Putschgerüchte in der Türkei

Wenige Wochen nachdem der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz eine "starke Führungsrolle" des türkischen Militärs eingefordert hat, wird in Ankara ernsthaft über die Möglichkeit eines Militärputsches gegen die gemäßigt islamistische Regierung der AKP von Recep Tayip Erdogan spekuliert.

Mitte Mai hatten türkische Zeitungen über eine Studie des britischen Think Tanks International Institute for Strategic Studies berichtet, wonach die Armee die Regierung stürzen würde, falls diese irgendwelche radikale Maßnahmen in Richtung Fundamentalismus unternehmen würde. Besonders unter jüngeren Offizieren, die sich als Wächter der säkularen Ordnung sehen würden, wachse die Unzufriedenheit, hieß es.

Später wurde ein vertraulicher Brief des Mitglieds des Nationalen Sicherheitsrats, General Tuncer Kilinc, an Erdogan veröffentlicht, der klarmachte, dass die Armee weniger von der Sorge um den Säkularismus als von der Angst vor mehr Demokratie umgetrieben wird. Der General sprach sich darin gegen eine Änderung des berüchtigten Artikel 8 der Anti-Terrorgesetze aus, in dem "Gesinnungsverbrechen" mit harten Strafen belegt werden. Ebenso warnte er vor der Zulassung ausländischer Wahlbeobachter, einer Zulassung privater kurdischer Fernsehsender und vor einer Änderung der Regelung, wonach der vom Militär dominierte Sicherheitsrat Vertreter in die Medienaufsichtsbehörde RTÜK entsendet. Es wurde vermutet, dass die Regierung selbst den Medien den Brief zugespielt hatte, um die Generäle bloßzustellen.

Deren Reaktion ließ nicht auf sich warten. Generalstabschef Hilmi Özkök persönlich sprach bei Premierminister Erdogan vor und las ihm laut Berichten armeenaher Zeitungen gehörig die Leviten. Das wurde von Erdogan zwar geleugnet. Die Regierung und Armee arbeiteten "in voller Eintracht", alles andere seien bösartige Erfindungen der Presse, die "eifersüchtig auf die schönen Entwicklungen im Land" sei. Darauf hingewiesen, dass von der Armee kein derartiges Dementi gekommen sei, meinte Erdogan verlegen, der Generalstabschef würde "zur rechten Zeit die notwendigen Erklärungen abgeben".

Tatsächlich ließ Özkök eine knappe Woche später, am letzten Montag, zu einer Pressekonferenz im Armeehauptquartier bitten. Die geladenen Pressevertreter waren handverlesen, Journalisten linker, islamischer oder kurdischer Zeitungen waren nicht darunter. Dementsprechend fielen hinterher die Berichte und Kommentare aus, die von den meisten westlichen Zeitungen übernommen wurden.

So meinte Fikret Bila in der Milliyet (28. Mai ): "Wir haben vor kurzem gesehen, dass wir auf außenpolitischem Gebiet ohne Unterstützung der TSK [Türkischen Streitkräfte] keinen Erfolg haben können. Um dieses Problem künftig zu vermeiden, sollte die Türkei ihr Militär und ihre Wirtschaft nicht durch innenpolitischen Streit gefährden. Es ist vor allem die Pflicht unserer politischen Führung, das zu verhindern."

Dies war eine Anspielung auf die Abstimmung im türkischen Parlament, welche die Stationierung amerikanischer Invasionstruppen für den Irak-Krieg auf türkischen Boden mehrheitlich abgelehnt hatte. Auf diese Abstimmung, die ein schwacher Widerhall der einhelligen Ablehnung der amerikanischen Aggression durch die türkische Bevölkerung war, hatte sich auch Wolfowitz bezogen, als das Militär mit de Worten kritisierte: "Aus irgend einem Grund haben sie in dieser Frage nicht die starke Führungsrolle übernommen, die wir von ihnen erwartet haben."

Man muss nicht sehr zwischen den Zeilen lesen, um die Botschaft von Bila zu verstehen, der hier selbst nur die Auffassung der Generäle und der USA wiedergibt: Wenn Washington über das nächste Opfer herfällt, wie den Iran oder Syrien, wird es auf die Söldnerdienste der türkischen Armee zählen können, Demokratie hin, Opposition der türkischen Bevölkerung her.

Ansonsten bemühen sich der Großteil der türkischen wie der internationalen Medien, die Angst vor einem Putsch herunterzuspielen. So behauptet die Washington Post, Özkök habe Gerüchte über einen Putsch "scharf zurückgewiesen" und versichert, alle "Differenzen" der Armee mit der Regierung würden in den verfassungsmäßigen Institutionen der Türkei gelöst. Der General habe lediglich seine "Besorgnis" darüber ausgedrückt, dass die AKP zahlreiche eigene Anhänger auf staatliche Posten gehoben habe - eine Praxis, die in der Türkei wie auch in vielen anderen Ländern durchaus üblich ist.

Özkök ging aber noch weiter. Er machte deutlich, dass das Militär allen Reformforderungen zum Trotz nicht die Absicht hat, seine bisherige Rolle aufzugeben. Die EU hat als Voraussetzung für den Beitritt der Türkei gefordert, dass der Einfluss der Armee auf die Politik, vor allem im Nationalen Sicherheitsrat, reduziert werde. Außerdem seien nicht nur die jüngeren Offiziere, sondern alle Ränge in Bezug auf die Regierungspolitik sehr "empfindlich", ergänzte Özkök.

Özkök erinnerte laut einem Bericht des Guardian an das Schicksal der Regierung der islamistischen "Wohlfahrtspartei" (RP) von Necmettin Erbakan. Diese war 1997, nachdem sie Beziehungen mit Libyen und Iran geknüpft hatte, von der Armee in einem "kalten Putsch" gestürzt worden. Erbakan wurde anschließend zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und mit Politikverbot belegt, seine Partei verboten. Viele Abgeordnete der AKP, darunter auch Erdogan, kommen aus der RP. Bei dem Putsch habe es sich, so Özkök, um "Ursache und Wirkung" gehandelt. Er erklärte weiter: "Wenn die Ursache noch da ist, wird auch die Wirkung da sein", und weigerte sich, die Frage zu beantworten, ob die Armee erneut einschreiten würde.

Siehe auch:
Wolfowitz in Ankara: US-Regierung fordert stärkere Rolle des türkischen Militärs
(22. Mai 2003)
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