Hutton-Untersuchungsausschuss

Ein schwarzer Tag für die Demokratie in Großbritannien

Am 28. Januar legte Lord Hutton seinen Untersuchungsbericht über den Tod von Dr. David Kelly vor. Kelly, der im Auftrag der UN an den Waffeninspektionen im Irak beteiligt gewesen war, wurde Mitte Juli vergangenen Jahres tot aufgefunden. Zuvor war er unter starken politischen Druck geraten, nachdem er gegenüber einem Reporter der BBC erklärt hatte, die Regierung Blair habe ein Geheimdienstdossier vom September 2002 künstlich aufgebauscht - insbesondere durch die Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, die innerhalb von 45 Minuten eingesetzt werden könnten. Im August war Lord Hutton, der oberste Lordrichter des britischen Oberhauses, mit der Untersuchung der Affäre beauftragt worden.

Lord Huttons Untersuchung zum Tod von Dr. David Kelly steht symptomatisch für den fortgeschrittenen Niedergang der Demokratie in Großbritannien. Sie ist ein Meilenstein in der Offensive gegen demokratische Rechte, die in den letzten zwei Jahrzehnten von verschiedenen Regierungen geführt wurde und sich unter der Labour-Regierung von Premierminister Tony Blair dramatisch verschärft hat.

Die Frage, um die es bei der Untersuchung eigentlich ging, lautete: Hat die britische Bevölkerung das Recht, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, wenn es um Leben und Tod geht?

Die Antwort, die Hutton mit seinem Bericht darauf gibt, ist ein deutliches "Nein". Er entschied geradewegs zu Gunsten einer quasi diktatorischen Form der Herrschaft, in der die Mächtigen ihre Handlungen nicht vor der Bevölkerung rechtfertigen müssen. Darüber hinaus hat er eine Hexenjagd gegen alle Medien eröffnet, die sich noch ein wenig Unabhängigkeit von Staat und Regierung bewahrt haben und die Behauptungen der Politiker einer kritischen Prüfung unterziehen. Sein Untersuchungsergebnis macht den Weg frei für einen beispiellosen Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit.

Um die Bedeutung des Berichts zu verstehen, muss man die Umstände betrachten, unter denen Hutton mit der Untersuchung betraut wurde.

Schon Monate vor dem Angriff auf den Irak beschloss Blair, dass seine Regierung den Kriegskurs der Bush-Regierung unterstützen würde. Er startete eine Propagandaoffensive, mit der die Bevölkerung eingeschüchtert und hinter den Kriegskurs gebracht werden sollte, und stellte schaurige Behauptungen über irakische Massenvernichtungswaffen und die unmittelbare Bedrohung für die britische Bevölkerung auf, die sich seitdem als gänzlich falsch erwiesen haben.

Blair blieb bei seiner Kriegspolitik, obwohl die Mehrheit der Menschen in Großbritannien unbestreitbar dagegen war und sich große Massen der Bevölkerung in Europa, den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt deutlich in Opposition zum Krieg befanden. Etwa zwei Millionen Menschen protestierten am 15. Februar 2003 in London gegen den bevorstehenden Krieg. Es war die größte Demonstration in der britischen Geschichte. Diese und andere Äußerungen der Opposition und des Unmuts bewiesen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung ein eigenes Urteil über Blairs Behauptungen zu Massenvernichtungswaffen gefällt hatte und ihnen keinen glauben schenkte.

Blairs Kriegskurs rief erhebliche Differenzen innerhalb des Staatsapparats hervor. Unter anderem wandten sich Teile des Geheimdienstes dagegen, ihr Material manipulieren und missbrauchen zu lassen, um eine bereits beschlossene Politik der Militärintervention zu rechtfertigen. Die Blair-Regierung versuchte schließlich diese Opposition zum Schweigen zu bringen, indem sie einen der Hauptkritiker aus dem geheimdienstlichen Establishment - Dr. Kelly - herauspickte, seine Identität lüftete und ein Exempel an ihm statuierte.

