Landtagswahlen in Bayern

Die Schere zwischen offizieller Politik und Bevölkerung öffnet sich immer weiter

Das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl vom vergangenen Sonntag zeigt, dass die Politik des Sozialabbaus, die von der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder betrieben wird, in der Bevölkerung auf allgemeine Ablehnung stößt. Die etablierten Parteien erklärten daraufhin gemeinsam mit den Unternehmerverbänden ihre Entschlossenheit, in den kommenden Monaten tiefe soziale Einschnitte gegen den Widerstand der Allgemeinheit durchzusetzen.

Beinahe auf den Tag genau ein Jahr nach den Bundestagswahlen vom September 2002 verlor die SPD in Bayern rund 704.000 Wähler. Ihr Stimmenanteil ging um nahezu 10 Prozent zurück; er sank von 28,7 (Landtagswahlen 1998) auf 19,6 Prozent. Es war das schlechteste Ergebnis, das die SPD in Bayern je verzeichnete.

Die Wahlbeteiligung, die bei den Landtagswahlen von 1998 noch knapp 70 Prozent betragen hatte, sank auf 57,3 Prozent. Von etwas mehr als 9 Millionen Stimmberechtigten gingen nur rund 5,2 Millionen an die Urnen.

Die hohe Enthaltung nutzte in erster Linie der CSU unter ihrem Spitzenkandidaten, dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der bei den Bundestagswahlen vor einem Jahr gegen Schröder angetreten war. Obwohl die CSU gegenüber den letzten Landtagswahlen 43.000 Stimmen verlor, kam sie auf 60,7 Prozent und erhält damit eine Zweidrittelmehrheit der 180 Abgeordnetensitze in der Landeshauptstadt München.

Die Grünen gewannen 2 Prozentpunkte hinzu und kamen auf 7,7 Prozent, die Freien Wähler scheiterten mit 4,0 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde, und die FDP gewann zwar leicht hinzu, blieb aber deutlich unterhalb von 3 Prozent.

Zwar regiert die CSU in Bayern seit mehr als vier Jahrzehnten, doch das diesjährige Ergebnis hat eine neue Qualität. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Partei auf Landes- oder Bundesebene eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze erlangt. Und die Einbußen der SPD widerspiegeln unmissverständlich, dass diese Partei dabei ist, die letzte Unterstützung ihrer traditionellen Klientel zu verlieren. Ersten Analysen der Meinungsforschungsinstitute zufolge verlor die SPD bei den Arbeitern und bei den Angestellten jeweils rund 15 Prozentpunkte, bei den Arbeitslosen sogar 23.

Laut einer Analyse, die das Meinungsforschungsinstitut Infratest-Dimap im Auftrag der ARD und des Berliner "Tagesspiegel" erstellte, blieben 334.000 traditionelle SPD-Wähler zuhause. Weiterhin verlor die SPD 189.000 Wähler an die CSU, 62.000 an die Grünen, 23.000 an die Freien Wähler und 11.000 an die FDP.

Auch unter den traditionellen CSU-Wählern war die Wahlenthaltung mit 297.000 recht hoch, reichte aber nicht an diejenige der SPD-Wähler heran.

Die Bundestagswahlen vom September 2002 hatten SPD und Grüne, deren Koalition 1998 die konservative Regierung Kohl abgelöst hatte, noch einmal ganz knapp gewonnen. Diesen Wahlsieg verdankten sie in erster Linie ihrem öffentlichen Auftreten gegen den Krieg der Regierung Bush im Irak. Es gelang ihnen im Herbst vergangenen Jahres, an die weit verbreitete Ablehnung des Kriegs in der Bevölkerung zu appellieren und Wähler zu mobilisieren, die ihnen ansonsten wohl nicht noch einmal ihre Stimme gegeben hätten.

