Schröders Offensive gegen die Bevölkerung

Drohungen und wüste Attacken auf Kritiker

Seit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vor einem Jahr knapp wieder gewählt wurde, hat er bereits fünf Mal mit Rücktritt gedroht. Jedes Mal richtete sich diese Drohung an die Kritiker der "Agenda 2010", mit der weitreichende Angriffe auf soziale Errungenschaften durchgesetzt werden sollen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem der Kanzler seine innerparteilichen Widersacher nicht heftig attackiert.

Auf einer SPD-Fraktionssitzung Ende September warnte er seine Kritiker mit den Worten, jeder der gegen die "Agenda 2010" stimme, müsse sich darüber im Klaren sein, dass er das Scheitern seiner Regierung in Kauf nehme. Es bedeute das Ende von Rot-Grün, wenn die Regierung bei der "Reform-Agenda" keine eigene Mehrheit habe, betonte Schröder.

Trotzdem stimmten sechs SPD-Abgeordnete bei der anschließenden Abstimmung über die Gesundheitsreform im Bundestag gegen die Regierung. Nur weil die Einschränkungen der Gesundheitsversorgung von der Union mitgetragen wurden und daher mehrere Unionsabgeordnete der Abstimmung fernblieben, hatten die Regierungsparteien eine eigene Mehrheit.

Schröder und der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering reagierten wütend. Müntefering nannte die Abweichler "feige" und "kleinkariert" und forderte sie auf, ihr Mandat niederzulegen, eine Forderung, die seither von den Parteirechten des "Seeheimer Kreises" mehrfach wiederholt wurde.

Am 17. Oktober steht eine weitere Parlamentsabstimmung an. Dann soll über die vom Kabinett bereits beschlossene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und damit über eine gravierende Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Ärmsten der Gesellschaft entschieden werden. Im Grunde soll durch die Neuregelung erreicht werden, dass Langzeitarbeitslose und Bedürftige gezwungen sind, jede Art von Billiglohnarbeit anzunehmen. Darüber hinaus führt die geplante gesetzlich Bindung von staatlicher Unterstützung an die Bereitschaft, jede Art von Arbeit anzunehmen, zu Formen staatlichen Arbeitsdienstes, wie sie am Ende der Weimarer Republik eingeführt wurden.

Nachdem bereits mehrere Abgeordnete der Regierungsparteien ihre Zustimmung von "Nachbesserungen" abhängig gemacht hatten, erklärte Schröder auf einer Gewerkschaftskonferenz in Hannover, mit ihm werde es keine inhaltliche Veränderung dieses Gesetzentwurfs geben. Für eine andere Politik stehe er nicht zur Verfügung, sagte Schröder und drohte erneut mit Rücktritt.

Einer seiner Kritiker, der Sprecher des Forums "Demokratische Linke 21", Detlev von Larcher, warf dem Kanzler daraufhin "unzumutbare Erpressungsversuche" vor. Es gehe nicht an, so von Larcher, dass "freie Abgeordnete", die laut Grundgesetz nur ihrem Gewissen verantwortlich und aufgrund eindeutiger Aussagen gewählt worden seien, permanent massiv unter Druck gesetzt würden.

Die Aggressivität, mit der Schröder jedes Gegenargument abbügelt und alle Kritiker mundtot zu machen versucht, nimmt ständig zu. Auch Fraktionschef Müntefering schwingt nur noch die Peitsche und droht jedem Abweichler mit Repressionen. Sein Hauptargument lautet: "Maul halten!" Mehr und mehr gleicht die Berliner Regierung einem Regime im Belagerungszustand, das wild um sich schlägt. In einigen Pressekommentaren wird bereits über "Kanzlerdämmerung" und "Endzeitstimmung" geschrieben.

Widerstand der Bevölkerung

Der Grund für diese Mischung aus Verzweiflung und Wut im Kanzleramt liegt aber nicht im Verhalten einiger widerspenstiger Abgeordneter, die ohnehin bei jeder Gelegenheit betonen, dass sie trotz ihrer Kritik die Regierungsmehrheit nicht gefährden wollen. Vielmehr sieht sich die Regierung mit einer scharfen Ablehnung ihrer Politik in der Bevölkerung konfrontiert.

Daran ändert auch nichts, dass sich Meinungsforschungsinstitute bemühen, mit immer neuen Statistiken die Behauptung zu untermauern, "die Öffentlichkeit" fordere mehr Reformen und verlange von der Regierung mehr Mut zur Durchsetzung ihrer Politik. Diese Art "öffentliche Meinung" ist ein synthetisches Produkt, produziert von den Medien und anderen Meinungsmachern, das der tatsächlichen Stimmung in der Bevölkerung vollständig widerspricht.

