Bolivien: Massenunruhen bringen den Präsidenten zu Fall

Nachdem eine Massenrevolte das Land zum Stillstand gebracht hatte und mindestens 86 Menschen von Sicherheitskräften niedergeschossen worden waren, sah sich der von Amerika gestützte Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada am vergangenen Freitag gezwungen, zurückzutreten und in die Vereinigten Staaten zu fliehen.

Sanchez de Lozada wurde durch Carlos Mesa, seinen Vizepräsidenten, ersetzt, der sich von der ehemaligen Regierung distanziert hatte, nachdem Massaker an unbewaffneten Demonstranten Bolivien an den Rand einer Revolution gebracht hatten. Mesa kündigte an, ein neues Kabinett von "Technokraten" zusammenzustellen, das er als Regierung der Nationalen Einheit bezeichnet.

In Wirklichkeit repräsentiert der neue Präsident die gleiche privilegierte Gesellschaftsschicht wie sein Vorgänger, den er so lange unterstützt hatte, bis sich deutlich abzeichnete, dass die Regierung mit einem ausgewachsenen Aufstand konfrontiert war. Mesa ist Millionär, Besitzer eines bolivianischen Fernsehsenders und, wie Sanchez de Lozada, Mitglied der MNR ("Revolutionär-Nationalistische Bewegung"). Diese Rechtspartei war an einer Reihe von bolivianischen Koalitionsregierungen beteiligt, die Sparhaushalte und Privatisierungspläne umgesetzt haben, die dem Land seit den 1980-er Jahren von Washington und dem Internationalen Währungsfond (IWF) diktiert worden sind.

Während seiner ersten Amtszeit von 1993 bis 1997 beschleunigte Sanchez de Lozada das Tempo der Privatisierungen im staatlichen Sektor und setzte dabei besonders den Verkauf der ehemals staatlichen Erdölindustrie des Landes durch. Um seine Politik als Erfolg darzustellen, wurden Statistiken herangezogen, die auf einen Anstieg der Investitionen und Wirtschaftswachstum verweisen. Doch diese Zuwachsraten beruhten praktisch ausschließlich auf dem Ausverkauf der Ressourcen und Infrastruktur des Landes. Während Telefonnetze und Eisenbahnen zu Schleuderpreisen verscherbelt wurden, wuchsen Arbeitslosigkeit und soziales Elend in weitaus höherem Maße als Investitionen.

Mesa ist, ebenfalls wie der ehemalige Präsident, ein vehementer Befürworter von Privatisierungen im Allgemeinen, und im Besonderen unterstützt er den Plan, eine fünf Milliarden Dollar teure Pipeline zu bauen, um Boliviens Erdgasreserven über einen chilenischen Hafen in die Vereinigten Staaten und nach Mexiko zu exportieren. Kritiker dieses Vorhabens erheben den Vorwurf, dass es gewaltige Profite für transnationale Energiekonzerne und Reichtum für eine Hand voll bolivianischer Geschäftsleute bedeuten, dem Land aber seine wertvollste natürliche Ressource stehlen wird.

Die gewaltige Oppositionsbewegung gegen das Vorhaben und die Privatisierung der bolivianischen Energievorkommen zog Massen von Bauern, städtischen Armen und Arbeitern in den Kampf gegen die Regierung. Die Frage des bolivianischen Erdgases wurde zum Brennpunkt der Kämpfe, in denen sich auch der aufgestaute Zorn über die immense Armut und soziale Ungleichheit entlud, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen sind.

Die Wurzeln der Revolte reichen tief in das historische Gedächtnis der bolivianischen Bevölkerung, die seit den Tagen des spanischen Kolonialismus die ununterbrochene Ausplünderung der Ressourcen des Landes - Silber, Zinn, Öl und jetzt Gas - durch den ausländischen Kapitalismus und die brutale Unterdrückung der Bergarbeiter, Bauern und anderen Teilen der arbeitenden Bevölkerung erlebt hat.

