Gesundheitsreform: Große Koalition gegen die Bevölkerung

In enger Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Gesundheitsminister der Kohlregierung Horst Seehofer (CSU) und allen Bundestagsfraktionen hat die amtierende Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherheit Ulla Schmidt (SPD) die Axt an die gesundheitliche Versorgung der breiten Masse der Bevölkerung angelegt. Noch nie hat eine Bundesregierung derart massive Einschnitte in das Sozialsystem durchgesetzt.

Bereits im nächsten Jahr sollen knapp 10 Milliarden, im Jahr 2007 schließlich über 23 Milliarden Euro in der Krankenversorgung eingespart werden. 18,5 Milliarden davon werden nach Berechnungen des Bundesverbands der Verbraucherzentralen direkt durch Leistungskürzungen und erhöhte Zuzahlungen aus den Taschen der Versicherten gezogen. Nur 3 Milliarden Euro werden angeblich die Leistungsanbieter (vor allem die Pharmakonzerne, aber auch Ärzte und Krankenhäuser) beisteuern. So soll das Ziel erreicht werden, die Lohnnebenkosten für die Unternehmen zu senken. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte in seiner Regierungserklärung Mitte März angekündigt, den durchschnittlichen Krankenkassenbeitrag von heute 14,3 auf unter 13 Prozent zu drücken.

Neue Belastungen für die Versicherten

Die Zuzahlungen für den einzelnen Patienten werden drastisch erhöht. Ekkehard Bahlo, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten spricht berechtigterweise von einer "Orgie an Zuzahlungen".

Neu wird ein sogenanntes "Eintrittsgeld" für die Arztpraxis sein. Bei einem Arztbesuch werden zehn Euro je Quartal fällig, bei längerer Krankheit also 40 Euro im Jahr. Bei jedem Facharztbesuch müssen ebenfalls 10 Euro gezahlt werden, wenn der Patient sich nicht vom Hausarzt überweisen lässt. Beim Zahnarztbesuch zahlt der Versicherte sowieso 10 Euro je Quartal, im schlimmsten Fall also auch 40 Euro pro Jahr.

Die Zuzahlung für vom Arzt verschriebene Arzneien verdoppeln sich teilweise. Ab 2004 beträgt die Zuzahlung pro Medikament 10 Prozent, jedoch mindestens fünf und steigt bei teureren Medikamenten auf bis zu zehn Euro pro Packung. Bisher mussten je nach Packungsgröße zwischen vier und fünf Euro zugezahlt werden. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente müssen künftig grundsätzlich von den Versicherten allein bezahlt werden. Allein diese Entscheidung hat für viele Patienten verheerende Auswirkungen. Das Magazin Stern führt folgendes Beispiel an. Bei einer chronischen Bauchspeicheldrüsenerkrankung wird häufig das Magenmittel Kreon eingesetzt. Für die Packung mit 100 Kapseln mussten bisher 4,50 Euro zugezahlt werden. Künftig sind an der Apothekenkasse 55,85 Euro fällig.

Kinder sind nicht mehr wie bisher bis zum 18. Lebensjahr, sondern nur noch bis zum zwölften Geburtstag von Zuzahlungen befreit. Auch ein Krankenhaus-Aufenthalt wird deutlich teurer. Bisher mussten für jeden Krankenhaustag neun Euro für 14 Tage, also 126 Euro im Jahr gezahlt werden. Bei längerem Krankenhaus-Aufenthalt wird sich dieser Betrag nun mehr als verdoppeln. Denn statt 14 müssen nun 28 Tage und zwar nicht mit neun sondern zehn Euro bezahlt werden - also bis zu 280 Euro im Jahr.