Obwohl die Gewerkschaften alle Proteste gegen die "Agenda 2010" abgesagt haben und der Regierung den Rücken stärken, nimmt der wachsende Widerstand in der Bevölkerung deutliche und sichtbare Formen an.

Bei der Landtagswahl in Hessen im vergangenen Frühjahr musste die SPD bereits starke Stimmenverluste hinnehmen. Besonders krass war die Abstrafung mit dem Stimmzettel dann in Bayern vor zweieinhalb Wochen. Die SPD verlor über 700.000 Wähler. Ihr Stimmenanteil ging um nahezu zehn Prozent zurück. Zum ersten Mal in einem westdeutschen Bundesland sackte sie unter die Zwanzig-Prozent-Marke.

Dabei handelt es sich nicht um eine "bayerische Besonderheit", weil die SPD im südlichsten Bundesland seit geraumer Zeit schwachbrüstig ist. Gerade in ihren früheren Hochburgen, den großen Arbeitergebieten der Industriestädte, verliert die SPD gegenwärtig massiv an Einfluss und Unterstützung.

Das zeigt sich auch in einer anderen Entwicklung. Seit Jahresbeginn haben mehr als 30.000 Mitglieder der SPD den Rücken gekehrt. Hier findet eine Abstimmung mit den Füssen statt, die tiefgreifender und bedeutsamer als alle früheren Proteste gegen die sozialdemokratische Parteiführung ist. Während in der Vergangenheit Protestkundgebungen mit der Hoffnung verbunden waren, den Kurs der Partei zu ändern, sind viele, zum Teil ausführlich begründete Austrittserklärungen davon geprägt, dass diese Hoffnung auf eine Kursänderung nicht mehr besteht.

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet, dass viele Austrittsschreiben betonen, es gäbe unter der Führung von Schröder und Müntefering keinen Platz mehr für diejenigen in der Partei, die an den alten sozialdemokratischen Werten von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie festhalten. Seit dem Jahr der Einheit 1990, als die SPD noch 950.000 eingeschriebene Mitglieder zählte, ist die Mitgliedschaft auf 664.000 am 1. August 2003 geschrumpft, wobei die Austrittswelle ständig anschwillt. In den ersten sechs Monaten diesen Jahres hatten die Austritte bereits die Gesamtzahl des Vorjahres erreicht.

Viele Basisfunktionäre sind entsetzt. Parteibüros und Geschäftsstellen mussten vielerorts bereits geschlossen oder zusammengelegt werden. Im Saarland versuchte ein Unterbezirksvorsitzender den Partei-Aussteigern hinterher zu telefonieren, berichtet Der Spiegel. Doch das Ergebnis war ernüchternd. Als sich die telefonische Seelenmassage herumsprach, endeten die Austrittsbegründungen mit dem Zusatz: "Anrufen zwecklos!"

Schröder reagiert auf die wachsende Opposition an der Parteibasis und in der Bevölkerung, indem er über elementare demokratische Grundsätze hinwegtrampelt. Seine unmittelbare Reaktion auf das miserable Wahlergebnis der SPD in Bayern bestand darin, die Unveränderbarkeit seiner Politik zu betonen. "Mit mir wird es keine andere Politik geben", sagte er in der Wahlnacht. Mit anderen Worten: Ihr könnt abstimmen und dagegen stimmen soviel ihr wollt, wir werden unsere Politik nicht ändern. Und wenn wir sie nicht durchsetzen, werden es andere tun.

Auch der Befehlston in der Bundestagsfraktion ist nicht nur eine Frage des politischen Stils. Vielmehr zeigt sich hier ein politisches Regime, das entschlossen ist, jeden Widerstand von unten rücksichtslos zu unterdrücken, und das von jedem Parteifunktionär verlangt, standhaft gegen die Interessen der Bevölkerung und der Wähler vorzugehen.

In diesem Zusammenhang ist Münteferings Vorwurf, die abtrünnigen Abgeordneten seien "feige", sehr aufschlussreich. Das "aufmüpfige Duzend" unter den Parlamentariern ist zwar alles andere als mutig oder gar prinzipienfest, doch aus dem Munde des Fraktionschefs hört sich der Vorwurf "feige" eigenartig an. Eine Regierung, die vor jedem Wink aus dem Unternehmerlager kuscht und auf Hetzkampagnen der Bild -Zeitung mit hektischen Gesetzgebungsaktivitäten regiert, wirft jenen Feigheit vor, die zögern, mit Härte und Entschlossenheit gegen die Interessen der Bevölkerung vorzugehen.