Ein Versuch, die Massenproteste in Blut zu ertränken - der offensichtlich von amerikanischen Militärberatern koordiniert worden war, die sowohl von der US-Botschaft als auch vom bolivianischen Verteidigungsministerium aus operierten - ging nach hinten los. Das Massaker der Armee an Bauern, die auf einer Überlandstraße in der Region Warisata demonstrierten, und das nachfolgende Niederschießen von Dutzenden Arbeitern und Armen im Slum von El Alto, einem Industriebezirk vor den Toren der Hauptstadt La Paz, sorgten im ganzen Land für Aufruhr und führten zu einer Ausdehnung des Generalstreiks und der Straßenblockaden, die die Hauptstadt und andere wichtige Zentren vom Rest des Landes abschnitten.

Am Tag, als Sanchez de Lozada zurücktrat, waren Scharen von Bergarbeitern mit Dynamitstangen und Tausende Bauern nach La Paz geströmt, wo sie sich den Massenprotesten anschlossen und die Straßenblockaden verstärkten, die ohnehin schon die Stadt lahmgelegt hatten.

Der Wechsel an der Spitze scheint in Übereinkunft mit Washington vorgenommen worden zu sein. Eine der ersten Amtshandlungen Mesas bestand darin, den amerikanischen Botschafter David Greenlee zu treffen, der früher CIA-Chef in dem instabilen Land war.

Inmitten der Rebellion hatten die US-Botschaft und das Außenministerium in Washington explizit mit Vergeltungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten gedroht, falls die Massenbewegung die Regierung stürzen sollte. Greenlee sagte beispielsweise gegenüber der bolivianischen Presse: "Sollte eine Regierung aus dem Druck der Straße heraus entstehen, wird die internationale Gemeinschaft Bolivien isolieren."

Nun ist es das Ziel der Bush-Regierung wie der lokalen Oligarchie, eine Atempause zu gewinnen, um die soziale Explosion in Bolivien zu entschärfen und sich für eine weitere politische Offensive gegen die Massen vorzubereiten. Mesa hat das Versprechen wiederholt, das Sanchez de Lozada vor seinem Rücktritt abgegeben hatte, dass ein Volksreferendum zum Erdgasdeal und einer Neuformulierung der Energiegesetze des Landes durchgeführt werden soll. Zudem hat er baldige Wahlen zugesagt. Es gab allerdings keinerlei Hinweis darauf, dass das Referendum bindend sein würde, noch wurde ein Datum für die Wahl eines neuen Präsidenten festgelegt.

Kurzfristig scheint die Neuordnung an der Spitze dank der versöhnlichen Politik der Gewerkschafts- und Bauernführer den gewünschten Effekt zu haben. Evo Morales, der ehemalige Führer der Kokabauern und ein Parlamentsabgeordneter der oppositionellen MAS ("Bewegung zum Sozialismus") hatte Mesas Ausrufung zum Präsidenten als "verfassungskonforme Lösung" vorgeschlagen, die für Washington akzeptabel sei. "Wir werden Präsident Carlos Mesa eine Atempause, einen Waffenstillstand, gewähren, so dass er sich einrichten und seine Versprechen für das Land wahr machen kann", erklärte Morales.

Der Führer der bolivianischen Landarbeitervereinigung, Felipe Quispe Huanca, tat Mesas Versprechen als Lügen ab, sagte aber, seine Organisation würde dem neuen Präsidenten 90 Tage geben, um Veränderungen durchzuführen.

Und schließlich kündigte der bolivianische Gewerkschaftsverband COB an, den Generalstreik aufzuheben, und entsandte sein Führungsmitglied Jaime Solares zum Treffen mit Mesa in den Präsidentenpalast, um eine Liste mit 20 Forderungen vorzulegen. "Wir haben zu verstehen gegeben, dass er so lange Unterstützung genießt, wie er energisch gegen Korruption kämpft", erklärte Solares nach dem Treffen.