Doch Schröder und Außenminister Fischer blieben in ihrer Antikriegs-Haltung stets zweideutig - so gewährten sie den US-Truppen den Gebrauch militärischer Infrastruktur auf deutschem Boden - und steuern mittlerweile wieder auf eine Aussöhnung mit George W. Bush zu. Weitaus konsequenter verhielten sie sich hinsichtlich des weiteren Abbaus sozialer und demokratischer Rechte. Im Januar 2003 wurde mit Unterstützung der Bundesregierung im öffentlichen Dienst ein Tarifvertrag durchgesetzt, der den Beschäftigten deutliche reale Einkommenseinbußen bescherte. Zwei Monate später, kaum waren die großen Antikriegsdemonstrationen vorbei, gab Bundeskanzler Schröder mit der "Agenda 2010" ein neues, umfassendes Programm des sozialen Kahlschlags bekannt.

Schaut man sich noch einmal die Reden an, die führende Vertreter des DGB Bayern Ende Mai 2003 auf Protestkundgebungen gegen die "Agenda 2010" hielten, dann wird völlig klar, worauf der Einbruch der SPD bei den jüngsten Landtagswahlen zurückzuführen ist: auf das tiefe Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit, das die rot-grüne Regierung mit ihrer Politik hinterlassen hat.

Auf Massenkundgebungen versuchten damals führende Gewerkschafter, die ansonsten eng mit der Regierung zusammenarbeiten, die Empörung der Arbeiter und Angestellten aufzufangen. Ihre Reden vermitteln einen Eindruck von dem Unmut, der sich in ihrer Mitgliedschaft ausbreitete.

"Die Gewerkschaften", erklärt der bayerische DGB-Vorsitzende Fritz Schösser am 24. Mai dieses Jahres in Nürnberg, "haben sich bei der Bundestagswahl 1998 und 2002 für eine andere, eine bessere Politik eingesetzt. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass Kohl und seine gescheiterte Politik des Sozialabbaus und der ungerechten Steuer- und Abgabenpolitik abgewählt werden... Wir haben uns aber nicht dafür eingesetzt, dass die Politik unter Kohl jetzt mit anderen Köpfen, und zum Teil mit verschärften Mitteln fortgesetzt wird."

Ähnlich sprach der Bezirksleiter der IG Metall in Bayern, Werner Neugebauer. "Wir haben aber auch keinen Bock", biederte er sich an, "auf eine Bundesregierung, auf einen Kanzler, der Arbeitslose in die Sozialhilfe treibt, der den Kündigungsschutz verschlechtert, de facto alle Beschäftigungsgesellschaften unmöglich macht, und die Krankengeldzahlung zu einem privaten Problem erklärt."

Wenige Wochen später, im Juni, brach die IG Metall einen Streik für gleiche Löhne in den Ost-Bundesländern ab und stellte damit die Weichen für ein neues Stadium des sozialen Niedergangs.

Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr, Abwälzung des Krankengeldes allein auf die Arbeitnehmer, Rentenkürzungen, Anhebung des Renteneinstiegsalters, Abbau des Kündigungsschutzes - alle diese Maßnahmen der sogenannten "Agenda 2010" zielen auf die Zerstörung der Sozialreformen ab, die in den 1970er und frühen 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt wurden. Das Endergebnis wäre die Schaffung "amerikanischer Verhältnisse".

Die jahrelange Erfahrung der einfachen Bevölkerung mit dieser Politik des ständigen Sozialabbaus ist der Grund für die verheerende Niederlage der SPD in Bayern.

Das nach den Wahlen in den Medien beschworene Bild einer effektiv arbeitenden bayerischen Landesregierung unter dem treusorgenden Landesvater Edmund Stoiber, der für Arbeitsplätze, eine gute Bildung und wirtschaftliches Wachstum sorge, beruht weitgehend auf einer Fiktion. Zwar ist die Arbeitslosigkeit mit 6,6 Prozent in Bayern geringer als im Bundesdurchschnitt (10,4 Prozent). Doch erstens bestehen starke regionale Unterschiede zwischen dem Boom des Münchener Raums - der teuersten deutschen Großstadt - und den abgelegeneren ländlichen Regionen, die zum Teil mit über 12 Prozent Arbeitslosigkeit "ostdeutsche Verhältnisse" erreichen. Zweitens hat sich die wirtschaftliche Lage in den letzten anderthalb Jahren deutlich verschlechtert. In der bayerischen Metall- und Elektroindustrie wurden in dieser Zeitspanne rund 18.000 Arbeitsplätze zerstört. Bekannte Firmen wie Babcock, Grundig, Dornier und Compaq haben massiv Personal abgebaut. Der Anteil Jugendlicher an der Arbeitslosigkeit hat in Bayern im Verlauf des Jahres 2002 stark zugenommen.

