Politische Dummheit oder Provokation?

Brandenburger "Antira" beschimpft World Socialist Web Site

Manchmal lässt sich nur schwer feststellen, wo die politische Dummheit aufhört und wo die politische Provokation beginnt. Der Übergang ist auf jeden Fall fließend.

Auf der antifaschistischen Informationsseite Inforiot wurde am 31. Oktober ein Artikel veröffentlicht, der eine krude Mischung aus beidem darstellt. Der Artikel trägt die Überschrift: "World Socialist Web Site jagt AntirassistInnen!" und ist mit "Brandenburger Antira" unterzeichnet. Er beschimpft die World Socialist Web Site auf übelste Weise, weil sie sich gegen die Bemühungen des Verfassungsschutzes zur Wehr setzt, die WSWS in eine linksextremistische, gewalttätige Ecke zu stellen.

Der Brandenburger Verfassungsschutz hatte der WSWS die geistige Urheberschaft für einen Anschlag auf die Ausländerbehörde in Frankfurt/Oder vom 16. September unterstellt und dies damit begründet, dass am Tatort ein zwei Jahre alter WSWS-Artikel aufgefunden worden sei, der sich kritisch mit der staatlichen Ausländerpolitik auseinandersetzt. Obwohl dieser Artikel auf nachweislichen Fakten beruht und in keiner Weise zu Gewalt aufruft, behauptete der Verfassungsschutz: "Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert." Gegen diese Verleumdung hat sich die WSWS zur Wehr gesetzt und sich dabei auch rechtliche Schritte vorbehalten. (siehe: Brandenburger Verfassungsschutz verleumdet World Socialist Web Site)

Der "Antira"-Artikel bezeichnet nun den Anschlag auf die Ausländerbehörde als "Aktion unbekannter AntirassistInnen" und erklärt, die WSWS solle "stolz" darauf sein, "dass sie und ihre theoretischen Werke für das praktische Handeln anderer verantwortlich gemacht werden", anstatt sich davon zu distanzieren.

Im weiteren beschuldigt der Artikel die WSWS, sie diffamiere "radikale und militante Linke" und habe "eine praktische Hilfeleistung für die Polizei" erbracht, indem sie eigene Recherchen über den Tathergang anstellte. Er endet mit einem Schwall unflätiger Beschimpfungen, deren Wiedergabe wir dem Leser hier ersparen wollen. Der Verfasser will damit zum Ausdruck bringen, dass er die WSWS weder für sozialistisch, noch für revolutionär oder antirassistisch hält, sondern als "eine relevante Gefahr für die linke Szene" betrachtet.

Linke Politik und Gewalt

Als erstes fällt auf, dass der "Antira"-Autor bei allem wortradikalen Geschimpfe gegen den "rassistischen Repressionsapparat" mit dem Verfassungsschutz in einer Frage übereinstimmt: dass nämlich linke Politik und die Anwendung von Gewalt ein und dasselbe seien.

Er hält es für selbstverständlich, dass das nächtliche Einschlagen von Fensterscheiben ein Akt des militanten Antirassismus sei, und bemüht sich gar nicht erst zu erklären, wie eine solche Tat dazu beitragen soll, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen. Dabei bleibt völlig unergründlich, wie das Demolieren von Behördenräumen Ausländern oder Flüchtlingen helfen, die ausländerfeindliche Politik der Regierung eindämmen oder die Bevölkerung dagegen mobilisieren soll.

Derartige Aktionen haben nichts mit linker oder sozialistischer Politik gemein. Sozialistische Politik ist demokratisch - und zwar im ursprünglichen Sinne des Wortes, das "Volksherrschaft" bedeutet. Sie ist bemüht, das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Sie strebt danach, die große Mehrheit der Bevölkerung in die Lage zu versetzen, politisch aktiv zu werden und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Aus der Tat in Frankfurt/Oder spricht dagegen nur Verachtung für die Meinung der breiten Bevölkerung, die solchen Vandalenakten kaum etwas abzugewinnen vermag. Es handelt sich bestenfalls um einen Racheakt politisch konfuser Jugendlicher, schlimmstenfalls um eine reine Provokation.

Wenn der "Antira"-Autor die Täter von Frankfurt/Oder als "RevolutionärInnen" bezeichnet, ist das schlichtweg absurd. Revolutionen sind große Volksbewegungen. Ihr Kennzeichen ist das selbständige Eingreifen der Massen ins politische Geschehen, das sonst das Privileg einer kleinen Elite bleibt. Die Identifikation revolutionärer Politik mit heimlichen Sabotageakten, Scharmützeln mit der Staatsmacht und individuellen Gewalttaten gehört dagegen ins geistige Arsenal von Polizei und Geheimdiensten, die hinter jeder oppositionellen Bewegung ein gewaltsames Komplott wittern.