Die Dossiers vom September 2002 und Februar 2003, mit denen der Krieg begründet wurde, trafen ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung auf harsche und ernst zu nehmende Kritik. Das Dossier von September enthielt die mittlerweile berüchtigte Behauptung, dass der Irak innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einsatzbereit machen könnte, und den Vorwurf, dass der Irak Nuklearmaterial zum Atomwaffenbau aus Afrika kaufen wollte. Die Behauptung, dass Niger Uran an Saddam Hussein geliefert hatte, wurde von der Internationalen Atomenergiebehörde bereits wenige Wochen, nachdem sie ins Zentrum der britischen und amerikanischen Propaganda gerückt worden war, als Schwindel entlarvt. Innerhalb von nur wenigen Stunden kam heraus, dass das Dossier vom Februar größtenteils aus der Semesterarbeit eines amerikanischen Studenten abgeschrieben worden war, die sich wiederum auf mehr als zehn Jahre altes Geheimdienstmaterial gestützt hatte.

Blair hoffte, dass ein Sieg im Irak ihm erlauben würde, diese unbequemen Tatsachen unter den Teppich zu fegen und seine politische Krise zu überwinden. Statt dessen folgte dem offiziellen Ende der Kriegshandlungen ein wachsender Widerstand im Irak gegen die britisch-amerikanischen Besatzungstruppen, der Angst vor einem neuen Vietnam wachrief.

Unter diesen Umständen versuchten Teile des Sicherheitsapparats, sich selbst zu entlasten und die Schuld für das Debakel im Irak unmissverständlich Blair zuzuschieben. Daher entschloss sich Kelly, ein hochrangiger britischer Waffeninspektor, der an der Erstellung des Dossiers von September 2002 direkt beteiligt gewesen war, dem BBC-Reporter Andrew Gilligan ein Exklusivinterview zu geben.

Als Gilligan Ende März 2003 berichtete, dass seine anonyme Quelle (Kelly) über beachtliche Unzufriedenheit im Sicherheitsapparat hinsichtlich der Echtheit und Glaubwürdigkeit des September-Dossiers gesprochen habe und Blairs Kommunikationsdirektor Alastair Campbell vorwarf, dieser habe das Dossier "aufgepeppt", beschloss die Regierung, durch eine Kampagne die BBC zum Schweigen und zur Zurücknahme des Berichts zu bringen.

Die Regierung gab bekannt, dass Kelly die Quelle für Gilligans Bericht gewesen war, und zwang den Waffenexperten, vor zwei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auszusagen. Am 18. Juli wurde Kelly tot in einem Waldstück in der Nähe seines Hauses aufgefunden.

Dieses Ereignis ließ Forderungen nach einer Untersuchung laut werden, die sich nicht nur mit den Umständen von Kellys Tod beschäftigen sollte, sondern auch mit der Art und Weise, wie Krieg vorbereitet worden war, und mit der Frage, ob die Regierung mit gefälschten geheimdienstlichen Behauptungen gearbeitet hatte.

Blair konnte sich einer solchen Untersuchung nicht widersetzen und verfügte, dass sich ein offizieller Ausschuss ausschließlich auf Kellys Tod und den Streit seiner Regierung mit der BBC zu konzentrieren habe. Zu diesem Zweck setzte Blair Lord Hutton als leitenden Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses ein, dessen Ziel eher in der Vertuschung als in der Aufdeckung der Wahrheit bestand.

Hutton war früher Oberster Lordrichter von Nordirland und hatte sich bereits einen eindeutigen Ruf erworben: Im Rahmen einer Untersuchung des Massakers an unbewaffneten Demonstranten, dem so genannten "Bloody Sunday" in Irland 1972, verteidigte er die daran beteiligten britischen Soldaten. Außerdem fungierte er als Ankläger in den "Diplock courts" genannten Gerichtsverfahren gegen angebliche Terroristen, bei denen die Angeklagten ihre Unschuld beweisen mussten und ohne Geschworene angehört wurden. Er galt also als verlässlich und erhielt ein eng begrenztes Untersuchungsfeld zugewiesen, das nur die Aufklärung der unmittelbaren Umstände erlaubte, die zu Kellys Tod führten. Obwohl er mündliche und schriftliche Beweise und Zeugenaussagen von führenden Vertretern des Staats- und Regierungsapparats - bis hin zu Blair selbst - aufnahm, die in bedeutendem Ausmaß an der Vorbereitung des Geheimdienstdossiers vom September 2002 beteiligt gewesen waren, hielt sich Huttons abschließender Urteilsspruch streng an die zu Beginn festgelegten Vorschriften.