Zwar sollen alle Zuzahlungen zusammen zwei Prozent (bei chronisch Kranken: ein Prozent) des Bruttoeinkommens nicht übersteigen, wer die Kontrolle dieser "Deckelung" durchführt oder wie sie aussehen wird, ist jedoch völlig unklar. Das Ergebnis dieser hohen Zuzahlungen, insbesondere das "Eintrittsgeld" beim Arzt wird viele Menschen vom Arztbesuch speziell bei kleineren Krankheiten abhalten - mit allen Konsequenzen sowohl beim einzelnen Versicherten als auch für das gesamte Sozialsystem, das die Kosten für dann schlimmere Folgeerkrankungen trägt.

Weitere zahlreiche Leistungen der Krankenkassen werden gestrichen. Das Sterbegeld (noch 525 Euro), das Entbindungsgeld (noch 77 Euro) und Leistungen bei Sterilisation wird es überhaupt nicht mehr geben. Die Taxi-Fahrt zum niedergelassenen Arzt, eine Leistung, die vor allem ältere Menschen und insbesondere in ländlichen Gebieten benötigen, erstattet die Kasse in Zukunft ebenfalls nicht mehr. Einen Zuschuss zur Brille gibt es nur noch für Kinder, Jugendliche und "schwer sehbeeinträchtigte" Versicherte. Die schon jetzt von den meisten Krankenkassen praktizierte Regelung, Kosten für eine künstliche Befruchtung nur noch bis zu einem bestimmten Lebensalter zu übernehmen, soll gesetzlich geregelt werden. Die Kosten sollen dann auch nur zur Hälfte erstattet werden.

Die größte Belastung ergibt sich allerdings aus der Abkehr vom sogenannten Solidarsystem in der Gesundheitsversorgung, d. h. der hälftigen Finanzierung der Versicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ab 2005 wird der Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen ausgegliedert. Die Versicherten müssen eine Police wahlweise bei einer privaten oder gesetzlichen Versicherung abschließen. Wer diese Versicherungspflicht wie kontrolliert steht nicht fest. Nach ersten Berechnungen privater Krankenversicherungsunternehmen wird das mindestens 90 Euro im Jahr kosten. Insgesamt werden so 1,75 Milliarden Euro auf die Patienten abgewälzt.

Zwei Jahre später folgt die Ausgliederung von weiteren fünf Milliarden Euro aus der paritätischen Finanzierung. Ursprünglich wurde dies mit der alleinigen Finanzierung des Krankengelds durch die Beschäftigten begründet. Nach Protesten dagegen wird nun die selbe Summe als "Sonderbeitrag" der Versicherten bezeichnet. Einen Durchschnittsverdiener kostet dieser "Sonderbeitrag" weitere 150 Euro im Jahr.

Schon ab nächstem Jahr werden die Rentner zur Kasse gebeten. Wer eine Betriebsrente erhält oder Nebeneinkünfte hat, weil er seine spärliche Rente mit einem Job aufbessert, muss künftig den vollen Beitragssatz zur Krankenkasse zahlen. Bisher zahlt er nur die Hälfte. Die Rentner werden dadurch jährlich 1,6 Milliarden Euro mehr an die Kassen bezahlen müssen.

Auch die Ärmsten der Armen sollen geschröpft werden. Sozialhilfeempfänger sollen "zur Gleichbehandlung mit den Versicherten" künftig einen Euro pro Behandlung und Medikament zahlen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) rechnet vor, dass die Reform einem Durchschnittshaushalt mit 2500 Euro monatlichem Haushaltseinkommen jedes Jahr 600 Euro an Zuzahlungen aufbürdet. Die angekündigte Entlastung durch niedrigere Beitragssätze, wenn sie denn überhaupt komme, betrage aber nur 105 Euro im Jahr.