Trotz des Nachgebens der existierenden Arbeiter- und Bauernorganisationen zeigte Mesa keine große Zuversicht in Hinblick auf die Fähigkeit der Regierung, ein Wiederaufleben der revolutionären Unruhen zu verhindern. "Der Abgrund ist noch zum Greifen nahe, und jeder Fehler, jedes Fehlen einer Perspektive, jedes Geizen kann uns in den Abgrund stoßen", sagte er am Sonntag gegenüber dem neuen Kabinett.

Die Bush-Regierung gewährte Sanchez de Lozada umgehend politisches Asyl - einem Geschäftsmann und Multimillionär, der unter Bolivianern "El Gringo" genannt wird, da er in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist und Spanisch nur mit hartem amerikanischen Akzent spricht. In einem Interview mit dem Miami Herald holte Sanchez de Lozada gegen die Massenbewegung aus, die ihn gestürzt hatte, und bezeichnete sie als eine "Verschwörung, um den ersten von Gewerkschaften und Drogenhändlern kontrollierten Staat in Südamerika zu errichten".

In Bolivien kündigte die Menschenrechtskommission des Abgeordnetenhauses an, Klage gegen Sanchez de Lozada zu erheben. Sie will ihn für die beinahe 200 Toten vor Gericht stellen, die als Ergebnis von Repressionsmaßnahmen seiner Regierung in einer kaum 14 Monate dauernden Amtszeit ums Leben kamen.

Neben den jüngsten Erschießungen hatte die Regierung das Militär gegen Massenproteste eingesetzt, die im vergangenen Februar ausgebrochen waren und sich gegen die vom IWF geforderte Erhöhung der Einkommenssteuer und andere Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung richteten. Die Proteste wurden besonders blutig, als die Polizei zu streiken begann und von Soldaten niedergeschossen wurde. Mindestens 33 Menschen wurden während der Proteste getötet, und die Ereignisse erhielten in Bolivien die Bezeichnung "Schwarzer Februar". Die Forderungen nach einer Absetzung und Verurteilung von Sanchez de Lozada begannen nach dem Februar-Massaker.

Mesa hat deutlich gemacht, dass er nicht die Auslieferung von Sanchez de Lozada beantragen wird, an dessen Verbrechen er selbst beteiligt war. Gleichzeitig gab er bekannt, dass er keine Veränderungen beim Kommando des Militärs und der Polizei vornehmen wird.

Das Südkommando der Vereinigten Staaten in Miami bestätigte derweil am Freitag, dass es ein "Sicherheitsteam" von Militärberatern nach Bolivien entsende. Ein Sprecher sagte, dass das Team "eine technische Einschätzung der Lage da unten durchführen" und die US-Botschaft sowie das amerikanische Militär in Bolivien beraten werde.

Die Bush-Regierung will um jeden Preis verhindern, dass die bolivianischen Ereignisse außer Kontrolle geraten, weil sie befürchtet, dass sich der Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik, die der IWF und die multinationalen Konzerne mit Sitz in den Vereinigten Staaten einfordern, über den gesamten Kontinent ausbreiten könnte.

Bolivien ist das ärmste Land in Südamerika und hat am härtesten unter den Folgen der Privatisierungspolitik des "freien Marktes" und den drakonischen Kürzungen bei den Sozialausgaben gelitten, die überall in der Region durchgesetzt worden sind. Während die offizielle Arbeitslosenquote des Landes bei 12 Prozent liegt, sind nach Angaben des bolivianischen Zentrums zur Untersuchung der Arbeitsmarkt- und Landwirtschaftsentwicklung ganze 45 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ohne festen Arbeitsplatz und gezwungen, von Teilzeitarbeit oder Jobs im so genannten informellen Sektor zu überleben.

Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen nimmt Bolivien in Bezug auf Ernährungsindexe in Südamerika den letzten Platz ein, und das obwohl der Agrarsektor des Landes leicht in der Lage wäre, die Bevölkerung von 8,8 Millionen Menschen mit Lebensmittel zu versorgen. Nach Angaben der Vereinten Nationen leiden mindestens zwei Millionen Bolivianer chronischen Hunger und lediglich 12 Prozent der bolivianischen Familien sind in der Lage, täglich den Minimalbedarf an Kalorien zu decken.

