Nach dem Irakkrieg

Editorial der Zeitschrift "gleichheit"

Demnächst erscheint die neue Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit", die wichtige, auf der World Socialist Web Site erschienene Artikel zusammenfasst. Wir dokumentieren hier das Editorial der neuen Ausgabe.

Der Krieg gegen den Irak kennzeichnet eine Zäsur in der internationalen Politik. Die USA haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie keine internationalen Institutionen und völkerrechtlichen Normen mehr achten und sich bei der Verfolgung ihrer Interessen ausschließlich auf die eigene militärische Stärke verlassen. Andere Länder können sich entweder anschließen und mit einem Brocken der Beute abfinden - oder sie werden ignoriert, bestraft... oder bombardiert. "Entweder für uns oder gegen uns", wie es Präsident Bush ausdrückte.

Der Irak - daran hat die US-Regierung niemals Zweifel gelassen - ist nur der erste Schritt. Endziel ist die Neuordnung der gesamten Region und die Errichtung einer neuen Weltordnung. Was ist der Inhalt dieser Weltordnung? Die Unterwerfung des ganzen Planeten unter die Bedürfnisse des amerikanischen Kapitals, unter die nackteste Form von Raub und kapitalistischer Ausbeutung. Die Plünderung und Zerstörung Jahrtausende alter irakischer Kulturgüter, während Ölquellen und -ministerien im Hinblick auf die bevorstehende Privatisierung sorgfältig beschützt wurden, ist die Quintessenz der Operation "Irakische Freiheit".

Sicher, Bush führt seinen Feldzug im Namen von "Freiheit" und "Demokratie" und nicht - wie ein anderer Welteroberer vor ihm - von "Herrenrasse" und "Lebensraum". Doch was versteht er darunter?

"Freiheit" bedeutet das Recht auf Eigentum und ungehemmte Bereicherung, ihre Symbolfigur ist Ahmed Chalabi, der vorbestrafte Betrüger und Bankrotteur, den das Pentagon als zukünftigen Regierungschef favorisiert. "Demokratie" heißt, dass man das Volk mit vorgehaltener Waffe vor die Alternative stellt, den Statthalter Washingtons zu unterstützen oder ausgehungert zu werden. Die Demokratie habe ihre abschreckende Wirkung auf die Potentaten der Golfscheichtümer verloren, seit sie sehen konnten, wie sie von Bush praktiziert wird, bemerkte dazu ein Satiriker.

Verantwortlich für diese Politik ist eine rechte Clique im Weißen Haus und im Pentagon, die das Präsidentenamt gestohlen und ihre Missachtung demokratischer Rechte schon vorher mit dem Versuch unter Beweis gestellt hat, einen gewählten Präsidenten durch einen aufgebauschten Sexskandal zu stürzen. Unterstützt wird diese Politik aber von der gesamten amerikanischen Elite. Mit Ausnahme einiger einsamer Stimmen hat sich die Führung der Demokratischen Partei geschlossen dahinter gestellt. Schon das zeigt, dass sie einer tieferen Logik folgt.

Amerika nimmt heute in der Welt dieselbe Stellung ein wie Deutschland vor hundert Jahren in Europa. Deutschland, der fortgeschrittenste und dynamischste Kapitalismus auf dem alten Kontinent, konnte sich nur entwickeln, indem es das eng geschnürte europäische Staatensystem sprengte. Zweimal unternahm es den Versuch, Europa gewaltsam zu reorganisieren; zweimal scheiterte es. Europa blutete aus, Amerika ging als unbestrittene Hegemonialmacht aus den beiden Weltkriegen hervor. Heute unternimmt Amerika den Versuch, die Welt gewaltsam zu reorganisieren.

Die Umstände, unter denen es seine Hegemonialmacht unter Rücksichtsnahme auf internationale Regeln und Institutionen ausüben konnte, sind geschwunden. Die inneren Spannungen der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft verlangen den ungehinderten Zugang zu allen Ressourcen der Welt. Amerika kann nicht zulassen, dass eine souveräne Regierung irgendwo auf der Welt Entscheidungen trifft, die Rückwirkungen auf das eigene Land haben. Die globale Wirtschaft verträgt sich nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Ebenso wenig kann Amerika Rivalen neben sich dulden. Die Kontrolle über die Ölfelder im Nahen Osten versetzt es in die Lage, Europa und Asien auf Ration zu setzen.

Die Auflösung der Sowjetunion hat ein Weiteres dazu beigetragen, dem amerikanischen Imperialismus alle Hemmungen zu nehmen. Er muss nicht länger mit dem Risiko eines selbstzerstörerischen Nuklearkriegs rechnen.