Lediglich anarchistische Kreise haben individuelle Gewaltakte gelegentlich als Mittel revolutionärer Politik bezeichnet. Durch eine spektakuläre "Propaganda der Tat" wollten sie die Massen politisch aufrütteln. Bewirkt haben sie stets das Gegenteil. Ihre Terrorakte üben eine lähmende Wirkung auf die Massen aus, während sie den Herrschenden die nötigen Vorwände für verstärkte Repressionsmaßnahmen liefern.

Marxisten haben derartige Methoden stets abgelehnt. "Im Gegensatz zu den Anarchisten und im direkten Kampf gegen sie", schrieb Leo Trotzki schon 1911, "lehnt die Sozialdemokratie alle Methoden und Mittel ab, die zum Ziel haben, künstlich die Entwicklung der Gesellschaft voranzutreiben und chemische Präparate an die Stelle der ungenügenden revolutionären Stärke des Proletariats zu setzen."

Sozialismus und Demokratie

Die Verachtung für die Arbeiterklasse paart sich im "Antira"-Artikel mit der Geringschätzung demokratischer Rechte. Der "Antira"-Autor reagiert mit unverhohlener Feindschaft auf die Verteidigung demokratischer Rechte durch die Redaktion der WSWS. Dass sie das Recht auf Meinungsfreiheit ernst nimmt und sich gegen die Verleumdung durch den Verfassungsschutz zur Wehr setzt, wertet er als "Versagen bezüglich einer radikalen Staats- und Rechtskritik".

Eine mit "lil x-quadrat" gezeichnete Zuschrift an Inforiot, die ähnliche Standpunkte wie der "Antira"-Artikel vertritt, bestreitet sogar, dass es überhaupt demokratische Rechte gibt. "Und letztlich ist im Kapitalismus jedes revolutionäre Handeln strafbar, auch wenn das die Pargaraphen im Einzelfall nicht hergeben", heißt es darin.

In beiden Fällen verdecken radikale Phrasen über "revolutionäres Handeln" und "militantes Agieren" einen abgrundtiefen Pessimismus. Beide Autoren sind fest davon überzeugt, dass der Staat über eine unbeschränkte Machtvollkommenheit verfügt und über demokratische Rechte beliebig verfügen kann.

Demokratische Rechte sind aber kein staatliches Geschenk, das von der Obrigkeit nach Belieben zurückgenommen werden kann. Sie sind - in letzter Analyse - das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe der Arbeiterbewegung. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und anderer demokratischer Rechte im Wilhelminischen Kaiserreich waren die Folge der politischen Arbeit der Sozialdemokratie. Die in der Weimarer Verfassung verankerten demokratischen Rechte waren ein Zugeständnis an die Revolution von 1918. Und die im Grundgesetz garantierten Rechte entstanden als Reaktion auf den Zusammenbruch des Nazi-Regimes und die weitverbreiteten antikapitalistischen Stimmungen in der Arbeiterklasse.

Diese Rechte geraten zwar heute zunehmend unter Beschuss und werden von den etablierten Parteien, einschließlich der SPD und der Grünen, kaum noch verteidigt. Aber es ist undenkbar, dass sie beseitigt und durch diktatorische Formen der Herrschaft abgelöst werden, ohne dass dies auf massiven Widerstand in breiten Teilen der Bevölkerung stößt. Darauf stützt sich eine sozialistische Politik. Es ist unmöglich, für sozialistische Perspektiven einzutreten, ohne die bestehenden sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse zu verteidigen.

Staatliche Provokationen

Die Verachtung gegenüber der Arbeiterklasse, die Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Rechten und die Überzeugung von der Allmacht des Staates machen die autonome Szene, für die der "Antira"-Artikel spricht, zum idealen Tummelplatz für staatliche Provokationen.

Wer jemals beobachtet hat, wie der sogenannte Schwarze Block am Rande von Großdemonstrationen auftaucht, gezielt Scheiben zerschmettert, Autos demoliert und Brandsätze wirft, um dann wieder abzutauchen, während die Polizei auf friedliche Demonstrationsteilnehmer einprügelt, weiß wovon wir reden. Dabei wurde immer wieder beobachtet, wie vermummte Teilnehmer des Schwarzen Blocks engen Kontakt zur Polizei unterhielten.

