100.000 demonstrieren in Berlin gegen Schröders Agenda 2010

Rund 100.000 Menschen demonstrierten am Samstag unter dem Motto "Gegen Sozialkahlschlag" in Berlin gegen die "Agenda 2010" der rot-grünen Bundesregierung.

Die Organisatoren der Demonstration - unter ihnen Sozialverbände, Arbeitslosengruppen, Rentnerorganisationen, Untergliederungen der Gewerkschaften, Attac sowie eine Anzahl linker Gruppierungen - waren von der Größe der Demonstration überrascht. In den Tagen davor hatten Vertreter der SPD und der Grünen die Demonstration scharf angegriffen und die Vorstände sämtlicher DGB-Gewerkschaften hatten eine Teilnahme abgelehnt. Deshalb hätten die Organisatoren eine Teilnehmerzahl von mehr als 10.000 bereits als Erfolg gewertet.

Schließlich kam es zur größten Kundgebung seit den massiven Antikriegsprotesten im Frühjahr. Zahlreiche ältere Bürger demonstrierten neben jungen Leute und ganzen Familien, um ihrem Zorn und ihrer Abscheu über die Pläne der Regierung zum Ausdruck zu bringen, Sozialleistungen und soziale Sicherungssysteme abzubauen, die teilweise bis in die Bismarck-Ära zurückgehen.

Der lange, bunte und kämpferische Demonstrationszug wand sich durch Berlin-Mitte und brachte den Verkehr für mehrere Stunden zum Stillstand. Auf Plakaten und Transparenten war unter anderem zu lesen: "Agenda 2010 - neoliberal und antisozial", "Die Jugend muss für ihre Zukunft, Ausbildung, Bildung und Arbeitsplätze kämpfen", und in einem Wortspiel mit den Anfangsbuchstaben der SPD "Sie Plündern Deutschland".

An der Spitze des Zuges waren auch Gewerkschaftsransparente zu sehen, insbesondere von Ver.di, aber Teilnehmer beklagten sich bitter darüber, dass die Gewerkschaftszentralen die Vorbereitung der Demonstration nicht unterstützt hatten. Einige erinnerten sich gut an die Versprechungen, die der Vorsitzende von Ver.di Frank Bsirske auf einer Kundgebung gegen die "Agenda 2010" am 17. Mai gemacht hatte. Damals hatte er weitere und größere Demonstrationen gegen die Pläne der Regierung angesagt.

Die IG Metall boykottierte die Demonstration vom Samstag weitgehend und tat so gut wie nichts, um ihre Mitglieder in den Betrieben zu mobilisieren. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer hatte sich in der Woche zuvor sogar mit dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber getroffen und ein gemeinsames Vorgehen bei der Gesundheitsreform vereinbart.

Vertreter der SPD und der Grünen griffen die Demonstration scharf an. Angelika Beer, Vorsitzende der Grünen, warf den Organisatoren "Politikunfähigkeit" vor. Sie könnten nicht zwischen den Kürzungen der Regierung und den weitergehenden Plänen der Opposition unterscheiden. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckhardt, beschimpfte die Demonstrationsteilnehmer als "Besitzstandswahrer".

Die PDS hatte zwar mit zur Demonstration aufgerufen, hielt sich dann aber ziemlich zurück. Sie trägt direkte Verantwortung für drakonische Kürzungen in der Hauptstadt.

Die World Socialist Web Site war am Ausgangs- und Endpunkt der Demonstration mit Informationstischen präsent. Außerdem verbreitete sie ein Flugblatt mit dem Titel "Eine politische Antwort auf Sozialabbau und Krieg". Reporter der WSWS sprachen mit zahlreichen Demonstrationsteilnehmern.

Eine Gruppe von Feuerwehrleuten in Uniform war mit einem Bus der Gewerkschaft Ver.di aus Köln gekommen. "Wir sind gekommen, um, auf Deutsch gesagt, der Regierung in den Hintern zu treten. Es sind genügend Argumente ausgetauscht worden, jetzt muss man auf die Straße gehen", erklärte einer von ihnen. "Ich bin selbst SPD-Mitglied, aber eine solche Politik hätte ich nie für möglich gehalten. Die Wahlen in Brandenburg und Bayern haben gezeigt, dass Schröders Politik die SPD in die Katastrophe führt. Wenn ich heute wählen müsste, hätte ich große Schwierigkeiten. Ich könnte meine eigene Partei nicht wählen."