Verbraucherschutz-Experten und Patientenvertreter machen darauf aufmerksam, dass sich die geplanten Maßnahmen völlig einseitig gegen die Versicherten richten. Die im Eckpunkte-Papier der Konsensrunde hervorgehobene Belastung der Pharma-Industrie durch eine Erhöhung des Herstellerabschlag auf verschreibungspflichtige Arzneimittel, die keinen Festbeträgen unterliegen von derzeit sechs auf 16 Prozent, ist reine Augenwischer. Denn gerade durch diese Mittel steigern die Pharma-Hersteller ihre Profite. So ist im Eckpunktepapier nur zwei Absätze zuvor zu lesen ist: "Allein bei den Arzneimitteln, die keinen Festbeträgen unterliegen, sind die Ausgaben von 1997 bis 2002 von ca. 8 Mrd. Euro auf 15 Mrd. Euro gestiegen."

Eine Maßnahme, die für die Pharmakonzerne tatsächlich empfindliche Einbußen sowie für die Krankenkassen ebenso große Einsparungen bedeutet hätte, die sogenannte "Positivliste", die verordnungsfähige Arzneimittel benennt und von bekanntermaßen wirkungslosen Medikamenten unterscheidet, ist endgültig ad acta gelegt worden. Noch vor kurzem hatte die SPD die Aufstellung einer Positivliste unbedingt befürwortet.

"Eine Umverteilung von unten nach oben hätte solcher Vorgang geheißen in Zeiten, da das Vokabular des Klassenkamps nicht gänzlich verpönt war", kommentiert die Frankfurter Rundschau.

Einstieg in die Privatisierung

Die jetzt ausgehandelten Vorschläge, die von Ulla Schmidt und Horst Seehofer als das "größte Reformwerk der jüngeren deutschen Sozialgeschichte" bezeichnet werden, sind in der Tat beispiellos. Noch nie sind auf einem Schlag solch gravierende Einschnitte in die Gesundheitsversorgung durchgesetzt worden. Die rot-grüne Bundesregierung setzt damit die Angriffe durch, die sie an ihrer Vorgängerregierung unter Helmut Kohl (CDU) kritisierte und geht noch weit darüber hinaus.

Alle Berliner Parteien sind sich in der politischen Stoßrichtung einig. Die Debatten in der sogenannten Konsensrunde über die Mehrbelastung der Patienten drehten sich daher nicht um das "Ob", sondern nur um das "Wie".

So weisen es alle Parteien zurück, die Gruppe der Einzahler in die gesetzliche Krankenversicherung zu erhöhen. Denn die Bezeichnung "Solidarsystem" stimmt für die Sozialversicherungs-Systeme schon lange nicht mehr. Finanziert wird die gesetzliche Krankenversicherungen ausschließlich von Beschäftigten mit niedrigem und durchschnittlichem Einkommen. Hohe Einkommen und Einkommen aus Spekulationsgewinnen, Mieteinnahmen, Einkommen aus Vermögensanlagen werden nicht herangezogen.

Nur wer weniger als 3450 Euro Bruttoverdienst monatlich hat, zahlt in die gesetzliche Krankenversicherung ein. Alle anderen, die diese Beitragsbemessungsgrenze überschreiten und mehr verdienen, können die billigeren privaten Krankenversicherungen nutzen. Im Interesse der Reichen wurde selbst eine geringfügige Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze abgelehnt, von einer Auflösung der Privaten Krankenversicherungen, damit wirklich alle - auch die Besserverdienenden - ihre Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen ganz zu Schweigen.

Auch der Arbeitgeberanteil des paritätischen Systems, der von vielen Kommentatoren als großzügige Sozialleistung der Unternehmer bezeichnet wird, ist in Wahrheit Lohn-Bestandteil, der allerdings nicht an die Beschäftigten, sondern an die Sozialversicherungen gezahlt wird. Mit anderen Worten: der schrittweise Abbau dieses Arbeitgeberanteils kommt einer drastischen Lohnsenkung gleich.

