindert WSWS-Vertreter am Sprechen
( 25. März 2003)
Der Kampf gegen den Krieg muss mit dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau verbunden werden. Eine nicht gehaltene Rede
( 25. März 2003)
Flugblatt: Für eine internationale Arbeiterbewegung gegen den imperialistischen Krieg
( 22. März 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - Mai bis August 2003 enthalten.)
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