Er wolle dennoch die SPD noch nicht verlassen, sagte er weiter. "Vielleicht spaltet sich ja die Partei und es entsteht eine sozialere Tendenz, aber das ist natürlich ungewiss." Auf die Rolle von Oskar Lafontaine angesprochen winkte er allerdings ab: "Lafontaine hat seine politische Zukunft verspielt. Persönlich halte ich ihn für einen fähigen Mann. Aber sein Verhalten nach der Bundestagswahl 1998, sein Rücktritt vom Posten des Finanzministers, das kann ich ihm nicht verzeihen."

Ishild D. aus Berlin, 65 Jahre alt, war allein zur Demonstration gekommen. "Heute ist mein erster Tag als Rentnerin. Ich bekomme nur 365 Euro pro Monat, weil ich wie viele Frauen geheiratet, meine Kinder hochgezogen und dadurch in meinem Beruf als Zierpflanzengärtnerin nur zwölf Jahre gearbeitet habe. Die Angriffe auf die Rentner durch die Schröder-Regierung sind verhängnisvoll. Selbst wenn einer 900 Euro Rente hat, wie soll er denn Miete, Lebensunterhalt und Krankenkosten davon bezahlen können? Aber die Politiker erhöhen sich ihre Diäten und erhalten schon nach wenigen Abgeordnetenjahren eine hohe Rente, für die sie nichts eingezahlt haben."

Ishild D. zeigte sich vor allem empört über das Verhalten der Grünen. "Wenn ich an Künast und Trittin denke, die sich die Flugbereitschaft bewilligen lassen und kostenlos fliegen, während den Arbeitslosen und Armen alles weggekürzt wird, dann bin ich wirklich wütend. Warum halten sich SPD und Grüne nicht an die Wirtschaft und an die Reichen, wenn sie Geld brauchen? Sie haben das, was sie vor der Wahl gesagt haben, total umgedreht. Das Projekt der Grünen, die mal als Alternative zur SPD angetreten sind, ist völlig schief gelaufen."

Auch über die nachträgliche Unterstützung Schröders für die Bush-Regierung in der Frage des Irak-Kriegs ist Ishild D. enttäuscht. "Das war ein ungerechtfertigter Krieg. Von Rechts wegen müssten die USA und ihre Verbündeten Reparationen an den Irak bezahlen, wie das die Deutschen nach dem Weltkrieg mussten."

Rolf C. aus Berlin, 53 Jahre alt, hatte in der Verwaltung sozialer Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gearbeitet und ist aufgrund der Kürzungen in diesem Bereich seit einem Jahr arbeitslos. "Das Wort Reform ist völlig fehl am Platz", sagte er zur Agenda 2010, "denn eigentlich sollte eine Reform eine Verbesserung bedeuten. Schröders Politik geht davon aus, der Lobby der Pharmaindustrie und der anderen Industrieverbänden ständig nachzugeben und bei denen zu kürzen, die keine Lobby haben."

Unter den Demonstrationsteilnehmern befanden sich auch aktive Gewerkschaftsmitglieder von Ver.di oder IG Metall, die in den Betrieben zur Demonstration aufgerufen hatten und sich damit konfrontiert sahen, dass die Gewerkschaftsspitze ihre Unterstützung verweigerte. Mehrere Arbeiter berichteten, wie sie in den Gewerkschaftsbüros vergeblich nach Bussen angefragt hatten. Manch einer fuhr schließlich zusammen mit ein paar Kollegen auf eigene Faust nach Berlin.

Ein Arbeiter von Philips in Norderstedt bei Hamburg, der mit seinen Söhnen gekommen war, erzählte, er habe dem Bezirksvorsitzenden der IG Metall Teichmüller eine E-Mail geschickt, um den Treffpunkt für die Demonstration zu erfahren, sei aber auf taube Ohren gestoßen. Dank der Mitglieder und Vertrauensleute seien schließlich noch ein paar wenige Busse zusammengekommen. Wütend kommentierte er die Regierungspolitik: "Jeden Tag gibt es neue, noch weitergehende Angriffe, und jedes Mal schaue ich hinter mich, ob nicht wieder Schröder irgendwo auf einem Balkon steht und droht herunterzuspringen, wenn seine Kürzungsmaßnahmen nicht akzeptiert werden. Am liebsten würde ich rufen, lasst ihn doch springen!"