Der Kurs, den die amerikanische Regierung eingeschlagen hat, führt unweigerlich in die Katastrophe. Die räuberische Clique an der Spitze einer Nation, die gerade fünf Prozent der Menschheit umfasst, kann den restlichen 95 Prozent nicht auf Dauer ihre Bedingungen diktieren. Das brutale Vorgehen gegen den Irak gibt einen Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Selten zuvor wurde ein Krieg mit solch ungleichen Waffen ausgetragen. Primitiv bewaffnete irakische Wehrpflichtige und Zivilisten wurden mit amerikanischen High-Tech-Waffen regelrecht abgeschlachtet. In den USA selbst fallen demokratische Grundrechte reihenweise dem "Krieg gegen den Terror" zum Opfer, und die horrende soziale Ungleichheit wird noch weiter steigen, wenn die Kriegskosten auf die Bevölkerung abgewälzt werden.

Europa hat sich völlig unfähig gezeigt, dieser Entwicklung entgegen zu treten. Die vielbeschworene gemeinsame Außenpolitik ist unter amerikanischem Druck wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Die USA haben ihren Einfluss gezielt benutzt, um den Kontinent zu spalten. Selbst jene Regierungen, die den Krieg ablehnten, ließen es bei verbalen und diplomatischen Gesten bewenden. Die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, den deutschen Luftraum und die US-Basen in Deutschland für den Krieg zur Verfügung zu stellen, wog ungleich schwerer, als ihre Ablehnung einer Kriegresolution im Sicherheitsrat.

Seit dem militärischen Erfolg häufen sich die Ergebenheitsadressen an die amerikanische Regierung. "Nur keine falschen Signale nach Washington senden", lautet die Devise. Paris und Berlin sind sichtlich um Versöhnung und um Anerkennung der durch den Krieg geschaffenen Tatsachen bemüht.

Auch in der Presse herrscht ein anderer Ton. Wenn man liest, wie Wolfgang Koydl in der Süddeutschen Zeitung das neo-radikale Amerika bejubelt, das "visionär die Aufgabe anpackt, ein neues Ordnungsgerüst für eine aus den Fugen geratene Welt zu zimmern", und in Gegensatz zu den Europäern stellt, "die lieber ihren alten Träumen nachhängen", oder wie Jan Ross in der Zeit die "US-Draufgängerei" mit der "europäischen Rechtskultur" kontrastiert, der "etwas missgünstig Unproduktives, die Verhinderungsfreude des Antriebslosen" anhafte, kann einem übel werden.1) Nietzsche ist wieder in Mode.

Die Unfähigkeit der europäischen Regierungen, der amerikanischen Bedrohung ernsthaft entgegen zu treten, ergibt sich aus ihrem sozialen Programm. Schröders "Agenda 2010" zielt auf die Einführung amerikanischer Verhältnisse in Deutschland und führt zum Konflikt mit breiten Schichten der Bevölkerung. Dasselbe gilt für die Sozialpolitik der Regierung Chirac-Raffarin, gegen die sich Streiks und Proteste häufen. Der Gegensatz zur eigenen Bevölkerung treibt sie auf die Seite des stärksten Imperialismus.

Als Frankreich 1940 den Krieg gegen Deutschland verlor, entschied sich die Mehrheit der herrschenden Klasse für Vichy-Frankreich, für die Rolle des Juniorpartners der siegreichen Großmacht. Nach dem Irakkrieg droht eine Art Vichy-Europa; ein Europa, dass dem amerikanischen Militarismus als Juniorpartner zur Seite steht. Die inneren Verhältnisse eines solchen Europas wären nicht besser als jene Vichy-Frankreichs; es würde beherrscht von den stärksten wirtschaftlichen und finanziellen Interessen und wäre geprägt durch Sozialabbau, Niedriglohnarbeit, Militarismus und die Unterdrückung demokratischer Rechte. Schon jetzt sammeln sich die rechtesten europäischen und vor allem osteuropäischen Regierungen, die über die geringste soziale Basis verfügen, hinter der amerikanischen Flagge.

In der europäischen Öffentlichkeit hat der Irakkrieg so gut wie keine Unterstützung gefunden. Millionen sind dagegen auf die Straße gegangen. Aber das Ergebnis des Krieges stellt diese Bewegung vor Aufgaben, die eine reine Friedensbewegung nicht lösen kann. Der Kampf gegen Krieg muss verbunden werden mit dem Kampf für eine andere Gesellschaft. Die einzige Möglichkeit, Europa harmonisch zu vereinen und zum Gegenpol des amerikanischen Imperialismus zu entwickeln, ist eine Einigung von unten. Die Alternative zum zerstrittenen Brüsseler Europa der Banken und Konzerne sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Eine derartige Perspektive würde eine mächtige Resonanz in Amerika finden. Die amerikanische Bevölkerung begegnet der rechten Clique in Washington mit Ablehnung und Misstrauen. Nur eine unabhängige, internationale Bewegung der Arbeiterklasse kann dem wildgewordenen amerikanischen Militarismus einen Riegel vorschieben.

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1) Süddeutsche Zeitung vom 3./4. Mai 2003, "Amerikas Visionen" und Die Zeit vom 16. April 2003, "Moral unter Waffen"

Siehe auch:
Bisherige Ausgaben der "gleichheit"
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - Mai bis August 2003 enthalten.)
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