Viele Kommentatoren, die die Untersuchung verfolgt hatten, brachten angesichts von Huttons Urteil Erstaunen und Fassungslosigkeit zum Ausdruck. Im Hinblick auf die Tatsachen - der Masse an Beweisen dafür, dass die Regierung das Geheimdienstmaterial bestenfalls für zweifelhaft halten musste und dass sie in der Tat versucht hatte, das Dossier "aufzupeppen", genau wie Kelly behauptet hatte - ergeben Huttons Ergebnisse keinen Sinn. Aber in politischer Hinsicht hat Hutton die Arbeit erledigt, die ihm aufgetragen worden war.

Um zu diesem absurden Schluss zu kommen - Blair und sein Kabinett von allem Fehlverhalten freizusprechen und statt dessen die BBC und Kelly anzugreifen - erklärte Hutton, die objektive Tatsache, dass keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden wurden und sich die Behauptungen der Regierung als falsch herausgestellt haben, sei nicht relevant! Es gehe lediglich um die Frage, ob Blair wissentlich falsche geheimdienstliche Behauptungen benutzt habe, und da die Gedankengänge des Premierminister zu jener Zeit nicht nachprüfbar seien, müsse ihm im Zweifel Glauben geschenkt und sein politischer Ruf gerettet werden.

Huttons agnostische Haltung gegenüber Blairs geheimdienstlichen Behauptungen hielt ihn nicht davon ab, ohne jede nachvollziehbare Grundlage zu erklären, die Regierung und der Sicherheitsapparat hätten im guten Glauben gehandelt, als sie den Irak als wirkliche und unmittelbare Gefahr darstellten. Sie hielt ihn auch nicht davon ab, jedes Infragestellen der "Integrität" der Regierung für unzulässig zu erklären.

Der Regierung ist nach Huttons Urteil selbst in Bezug auf Kellys Tod kein Vorwurf zu machen, und ihre Vertreter haben sich tadellos verhalten. Hutton ignorierte alle Beweise, nach denen die Regierung den Wissenschaftler im Zuge ihrer Kampagne gegen Kritiker bloßstellte, selbst den Tagebucheintrag Campbells, in dem es heißt, dass die Nennung von Kellys Namen "Gilligan in die Scheiße reiten" würde.

Die ganze Schuld wurde Gilligan und der BBC angelastet.

Gilligan wurde für schuldig befunden, eine Kardinalsünde begangen zu haben, als er die Integrität der Regierung und der Sicherheitskreise anzweifelte und anmerkte, dass die Regierung "wahrscheinlich" wusste, dass ihre Behauptung falsch war, der Irak könne innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen zum Einsatz bringen. Dem BBC-Vorstand wurde angelastet, "mangelhafte" redaktionelle Strukturen zu haben, weil Gilligans Beitrag in dieser Form gesendet wurde. Außerdem wurde die BBC dafür gescholten, ihren Reporter gegen Campbells Hexenjagd in Schutz genommen zu haben.

Hutton kam außerdem zu dem Schluss, dass Kelly für sein Schicksal "teilweise selbst verantwortlich" sei, und unterstrich damit die Rücksichtslosigkeit des britischen Staates sogar gegenüber seinem eigenen Personal.

Die Wirklichkeit wurde somit auf den Kopf gestellt.

Gilligan und die BBC werden streng gerüffelt für eine Äußerung, die in einem einminütigen Beitrag in einer Radiosendung am frühen Morgen fiel und nie wiederholt wurde. Dagegen müssen sich die Regierung und ihre Geheimdienstchefs nicht für ihre unwahren Behauptungen verantworten, die das Land in einen Krieg geführt haben, in dem Tausende Unschuldiger wie auch fast 60 britische Soldaten starben und ein Land in Trümmer gelegt wurde.

Der Urteilsspruch gegen die BBC hat weit gehende Konsequenzen für die Zukunft des Unternehmens und die Pressefreiheit in Großbritannien allgemein. Die gesamte Zukunft der BBC als öffentliche Sendeanstalt könnte in Frage gestellt werden, wenn im Jahre 2006 ihre Konzession erneuert werden muss. Den kommerziellen Sendern könnte ein größerer Marktanteil gegeben werden. Einer derjenigen, die am meisten von einer solchen Entwicklung profitieren würde, wäre Medienmogul Rupert Murdoch, der zu den eifrigsten Unterstützern der Blair-Regierung gehört.

