Der G8-Gipfel und die Kluft zwischen Realität und Rhetorik

Es ist ein deutliches Zeichen für die wachsenden Spannungen zwischen den kapitalistischen Großmächten und ihren politischen Führern, dass sie immer weniger in der Lage sind, die Probleme der Weltwirtschaft zu diskutieren, geschweige denn Vorschläge für ihre Lösung zu machen, je größer diese Probleme sind.

Der G8-Gipfel in Evian vom 1. bis 3. Juni fand inmitten der wahrscheinlich tiefsten ökonomischen Probleme seit Beginn der Gipfeltreffen im Jahre 1975 statt.

Der Dollar fällt ständig - die größte internationale Währungsanpassung seit acht Jahren -, Deflation breitet sich aus und bedroht die Weltwirtschaft zum ersten Mal wieder seit den dreißiger Jahren, und es gibt Meinungsverschiedenheiten über das internationale Handelssystem. Aber zu keiner der drei Fragen gaben die Großen Acht keine Erklärung ab, bis auf ein einfaches Kommuniqué, das bis zur Bedeutungslosigkeit allgemein gehalten war.

Der Verfall des Dollars zog die meiste Aufmerksamkeit auf sich, weil er im vergangenen Monat sehr schnell gegenüber dem Euro an Wert verloren hatte und die europäischen Volkswirtschaften, deren Exporteinnahmen darunter litten, und ganz besonders die deutsche in eine Rezession zu stürzen drohte.

Vor dem Gipfel legte US-Präsident Bush in einem Interview mit dem russischen Fernsehen Lippenbekenntnisse zu einer Politik des "starken Dollars" ab. "Meine Regierung ist für einen starken Dollar", sagte er. "Der Markt hat den Dollar momentan abgewertet; das widerspricht unserer Politik."

Bush wiederholte diese Beteuerung bei seiner Ankunft in Evian. Aber in Wirklichkeit will die Regierung den Dollar weiter fallen lassen und denkt nicht daran, dagegen zu intervenieren. Bushs Pressesprecher Ari Fleischer drückte das so aus: "Der starke Dollar ist ein Ergebnis der Marktkräfte."

Vor dem Gipfel äußerten sowohl Japan wie Deutschland ihre Besorgnis über das Abrutschen des Dollars. "Wir wollen nicht, dass der Yen weiter steigt", sagte Japans Ministerpräsident Junichiro Koizumi. Um die Besorgnis seiner Regierung zu unterstreichen, gab er bekannt, dass im Mai die Rekordsumme von 3,9 Billionen Yen (mehr als 30 Mrd. Dollar) aufgewendet worden sei, um den Fall des Dollars gegenüber der japanischen Währung aufzuhalten.

Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder gab zu bedenken, dass der billigere Dollar "der Entwicklung der Wirtschaft bereits schadet, weil deutsche Produkte außerhalb der Eurozone zu teuer werden". Die Probleme Deutschlands bestehen nicht nur im Wettbewerb mit US-Firmen. Da die ostasiatischen Länder ihre Währungen an den US-Dollar gebunden haben, sehen sich deutsche Firmen einem zunehmenden Wettbewerb aus dieser Region, besonders von Seiten chinesischer Firmen, ausgesetzt.

Trotz der Besorgnis der Führer der zweit- und drittgrößten Volkswirtschaft der Welt wurde die Frage der Währungskurse in den offiziellen Erklärungen nicht einmal angesprochen.

Eine ähnliche Haltung wurde der Frage des Wirtschaftswachstums entgegengebracht. Die G8-Führer ignorierten die andauernde Rezession in Japan und die Zeichen einer stärkeren Abschwächung in Europa und betonten stattdessen die positiveren Aspekte der Weltwirtschaft. Dem französischen Präsidenten Jacques Chirac zufolge teilten die G8-Führer "die feste Überzeugung, dass alle Bedingungen für einen Aufschwung existieren". Die Diskussion sei "sehr positiv" gewesen und die Führer hätten sich "zuversichtlich" geäußert, dass höhere Wachstumsraten möglich seien.

In einer ihrer gemeinsamen Erklärungen machten die G8-Führer ihre Entschlossenheit deutlich, "unseren Kampf zur Verbesserung der Integrität der internationalen Wirtschaft mit Entschiedenheit zu verfolgen". Aber es wurden keine konkreten Maßnahmen zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft diskutiert, geschweige denn beschlossen. Der Grund dafür besteht darin, dass sich die Differenzen zwischen den Großmächten, die sich schon lange vor dem Zwist über den US-geführten Krieg gegen den Irak entwickelt hatten, weiter vertiefen. Diese Differenzen sind am deutlichsten in den Handelsbeziehungen zu sehen.