Dieter Lasshofer (59 Jahre) war zuletzt Betriebsratsvorsitzender in einem Metallbetrieb in Solingen und ist im vergangenen Jahr aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gegangen. "Als ich in der Gewerkschaftszentrale von Solingen und Remscheid nach Busfahrten der IG Metall oder von Ver.di fragte, an der ich mich beteiligen könnte, stieß ich auf pure Ablehnung. Schließlich habe ich mich einer von Attac organisierten Busfahrt von Wuppertal aus angeschlossen. Ich halte das Verhalten unserer Gewerkschaftsspitze für verantwortungslos gegenüber den Mitgliedern. Wir zahlen schließlich Sommers (der DGB-Vorsitzende, die Red.) Gehalt, aber was machen sie für uns?"

Ein arbeitsloser Förster und Attac-Anhänger, der mit demselben Bus gekommen war, hielt ein Schild mit der Aufschrift in der Hand: "Die Neue Welt der Arbeit mit Clement‘schen Zwangsarbeitsplätzen". Das Ziel der Agenda, so sagte er, sei nicht, Arbeitsplätze zu schaffen, wie Arbeitsminister Clement (SPD) behaupte. "Es geht in Wirklichkeit darum, die Massen von Arbeitslosen unter sozialer Kontrolle zu halten, indem man sie zu Zwangsarbeit verpflichtet. Es sind Verhältnisse wie im 19. Jahrhundert, zu denen die SPD-Regierung zurückkehrt. Dabei wird die Agenda 2010 nur der Testfall für noch schärfere Angriffe sein."

Die Sozialkassen seien nicht wirklich leer, sagte er weiter. 500 Milliarden Euro hätten die Reichen ins Ausland in Steueroasen geschafft, die nun bei den Steuereinnahmen des Staats fehlten. Außerdem würden die Mittel für soziale Aufgaben in die Rüstung und militärischen Interventionen fließen. Nach seiner Perspektive für die Zukunft befragt, zeigte er jedoch Hoffnungen in die Gewerkschaften. "Sie sollen die SPD fallen lassen und einen Generalstreik für ein paar Tage organisieren."

Andreas Kossack, IG Metall-Vertrauensmann und Maschineneinrichter bei Siemens VDO in Dortmund, berichtete, auch in seinem Betrieb sei nur von unten, gegen den Widerstand der Gewerkschaftsführung, für die Demonstration mobilisiert worden. "Ich finde es toll, dass so viele hierher gekommen sind, obwohl die Gewerkschaftsspitze dagegen war und auch die Medien die Aktion totgeschwiegen haben. Das ist eine neue Situation."

In seinem Betrieb würden laufend Arbeitsplätze vernichtet und die Arbeiter mit Abfindungen hinausgedrängt. Gleichzeitig stelle sich der Siemens-Vorstandschef Pierer hinter Schröders Politik. Die Kollegen seien empört über die Agenda 2010, und manche seien erstmals mit zu einer Demonstration gefahren. Eine davon stand neben ihm, eine Arbeiterin, die seit 17 Jahren als Montagehelferin bei VDO und zuvor als Verkäuferin gearbeitet hat.

Eine Gruppe von Jugendlichen trug ein großes Transparent, auf dem ein großer Fisch mit Dollar- und Eurozeichen kleine Fische schluckt und die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben symbolisieren soll. "Es wird nur bei den kleinen Leuten gespart, und die Millionäre werden mehr! Wir wollen in Herford und Umgebung dagegen mobil machen", sagte eine junge Frau dazu. "Vor allem möchten wir verhindern, dass alles in eine rechte Richtung läuft und die Leute die Arbeitslosigkeit und schlechte soziale Lage den Ausländern in die Schuhe schieben."

Siehe auch:
"Eine politische Antwort auf Sozialabbau und Krieg" - Das Flugblatt der WSWS zur Demonstration
(31. Oktober 2003)
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