Der Wahlsieg der CSU hat nichts mit ihrer angeblich in Bayern zur Schau gestellten überragenden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kompetenz zu tun. Er geht vielmehr darauf zurück, dass sich die überwiegende Mehrheit von der offiziellen Politik in Berlin zutiefst abgestoßen fühlt.

Die etablierte Politik und die Medien reagierten auf diese Entwicklung mit einer regelrechten Kriegserklärung an die Bevölkerung. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse kündigten führende Sozialdemokraten, Spitzenvertreter von CDU/CSU und Medienkommentatoren an, dass es nun darauf ankomme, gegen den Widerstand der Allgemeinheit einen dramatischen Sozialabbau durchzusetzen.

"Die Menschen haben Angst vor Veränderungen", erklärte Gerhard Schröder. Seine Reformpläne hätten noch keine Wirkung gezeigt, weil sie noch nicht voll umgesetzt seien. "Das ist auch der Grund, warum ich deutlich machen will, dass wir nicht die Absicht haben und auch nicht die Absicht haben dürfen, am Kurs, den wir mit der Agenda 2010 beschrieben haben, etwas zu ändern."

Roland Koch, CDU-Ministerpräsident von Hessen, brüstete sich in der viel gesehenen Talkshow von Sabine Christiansen noch am Wahlabend mit seiner Fähigkeit zu "politischer Führung", die darin bestehe, unpopuläre Maßnahmen mit harter Hand zu verwirklichen. "Wir Politiker", antwortete er auf die Frage, wie er zu der Opposition der Bevölkerung stehe, "dürfen uns nicht immer darauf fixieren, was andere sagen."

Koch war sich mit dem ebenfalls geladenen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) darin einig, dass nun, nach der Bayernwahl, "keine Änderung des Reformkurses" erfolgen dürfe. Nötig seien, so Wowereit, vielmehr "radikale Schnitte, nicht Zaudern, nicht Zögern".

Dem konnte Heinrich von Pierer, der Vorstandsvorsitzende des globalen Unternehmens Siemens, nur zustimmen. Er forderte CDU/CSU zur Zusammenarbeit mit der rot-grünen Bundesregierung auf und bekräftigte die Unterstützung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie für Schröders "Agenda 2010". Nötig sei nun, so von Pierer weiter, "eine klare politische Führung, die sich nicht mit jedem Bedenken auseinandersetzt."

Die Kluft, die das politische Establishment von der allgemeinen Bevölkerung trennt, hat sich in der Landtagswahl in Bayern unübersehbar gezeigt und kommt den Herrschenden selbst mit zunehmender Deutlichkeit zu Bewusstsein. Die bevorstehenden sozialen Angriffe lassen sich nicht mit demokratischen Mitteln durchsetzen. Die Beschwörungen diverser Akademiker und Professoren am Wahlabend sind in dieser Hinsicht eine klare Warnung.

So forderte der Politikwissenschaftler Jürgen Falter den "Zusammenschluss aller politischen Kräfte", um den "Egoismus der Bevölkerung" zu brechen. Es handele sich bei der "Reformfeindlichkeit" der Bevölkerung um eine "habituelle, über lange Zeit gewachsene" Einstellung, die nun durch einen "Umerziehungsprozess" gebrochen werden müsse. "Es fehlt die Einsicht, dass es weh tun muss."

"Das Hauptproblem", resümierte sein Kollege, Professor Meinhard Miegel, "das Hauptproblem sind die Bürger selbst". Über die letzten dreißig Jahre hinweg hätten sie sich an gewisse Sozialstandards gewöhnt und hielten jeden konkreten Reformvorschlag der heutigen Regierung für unzumutbar.

Die ausgeprägte Verachtung für demokratische Prozesse und für den Willen der Allgemeinheit, die in diesen Reaktionen zum Ausdruck kommt, ist eine ernste Warnung für die Arbeiterklasse.

(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2003 enthalten.)
Loading