Huttons Abschlussbericht bedeutet einen schwarzen Tag für die Demokratie in Großbritannien. Indem er das Recht außer Kraft setzt, eine Meldung von allgemeinem Interesse zu veröffentlichen, zeigt Hutton die gleiche Verachtung gegenüber dem Willen der Bevölkerung, die die gesamte politische Elite kennzeichnet. Seine Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Wege, auf denen die arbeitende Bevölkerung früher einmal zumindest eine begrenzte Form der Kontrolle über die Regierung und den Staat ausüben konnten, heute versperrt sind.

Huttons Schlussfolgerungen müssen im Zusammenhang mit der Offensive gegen bürgerliche Freiheitsrechte verstanden werden, die mit dem sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus" der Regierung einher ging - von der unbegrenzten Inhaftnahme von Menschen, ohne dass Anklage erhoben wird, bis zu Gesetzesplänen, nach denen die Regierung im Falle der Ausrufung eines Notstandes die parlamentarische Kontrolle außer Kraft setzen kann.

Nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs, als Großbritannien tatsächlich mit der Gefahr einer Invasion konfrontiert war, wurden so viele grundlegende demokratische Rechte über Bord geworfen.

Diese Entwicklung kann nicht allein dem persönlichen Versagen Blairs oder seines Kabinetts zugeschrieben werden. Die Regierung ist von Seiten der Justiz, der Oppositionsparteien, der Medien und anderen Teilen des Establishment auf praktisch keine Opposition gestoßen, als sie zum Krieg trieb und demokratische Rechte einschränkte. Und sie konnte auf einem Erbe aufbauen, das ihr die konservativen Vorgängerregierungen hinterlassen hatte.

Die Errichtung eines rechtlichen Rahmens für eine de facto Diktatur muss Ausdruck tiefer liegender gesellschaftlicher und wirtschaftliche Prozesse sein. Es handelt sich dabei um ein internationales Phänomen, das seinen höchsten Ausdruck in den Vereinigten Staaten findet.

Die politische und wirtschaftliche Macht hat sich in den Händen einer superreichen Finanzoligarchie konzentriert. Diese herrscht über eine Gesellschaft, die gespalten ist durch ein historisch einmaliges Ausmaß an sozialer Ungleichheit. In Großbritannien verfügen die reichsten 1.000 Einzelpersonen über einen persönlichen Reichtum von insgesamt 155 Milliarden Pfund, der größtenteils durch die Regierungspolitik der Steuersenkungen und der Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben angehäuft wurde. Das Ziel dieser Politik besteht darin, das Land in einen Billiglohnstandort für globale Investoren zu verwandeln.

Die Klassengegensätze sind so scharf und der Widerspruch zwischen den Interessen der Herrschenden und der Beherrschten so groß, dass der demokratische Prozess verkümmert und erstarrt. Die große Masse der Bevölkerung muss vom politischen Prozess ausgeschlossen werden, damit niemand die Aktivitäten der Elite kontrollieren kann, deren Interessen in direktem Gegensatz zu denen der Arbeiterklasse stehen.

Diese gemeinsame konzernfreundliche Politik sorgt dafür, dass keine der alten Parteien mehr Massenunterstützung genießt. Dies gilt besonders für die Labour Party, deren traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterklasse die Zielscheibe der rechten Politik ist. Ungeachtet taktischer Differenzen herrscht unter allen Fraktionen der herrschenden Klasse vollkommene Übereinstimmung über das von Blair vertretene Programm, das aus imperialistischer Aggression und der Zerstörung des Lebensstandards der Arbeitern besteht.

Nur so kann man sich erklären, warum Hutton und Blair glauben, die Regierungshandlungen auf derart plumpe Weise reinwaschen zu können.

Es gilt die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Die Bevölkerung kann sich auf keine Fraktion des Establishments oder protestierender Vertreter des Staatsapparats verlassen, wenn es um den Kampf gegen Krieg oder um die Verteidigung grundlegender sozialer Interessen und demokratischer Rechte geht. Durch den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei, die sich auf ein sozialistisches Programm gründet, muss die Feindseligkeit gegenüber der Regierung einen unabhängigen politischen Ausdruck finden. In diesem Rahmen muss die Forderung nach einem sofortigen Abzug aller Besatzungstruppen aus dem Irak erhoben und ein Prozess verlangt werden, der Blair und Bush wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung zieht.

Siehe auch:
Hutton-Ausschuss: Den Medien geht der Persilschein zu weit
(3. Februar 2004)
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