Ein Bericht einer bolivianischen Forschungsgruppe, der Einheit für Analyse von Wirtschafts- und Sozialpolitik, kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl der in Armut lebenden Bolivianer von 5.076.000 im Jahre 1995 auf 5.448.000 im Jahre 2001 gestiegen ist.

Die Bedingungen in Bolivien sind extrem, jedoch keineswegs einzigartig. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Weltbank zur Ungleichheit in Lateinamerika zeigte auf, dass die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung in der Region 48 Prozent vom Gesamteinkommen erhalten, während auf die ärmsten zehn Prozent lediglich 1,6 Prozent entfielen.

Nach einem Bericht der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, der Ende August erschienen ist, stieg die Zahl der Lateinamerikaner, die in Armut leben, im vergangenen Jahr auf 220 Millionen (43,4 Prozent). 95 Millionen (18,8 Prozent) werden als "mittellos" beschrieben. "Schritte zur Überwindung von Armut sind in den letzten fünf Jahren zum Stillstand gekommen", erklärt der Bericht und warnt davor, dass die derzeit niedrigen ökonomischen Wachstumsraten für eine Verschlimmerung der Lage sorgen werden. Im vergangenen Monat hatte der IWF seine Erwartungen für das Wirtschaftswachstum der Region auf 1,1 Prozent gesenkt.

Es gibt vermehrte Hinweise darauf, dass sich die soziale Revolte, die in Bolivien ausgebrochen ist, ausweiten könnte, weil die kumulativen Effekte jahrzehntelanger Sparpolitik und das Ausplündern regionaler Reichtümer durch die internationalen Banken und transnationalen Konzerne immer unerträglicher geworden sind.

In Ecuador ist die Regierung von Lucio Gutierrez mit Massenprotesten konfrontiert, die sich gegen die Durchführung eines vom IWF diktierten Sparplans wenden, der umfassende Angriffe auf Arbeitsrechte, soziale Bedingungen und die Renten vorsieht. Staatsbedienstete haben sich wiederholt zu Protesten versammelt und die Organisationen der indigenen Landbevölkerung, die zuvor Gutierrez unterstützt hatten, haben seine Regierungspolitik verurteilt. Ecuadors Wirtschaftswachstum nimmt kontinuierlich ab, gleichzeitig sind die Schulden des Landes auf beinahe 42 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts angestiegen.

Währenddessen blockierten in Honduras, einem anderen der ärmsten Länder Lateinamerikas, Tausende Menschen die Überlandstraßen, um gegen die ökonomischen Maßnahmen zu protestieren, die die Regierung im Zuge ihrer Verhandlungen mit dem IWF angekündigt hat. Die honduranische Regierung plant die Privatisierung der Wasserversorgung, während sie gleichzeitig die Gehälter von etwa 100.000 Arbeitern im öffentlichen Sektor zusammenstreicht. Ganze 80 Prozent der Bevölkerung von Honduras leben in Armut.

Wie die Ereignisse in Bolivien gezeigt haben, ist Washington bereit, im eigenen Interesse die brutalsten Formen der Unterdrückung zu unterstützen und durchzuführen, um die amerikanische Hegemonie über die Region sicherzustellen und die Energieversorgung sowie andere strategisch wichtige Ressourcen unter Kontrolle zu halten. Trotz dieser Repression konfrontiert die gewaltige soziale Krise, die den Kontinent erfasst hat, den US-Imperialismus mit einer revolutionären Explosion in einem Teil der Erde, der von den Vereinigten Staaten lange als der eigene "Hinterhof" betrachtet wurde.

Siehe auch:
Bolivianische Truppen massakrieren Streikende
(17. Oktober 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2003 enthalten.)
Loading