In Frankreich streiken und demonstrieren Millionen zur Verteidigung der Rente

Am 13. Mai erlebte Frankreich die größte Arbeitermobilisierung seit der Massenstreikbewegung von 1995. Damals wurde Premierminister Alain Juppé gezwungen, seine Angriffe auf Renten und soziale Errungenschaften zurückzunehmen. Die Streiks führten 1997 schließlich zur frühzeitigen Ablösung seiner Regierung. Die jüngste Aktion, ein offiziell von allen Gewerkschaften ausgerufener eintägiger Streik, wird von vielen Arbeitern unbefristet fortgesetzt.

Laut der CGT (Confédération Générale du Travail) waren in 115 Städten Frankreichs zwei Millionen auf der Straße, um gegen die drastischen Rentenkürzungspläne der rechten Regierung zu demonstrieren, die gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft gerichtet sind. Mächtige Arbeiterdelegationen marschierten unter den Transparenten und Fahnen ihrer Gewerkschaft. Die größten Kontingente waren die von CGT und Force Ouvrière, aber auch CFDT und Sud waren stark vertreten. Auch viele Menschen ohne Gewerkschaftszugehörigkeit marschierten mit und nahmen am Streik teil.

Bereits ab halb neun trafen Tausende Demonstrierende aus entlegenen Gebieten der Ile de France, der Region von Paris, in ihren Bussen zur Pariser Demonstration ein, die offiziell um 11 Uhr an der Place de la République begann. Um sechs Uhr abends waren immer noch geschätzte 250.000 Demonstrierende auf der Straße. In Marseilles demonstrierten 200.000. WSWS -Sympathisanten verteilten in Paris und Amiens eine Erklärung in Tausenden von Exemplaren. Besonders Studenten und jüngere Arbeiter interessierten sich dafür, und viele von ihnen sagten, sie seien regelmäßige Leser der World Socialist Web Site.

Die Streikbewegung machte sich bereits ab Montagabend acht Uhr bemerkbar, als der Aufruf zum Streik aller Eisenbahnergewerkschaften zu greifen begann. Er galt bis zum Mittwoch Morgen um acht Uhr. Der Bahnverwaltung zufolge nahmen 59,3 Prozent der Beschäftigten am Streik teil. In ganz Frankreich kam der Eisenbahnverkehr weitgehend zum Erliegen.

In Paris fiel der öffentliche Nahverkehr fast vollständig aus: Es verkehrte nur einer von fünf Bussen. Viele Metro-Linien hatten überhaupt kein Servicepersonal, nur ganz wenige waren zur Arbeit gekommen. In 15 Provinzstädten wie Bordeaux, Dijon und Nizza war der öffentliche Nahverkehr vollkommen gelähmt, und in fünfzig weiteren Städten funktionierte er nur zur Hälfte.

Achtzig Prozent der Inlandsflüge wurden infolge des Streiks der Fluglotsen gestrichen. Auf den Pariser Flughäfen Roissy und Orly fiel jeder zweite Flug aus.

Die FSU, die größte Gewerkschaft im Erziehungswesen, erklärte, achtzig Prozent der Schulbediensteten hätten den Streik befolgt, während das Erziehungsministerium eine Beteiligung von 55 bis 74 Prozent angab. Laut offiziellen Zahlen nahmen 57 Prozent aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst - etwa drei Millionen Menschen - am Streik teil.

Die Post blieb größtenteils liegen, weil nach offizieller Schätzung 46 Prozent der Postbediensteten streikten. Keine nationale Zeitung erschien und viele lokale und regionale Zeitungen wurden ebenfalls nicht herausgebracht. Einige Fernsehprogramme wurden unterbrochen.

Beschäftigte der staatlichen Strom- und Gaswerke EDF-GDF verließen ebenfalls ihre Arbeit. Schon zu Beginn dieses Jahres hatten diese Belegschaften, die von Arbeitsplatzverlusten bedroht sind, für eine Krise der Raffarin-Regierung und der Gewerkschaften gesorgt, weil sie gegen einen Punktekatalog stimmten, den Gewerkschaften und Management als Vorbereitung auf die Privatisierung gemeinsam ausgearbeitet hatten, und der weitgehende Angriffe auf Rentenvorteile wie z.B. die Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge um fünfzig Prozent enthielt.

In anderen Branchen wurden keine genauen Teilnehmerzahlen genannt, aber der Reporter dieses Berichts sah auf der mächtigen Demonstration in Amiens große Delegationen von Krankenhauspersonal, Feuerwehrleuten, Fabrikarbeitern - sogar Archäologen. Der Rundfunk berichtete über Delegationen der Automobilarbeiter von Citroën und Renault. Jeder vierte Arbeiter von Michelin in Clermont-Ferrand beteiligte sich am Streik.

Viele Schulen im ganzen Land wurden schon zuvor tagelang bestreikt, und viele schlossen sich zusätzlich dem Streik an. Eine wichtige Entscheidung fiel, als die Arbeiter des RATP, des öffentlichen Nahverkehrs von Paris, wie auch viele Eisenbahner, beschlossen, ihren Streik fortzusetzen.

Als Reaktion auf die Massenmobilisierung erklärte François Fillon, der Arbeits- und Sozialminister, er sei bereit, über "Verbesserungen" zu diskutieren, solange dadurch das finanzielle Gleichgewicht des Planes nicht gefährdet werde. Anders ausgedrückt kann es demnach für die Rentner kein zusätzliches Geld geben. Fillon wird sich am Mittwoch mit den wichtigsten Gewerkschaften treffen.

Bernard Thibault, der Führer der CGT, wich der Frage eines Reporters des TV-Senders France-2 aus, ob er fordere, den Regierungsplan zurückzuziehen, und sagte, Verhandlungen müssten auf einer "andern Grundlage" geführt werden. Er wurde auch gefragt, ob er die Entscheidung der RATP-Arbeiter missbillige, die den Streik fortsetzen, und er antwortete darauf, die nächste Aktion finde am 25. Mai statt, und wenn die Regierung nicht zurückweiche, seien härtere Aktionen für Juni geplant.

Der bewusste Versuch, die Arbeiter zu isolieren, die sich schon länger im Streik befinden, bleibt den streikenden Arbeitern nicht verborgen. Tatsächlich haben Gewerkschaftsvertreter von CGT, FO und SNES-FSU eines bestreikten Gymnasiums in Friville-Escarbotin, im Departement Somme, am 12. Mai einen Brief an die nationale Führung geschrieben, worin es heißt:

"Wir bedauern außerordentlich, dass kein nationaler und einheitlicher Aufruf bezüglich dieser unverzichtbaren Mobilisierung ausgesprochen wurde. Wir betrachten dieses Unterlassen einer klaren Stellungnahme zu Forderungen und Durchsetzungsmethoden als eine Art von Desertion und Isolation. Von unseren nationalen Führern erhalten wird weder Unterstützung noch Aufrufe oder Perspektiven, wie sie für unsere Aktion nötig wären."

Siehe auch:
Größter Streik in Österreich seit 50 Jahren
(9. Mai 2003)
In Frankreich sind die Renten bedroht
( 11. März 2003)