Hitzetote in ganz Europa

Die Zahl der Menschen, die infolge der Hitzewelle in diesem Sommer in West- und Südeuropa sterben mussten, beläuft sich möglicherweise auf 20.000 oder mehr. Eine genauere Schätzung stößt oft auf den Widerstand der Regierungen und staatlichen Behörden, die eine deutliche Abneigung zeigen, sich mit dem Phänomen überhaupt zu befassen.

"Tausende Menschen sind in Europa der extremen Hitze zum Opfer gefallen", hieß es am 29. August auf der deutschen Internetsite Ärztliche Praxis. Der sogenannte "Ernte"-Effekt reiche als Erklärung dafür nicht aus. Unter dem "Ernte"("Harvesting")-Effekt verstehen die Ärzte den hitzebedingten, vorzeitigen Tod von Menschen, die vermutlich ohnehin bald gestorben wären.

Aus Vergleichen über einen längeren Zeitraum wird deutlich, dass viele Menschen unnötigerweise an den Folgen der Hitze, an Herz-Kreislauf-Problemen oder an tödlich verlaufenden Infekten sterben mussten, die sie unter normalen Umständen leicht hätten abwehren können. Daraus muss man schließen, dass die meisten der Opfer zu den Ärmsten und Wehrlosesten der Gesellschaft gehören und nicht über die zu ihrer Rettung notwendigen Mittel verfügen.

Am katastrophalsten war die Situation in Frankreich, wo die höchsten Todeszahlen zu beklagen waren und die Regierung am 29. August eingestehen musste, dass allein in den zwei ersten Augustwochen über 11.000 Menschen mehr als erwartet gestorben seien.

In Italien hat sich die Regierung wochenlang geweigert, offizielle Zahlen zu veröffentlichen, musste aber unter dem Druck der Öffentlichkeit einer Untersuchung über die Todeszahlen zustimmen. Mehrere Zeitungen schätzten die Zahl der Hitzetoten Ende August auf mindestens 2.000; allein in Genua seien in den zwei ersten Augustwochen fast 200 Menschen mehr als im Vorjahr gestorben.

In Spanien sprach die Regierung von ein paar Dutzend Toten, aber eine Organisation zur Überwachung der Patientenrechte rechnete aus, dass die Zahl eher bei 2.000 liegen müsse. Die Tageszeitung El Pais berichtete, im Juli und in den ersten beiden Augustwochen seien allein in den fünfzehn größten Städten von Katalonien 1.670 mehr Menschen gestorben als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

In Portugal, wo ganze Landstriche von Buschfeuern verwüstet wurden - was die Temperaturen der sengenden Hitze noch zusätzlich in die Höhe trieb - berichtete die Regierung, es seien in den ersten beiden Augustwochen 1.316 Menschen mehr als im Vorjahr gestorben.

In England registrierte das Amt für Nationale Statistik am 15. August eine Zahl von 907 zusätzlichen Todesfällen im Vergleich zum letzten Jahr. In Holland schätzte das Gesundheitsministerium, dass zwischen 500 und 1000 Menschen der Hitze zum Opfer gefallen seien. In Belgien gab es dagegen erstaunlicherweise laut offiziellen Angaben überhaupt keine ungewöhnlichen Todesfälle, die der Hitze zugeschrieben werden müssten.

Für Deutschland gibt es nach wie vor keine offiziellen Statistiken, wie das statistische Bundesamt in Wiesbaden oder das Robert-Koch-Institut in Berlin erklärt haben. Ende August sprachen die Behörden offiziell von dreißig zusätzlichen Todesfällen. Doch haben Mediziner und Forscher ermittelt, dass man bundesweit von mehreren Hundert Opfern ausgehen muss.

Der Medizin-Meteorologe des Deutschen Wetterdienstes, Gerd Jendritzky aus Freiburg, hatte aus vergleichenden Studien der letzten dreißig Jahre für Baden-Württemberg eine Zahl von etwa 180 Opfern errechnet, die ohne die große Hitze wahrscheinlich noch leben könnten. Jendritzky zog die bittere Bilanz: "Zwei Drittel der Toten könnten heute noch ein schönes Leben führen". Er hatte schon Wochen zuvor auf die Gefahren der Hitze aufmerksam gemacht und Gegenmaßnahmen gefordert. Am 3. September sagte er laut einem Bericht im Spiegel: "Wäre die Hitzewelle in diesem Sommer bei uns nur ein wenig feuchter ausgefallen, hätten wir Opferzahlen wie in Frankreich bekommen."

Wie unnötig viele Todesfälle waren, geht aus der Tatsache hervor, dass in einigen Altersheimen die Todesrate auffällig hochschnellte, während in anderen, mit Personal und medizinischen Möglichkeiten gut ausgestatteten Einrichtungen kein Mensch an den Folgen der Hitze sterben musste. In Karlsruhe wurde bekannt, dass es in verschiedenen Altersheimen allein in der ersten Augusthälfte 26 Todesfälle gab, davon elf in einem einzigen Seniorenheim. Das hessische Sozialministerium musste zugeben, dass es in Darmstadt und Frankfurt ähnliche Zahlen gegeben hatte. Seit Jahren kämpfen Krankenschwestern wie Altenpfleger gegen die Verschlechterung der Pflegebedingungen und für die Einstellung von mehr Personal.

Die Art und Weise, wie die europäischen Regierungen mit der gesteigerten Todesgefahr für alte und geschwächte Menschen während der großen Augusthitze umgegangen sind und immer noch umgehen - ihre mangelnde Bereitschaft, in den heißesten Tagen zusätzliche Mittel bereitzustellen, ihr offensichtliches Bemühen, das Ausmaß der Krise herunterzuspielen, sowie ihre Abneigung, die Ursachen, Umstände und wirklichen Opferzahlen zu analysieren - all dies wirft ein deutliches Licht auf ihre Einstellung zur Not der einfachen Bevölkerung. Manchmal sprechen Taten lauter als Worte.

Unterdessen setzen alle europäischen Regierungen ihre Rotstiftpolitik bei Renten- und Gesundheitsversorgung ungebremst fort. Die Senioren der Gesellschaft, die kein eignes Vermögen haben, sind für sie in vieler Hinsicht nur unnötiger Ballast. Am deutlichsten brachte das der 23-jährige Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Missfelder, zum Ausdruck. Er machte Anfang August, mitten in der größten Bruthitze, als Beitrag zur Rentenreformdebatte den Vorschlag, die gesetzliche Krankenversicherung solle Senioren bestimmte medizinische Leistungen prinzipiell verweigern. So dürfe man Menschen über 85 Jahren keine Hüftgelenke mehr bezahlen.

Siehe auch:
Frankreich: Über 10.000 Tote in Rekordhitzewelle
(23. August 2003)