Mit der jetzigen Gesundheitsreform werden die letzten Überbleibsel des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems eliminiert. Nachdem schon bei der Rentenversicherung der Systembruch mit der privaten Vorsorge, der sogenannten Riester-Rente, vollzogen wurde, ist nun mit dem Ausgliedern von Zahnersatz und "Sonderbeitrag" (Krankengeld) die nächste Säule des deutschen Sozialversicherungssystems, das bis auf die Zeit Bismarcks vor rund 120 Jahren zurückgeht, eingerissen worden.

Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind katastrophal. Eine "Zwei-Klassen-Medizin", in der nur noch Besserverdienende sich eine ausreichende medizinische Versorgung leisten können, wird mit den Entscheidungen der Gesundheitskommission stark beschleunigt. Niemals zuvor seit den dreißiger Jahren hat eine Regierung derart rücksichtslos die unteren Schichten der Gesellschaft attackiert.

Vor wenigen Tagen wies der Paritätische Wohlfahrtsverband auf einer Pressekonferenz darauf hin, dass die Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung die Massenarmut in Deutschland drastisch gesteigert hat. Durch die geplanten Maßnahmen werde die Zahl der Sozialhilfeempfänger von gegenwärtig 2,8 auf 4,5 Millionen ansteigen. "Fast jedes 10. Kind wäre damit Leistungsbezieher auf Sozialhilfeniveau. Derzeit ist es noch fast jedes 15."

Gleichzeitig mobilisiert diese Politik die reaktionärsten, egoistischsten und asozialen politischen Kräfte. In diesem Zusammenhang muss man die Äußerungen von Philipp Missfelder sehen. Der 23-jährige Student und Vorsitzender der Jungen Union (JU) - der sich selbst gerne als Vertreter der "Generation Smart" bezeichnet - forderte am vergangenen Wochenende, dass die gesetzliche Krankenversorgung alter Menschen deutlich eingeschränkt werden solle. 85-Jährige sollten weder Hüftgelenk noch Zahnersatz erhalten, wenn sie nicht privat versichert sind. Es könne nicht länger hingenommen werden, dass "die Alten" auf Kosten der jungen Generation leben.

Dass Gesundheitsministerin Ulla Schmidt diese Äußerungen zurückwies - "wir leben nicht in der medizinischen Steinzeit" - ändert nichts daran, dass ihre Politik diese reaktionären Standpunkte ermutigt. Schmidt verkörpert etwas, was diese ganze rot-grüne Regierung kennzeichnet: absolute Rückgratlosigkeit. Es gab während der langen Verhandlungen über die Gesundheitsreform nicht eine einzige Frage in der sie der Pharma- oder Ärztelobby ernsthaft entgegengetreten wäre. Immer suchte sie den Weg des geringsten Widerstands und lässt sich auch gegenwärtig von den einflussreichen Wirtschaftsverbänden vor sich hertreiben.

Dieser zügellose Opportunismus ist eng mit ihrer politischen Vergangenheit verbunden. Als führendes Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands (KBW), einer maoistischen Gruppierung die in den siebziger Jahren an einigen Hochschulen vertreten war, kandidierte sie 1976 für den Bundestag. Doch als Anfang der achtziger Jahre die Auseinandersetzungen in dieser und anderen stalinistischen Gruppen zunahmen, trat Ulla Schmidt in die SPD ein und konzentrierte sich auf ihre Karriere.

Wie bei ihren Ministerkollegen Joschka Fischer und Jürgen Trittin, die beide ihren politischen Aufstieg über die Grünen organisierten, war ihre Wandlung vom kleinbürgerlichen Radikalen zum Staatsminister mit einer tiefgreifenden Verachtung gegenüber der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung verbunden.

Siehe auch:
Der soziale Inhalt von Schröders Regierungserklärung
(19. März 2003)
Die Vorbereitungen für den Umbau des Gesundheitswesens laufen
( 7. Juli 2001)
Gesundheit wird zur Ware
( 23. Mai 2000)
Die Gesundheitsreform 2000
( 26. Juni 1999)
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