Schröder, Müntefering, Generalsekretär Scholz, Verteidigungsminister Struck und andere in der SPD-Führung verstehen unter "Verteidigung der Demokratie" vor allem die rücksichtslose Verteidigung der Interessen der herrschenden Elite. Wie schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren ebnet dies Politik auch heute den rechtesten politischen Kräften den Weg. Wie in Frankreich und anderen Ländern spielt die SPD die Rolle des Steigbügelhalters für die Rechten.

Rechtsruck der CDU

Die CDU-Führung hat auf die Auseinandersetzungen in der SPD mit einem merklichen sozialpolitischen Rechtsruck reagiert. Sie fühlt sich jetzt in der Lage, offen für ein ultrareaktionäres Sozialprogramm einzutreten, ohne deshalb mit einer Wahlniederlage rechnen zu müssen.

So macht sich die CDU-Vorsitzende Angela Merkel inzwischen für den Vorschlag der Herzog-Kommission stark, vollständig aus der solidarischen Krankenversicherung auszusteigen. Jeder Versicherte soll unabhängig vom Einkommen eine einheitliche Kopfprämie bezahlen, die Familienversicherung wegfallen. Für arme und kinderreiche Familien brächte dies eine unerträgliche Belastung, für Besserverdienende eine merkliche Entlastung. Fraktionsvize Friedrich Merz begrüßte dies als "Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung der CDU".

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch, wie Merz am rechten Flügel der Union angesiedelt, hat soeben das nach eigenen Angaben "größte Sparprogramm der Nachkriegsgeschichte" für sein Bundesland vorgelegt. Koch fühlt sich nicht nur durch den Rechtskurs der Bundesregierung ermutigt, er profitiert auch von der Unterstützung seines nordrhein-westfälischen Amtskollegen Peer Steinbrück (SPD), der gemeinsam mit Koch umfassende Vorschläge über Subventionsabbau und umfangreiche soziale Kürzungen erarbeitet hat.

Steinbrück, ein Finanzbeamter und Technokrat aus Schleswig-Holstein, wurde vom früheren NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (SPD) in die Landesregierung nach Düsseldorf geholt und nach wenigen Ministerjahren als Regierungschef eingesetzt, ohne sich jemals einer Wahl zu stellen. Dieser völlig farblose Bürokrat setzt in der größten Industrieregion Europas, dem Ruhrgebiet, brutale Sozialkürzungen durch, ohne sich im geringsten für die sozialen und politischen Auswirkungen dieser Maßnahmen zu interessieren. Gerade in diesem Bundesland, das einst als einst als "Herzkammer der Sozialdemokratie" bezeichnet wurde, sind die Massenaustritte aus der SPD besonders hoch.

Zahnlose Opposition

Die oppositionellen Abgeordneten in der SPD-Fraktion haben dem Rechtskurs der Parteiführung nichts entgegenzusetzen. Recht gut hat Richard Meng in der Frankfurter Rundschau ihre Rolle mit den Worten skizziert: "Zeigen, dass es in der SPD nach wie vor auch noch Gegenpositionen gibt, und so immer neue Austritte engagierter Sozialdemokraten verhindern: Das ist das Motiv der Linken."

Vor allem eines prägt die Haltung dieser selbst ernannten Linken: Angst. Angst vor dem Auseinanderbrechen der Partei, Angst vor dem Verlust ihrer einträglichen Abgeordnetenmandate, Angst vor dem Ende der gesellschaftlichen Stabilität, vor allem aber Angst davor, dass der Rechtskurs der Parteiführung eine Radikalisierung von unten auslöst, die nicht mehr zu kontrollieren ist.

Die Sozialdemokratie werde zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, hatte Trotzki in den dreißiger Jahren geschrieben. Genau das findet gegenwärtig statt. Die Linken klagen darüber, dass der Druck von unten aus den Wahlkreisen und der Druck von oben, aus dem Kanzleramt und Münteferings Büro unerträglich werde. Sie versuchen die Flügel zusammenzuhalten und Austritte zu verhindern. Doch das ist ein hoffnungsloses Unterfangen.

Es gibt keinen Weg zurück zu den Sozialreformen der siebziger Jahre. Der Niedergang der SPD hat tiefe, objektive Ursachen. Notwendig ist der Aufbau einer neuen Partei, die sich mit aller Macht gegen die Politik der SPD stellt und den Kampf für Demokratie und soziale Gleichheit in den Mittelpunkt ihres Programms stellt.

Siehe auch:
Hessische Landesregierung legt "größtes Sparprogramm der Nachkriegsgeschichte" vor
(7. Oktober 2003)
Schröder Bush und die "Agenda 2010"
( 2. Oktober 2003)
Schröders Angriff auf die Schwächsten der Gesellschaft
( 19. März 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2003 enthalten.)
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