In einem Kommentar am Vorabend des Gipfels forderte Business Week die G8-Führer auf, "einen Plan für mehr Wachstum zu entwickeln", und wies darauf hin, dass "die Handelsbeziehungen zwischen den USA und Europa ihren tiefsten Punkt seit Jahren erreicht haben". Europa droht den USA Strafzölle über vier Milliarden Dollar wegen Steuersubventionen für US-Exporteure an, und die USA drohen wegen einem europäischen Moratorium auf den Import von genetisch verändertem Mais, Sojabohnen und anderen Agrarprodukten mit Gegenmaßnahmen. Diese Konflikte haben schon die sogenannte Dohar-Runde der Welthandelsorganisation verzögert und könnten das Ministertreffen der WTO in Cancun, Mexiko, im September stören.

In ihrem Kommuniqué zu den Handelsfragen wiesen die G8-Führer ihre Minister an, die in Dohar beschlossenen Ziele "mit Dringlichkeit" voranzutreiben, und verpflichteten sich, rechtzeitig bis Ende 2004 eine neue Vereinbarung abzuschließen.

Die Financial Times zeigte in ihrem Bericht auf, dass die ganze Übung darauf hinauslief, die Differenzen bei den WTO-Gesprächen zu überkleistern, weil es bisher keinen Hinweis auf "veränderte Verhandlungspositionen gibt, die zu einem Fortschritt bei den Gesprächen führen könnten".

Bestehende Streitpunkte, wie das Moratorium der EU zu genetisch veränderten Nahrungsmitteln, wurden nicht angesprochen, und es gab weder auf Seiten der USA noch der EU Anzeichen dafür, dass sie bereit wären, ihr System der Landwirtschaftssubventionen zu ändern.

Das G8-Treffen wird inzwischen weithin als bedeutungslos für das Management der globalen Wirtschaft angesehen. Aber es gibt Befürchtungen, dass die tiefen Meinungsverschiedenheiten, die diese Versammlungen auf eine Reihe von leeren Kommuniqués und Fototerminen reduziert haben, ernsthafte Folgen zeitigen könnten.

Einige dieser Sorgen wurden in einem Artikel des Wirtschaftskommentators der Washington Post, Robert Samuelson, geäußert, der am Vorabend des Gipfels erschien. "Jeden Menschen mit Geschichtsbewusstsein", schrieb er, "muss das Absegnen eines billigeren Dollars durch die Bush-Regierung beunruhigen. Riesige US-Handelsdefizite haben die Welt mit so vielen US-Dollars überschwemmt, dass ein deutlicher Verfall der Währung zu erwarten war. Aber indem US-Exporte dadurch verbilligt und die Exporte anderer Länder erschwert werden, erhebt sich das Gespenst einer Politik der ‚konkurrierenden Abwertungen’ - das heißt, dass man die eigenen Industrien auf Kosten anderer Länder schützt. Das ist kein Freihandel; das ist politischer Handel. In den dreißiger Jahren hat eine solche Politik zum zweiten Weltkrieg beigetragen. Wir sollten vermeiden, das zu wiederholen."

Samuelson warnte, es gebe bereits jetzt "zahlreiche erste Anzeichen für einen Wirtschaftskrieg". Wenn sich die Wirtschaftslage verschlechtere, verstärke sich zwangsläufig der nationalistische Druck, und das unter Bedingungen, wo sich wegen der gegenseitigen Abhängigkeit der großen Volkswirtschaften eine Kettenreaktion nationalistischer Politik "selbstzerstörerisch" auswirken würde.

"Die Führer sollten diese Gefahr entschärfen. Sie sollten Europa zu starken Zinssenkungen ermutigen und Asien von einer protektionistischen Währungspolitik abhalten. Der billigere Dollar signalisiert, dass die US-Wirtschaftslokomotive den Rest der Welt nicht mehr mitziehen kann. Wenn nicht andere Lokomotiven Schub entwickeln, dann wird das Flugzeug weiter an Höhe verlieren und womöglich abstürzen," schloss Samuelson.

Aus den Beratungen und Beschlüssen des Gipfels wird er keinen Trost ziehen können.

Siehe auch:
Massiver Polizei- und Militäraufmarsch am Rande des G8-Gipfels
(3. Juni 2003)
Internationale Demonstration gegen den G8-Gipfel
( 3. Juni 2003)
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