Wohl am besten dokumentiert wurde dies anlässlich des G8-Gipfels in Genua im Juli 2001. Damals hatten mehrere Reporter gesehen und teilweise gefilmt, wie sich Schläger des Schwarzen Blocks mit der Polizei absprachen, dann unbehelligt randalierten und so den Vorwand für Angriffe auf friedliche Demonstranten lieferten. Staatsanwälte fanden später heraus, dass die Sicherheitskräfte in großem Stile Polizeiprovokateure und bekannte Rechtsextremisten eingesetzt hatten, die als Anarchisten getarnt Hunderte Schaufenster zertrümmerten und Autos in Brand steckten.

Die Grenze zwischen politischer Dummheit und Provokation lässt sich in solchen Fällen, wie schon gesagt, nur schwer feststellen. Aber selbst dort, wo es eine solche Grenze gibt, liegen autonomes Revoluzzertum und staatstragendes Handeln weit näher zusammen, als man sich das gemeinhin vorstellt. Das beweist die Biografie des bekanntesten Steinewerfers der Bundesrepublik, Joschka Fischer.

Zwischen Fischers revolutionären Kampfjahren - in denen er sich nicht mit dem Einwerfen von Fensterscheiben begnügte, sondern auch auf Polizisten zielte - und seiner Vereidigung zum hessischen Umweltminister lagen gerade zehn Jahre. Inzwischen vertritt er als ranghöchster Diplomat und Vizekanzler den Staat im In- und Ausland. Fischers Werdegang wird in der Regel als gelungene Wandlung vom Saulus zum Paulus interpretiert. Doch von seiner Mitgliedschaft in der Gruppe "Revolutionärer Kampf" zum Aufstieg in höchste Regierungsämter zieht sich auch ein durchgehender roter Faden - seine Feindschaft und Verachtung gegenüber der Arbeiterklasse

Der Anschlag in Frankfurt/Oder

Die Redaktion der WSWS hat als direkt Betroffene größtes Interesse an der Aufklärung der Hintergründe des Anschlags auf die Ausländerbehörde in Frankfurt/Oder. Das einzige bemerkenswerte Ergebnis dieses Anschlags war bisher der Angriff des Brandenburger Verfassungsschutzes auf die WSWS.

Während die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch nach zweieinhalb Monaten zu keinem Ergebnis geführt haben, ließ der Verfassungsschutz keine Zeit verstreichen, um die WSWS der geistigen Urheberschaft zu bezichtigen. Die Fragen, wer den zwei Jahre alten WSWS-Artikel am Tatort deponiert hat, ob Verfassungsschutz und Polizei mehr wissen, als sie zugeben, und ob staatliche Stellen ihre Hand dabei im Spiel hatten, mussten daher gestellt werden und stellen sich auch weiterhin.

Die Unterstellung des "Antira"-Artikels, die WSWS jage und denunziere AntirassistInnen, indem sie eigene Nachforschungen über die Hintergründe anstelle, ist grotesk. Mit derselben Begründung könnte man sämtlichen Journalisten, Bürgerrechtsorganisationen und Anwälten, die die Hintergründe der Ereignisse von Genua vom Juli 2001 untersucht haben, vorwerfen, sie "jagten" Globalisierungsgegner. Tatsächlich haben sie das Ausmaß der staatlichen Provokationen derart gründlich aufgedeckt, dass sich schließlich auch die Staatsanwaltschaft zum Handeln gezwungen sah.

Die Redaktion der WSWS weiß nicht, wer für den Anschlag in Frankfurt/Oder verantwortlich ist, und kann nicht ausschließen, dass es sich um das Werk politisch fehlgeleiteter Jugendlicher handelt, die sich einbilden, auf diese Weise gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zu kämpfen. Aber sollte dies der Fall sein, dann trägt nicht die WSWS, sondern der "Antira"-Autor die Verantwortung dafür, wenn sie in Schwierigkeiten mit Polizei und Justiz geraten. Sein Artikel ist in höchstem Grade verantwortungslos. Er verteidigt und rechtfertigt Aktionen, die politisch dumm und sinnlos sind und politisch naive Jugendliche in eine Falle locken, in der sie mit Leichtigkeit kriminalisiert werden können.

Siehe auch:
Brandenburger Verfassungsschutz verleumdet World Socialist Web Site
(18. Oktober 2003)
Was geschah wirklich in Frankfurt/Oder?
( 30. Oktober 2003)
Staatsanwälte decken massive Polizeiprovokationen beim G-8-Gipfel von Genua auf
( 3. Oktober 2002)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - Januar/Februar 2004 enthalten.)
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