Europaweite Proteste gegen Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit

Europaweite Proteste gegen Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit

Eine halbe Million Menschen gingen am vergangenen Samstag auf die Straße, um gegen die Kürzungen der Regierung bei den sozialstaatlichen Leistungen und Renten zu demonstrieren. Es waren die größten Proteste in Deutschland seit der Massenmobilisierung von 350.000 Arbeitern in Bonn gegen die Sozialpolitik der konservativen Regierung unter Helmut Kohl im Jahre 1996. Zwei Jahre später wurde die Kohl-Regierung von der jetzigen Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen abgelöst. Die rot-grüne Regierung kam an die Macht, nachdem sie versprochen hatte, den Angriffen auf das Sozialsystem, die unter Kohl begonnen hatten, ein Ende zu setzen.

Die Proteste am Samstag waren Teil eines Europäischen Aktionstags, der von den Gewerkschaften und sozialen Organisationen ins Leben gerufen worden war, um gegen die Angriffe auf soziale Errungenschaften zu protestieren, die von sozialdemokratischen und konservativen Regierungen gleichermaßen in ganz Europa durchgeführt werden. In insgesamt 16 Ländern West- und Osteuropas fanden Demonstrationen, Kundgebungen und Meetings statt. Neben Deutschland war Italien Schauplatz der größten Proteste, wo etwa eine halbe Million Menschen, darunter viele Rentner, durch die Straßen Roms zogen, um gegen die jüngsten Maßnahmen der Berluconi-Regierung im Rahmen ihrer so genannten "Rentenreform" und andere Kürzungen im Sozialbereich zu demonstrieren.

In Deutschland fand die größte Demonstration in Berlin statt, wo etwa 250.000 ihre Wut und Unzufriedenheit mit der rot-grünen Regierung zum Ausdruck brachten. In Stuttgart demonstrierten rund 150.000 und in Köln weitere 100.000 Menschen.

Die Demonstration in Berlin begann mit einem Sternmarsch von drei verschiedenen Ausgangspunkten, die im Zentrum der Stadt, am Brandenburger Tor aufeinander trafen. Die Gewerkschaften und zahlreiche soziale Organisationen, die zu dem Protest aufgerufen hatten, rechneten selbst mit einer Beteiligung von bis zu 100.000 Menschen. Tatsächlich brachte die Viertelmillion Menschen den Verkehr in der Berliner Innenstadt zum Erliegen. Die Demonstration setzte sich aus Menschen jeden Alters und verschiedener Herkunft und Lebenserfahrung zusammen. Gleichzeit war deutlich zu erkennen, dass ein großer Teil der Demonstration aus einfachen Gewerkschaftsmitgliedern bestand - der traditionellen Wählerschaft der Sozialdemokraten.

Die Wut und Militanz der Demonstrationsteilnehmer war nicht zu übersehen. Auf zahlreichen Transparenten, großen wie kleinen, wurde die Rücknahme der "Agenda 2010" gefordert. Andere Transparente forderten den Rücktritt des Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seiner Regierung und riefen zum Aufbau einer neuen politischen Alternative auf. Auch die Grüne Partei wurde auf Plakaten für ihre aktive Unterstützung der drastischen Angriffe auf das Sozialsystem und die sozialen Rechte gegeißelt. In einigen Parolen wurden die sozialen Angriffe mit Militarismus und Kriegsstreben in Verbindung gebracht. Am Rande des Demonstrationszuges wurden Unterschriften für den sofortigen Abzug des Militärs aus dem Irak gesammelt.

Die jüngste Demonstration war der dritte große Protest in der deutschen Hauptstadt innerhalb eines Zeitraum von wenig mehr als einem Jahr. Im Februar letzten Jahres versammelten sich eine halbe Million Menschen in Berlin, um gegen den Krieg im Irak zu protestieren. Im November kamen etwa 100.000 Menschen in der Hauptstadt zusammen, um gegen die drastischen Angriffe auf den deutschen Wohlfahrtsstaat und die Sozialsysteme zu demonstrieren - gegen die so genannte Agenda 2010 der Schröder-Regierung.

Die Demonstration im November 2003 war unabhängig von den Gewerkschaften organisiert worden, und die Größe der Proteste war ein Schock für die Gewerkschaftsbürokraten. Die Demonstrationen von Samstag stellten einen bewussten Versuch der Gewerkschaften dar, die Wut in der Bevölkerung gegen die Regierung und ihre Politik einzudämmen, doch wieder einmal wurde die Gewerkschaftsführung von der Beteiligung überrascht. Mit einer Viertelmillion Teilnehmer war die Demonstration am Samstag in Berlin weitaus größer als von den Gewerkschaften erwartet worden war.

Michael Sommer "warnt" die Regierung

Hauptredner auf der Berliner Kundgebung war der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Michael Sommer. In seiner Rede "warnte" Sommer, dass die Regierung rücksichtslos handele, wenn sie über die öffentliche Opposition hinwegginge und ihre Angriffe auf den deutschen Sozialstaat weiter fortsetzte. Sommer versuchte, einige Anliegen der Demonstrationsteilnehmer aufzugreifen, während er gleichzeitig jede konkrete Forderung nach einer Rücknahme der Agenda 2010 vermied.

Sommer sprach sich für ein Ende der Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen von den Armen zu den Reichen aus und forderte, Schluss zu machen "einer Politik, die der Masse der Bevölkerung schadet und die die Reichen immer reicher und die das Kapital und seine Manager immer dreister werden lässt." Sommer verurteilte auch die Einführung von "amerikanischen Verhältnissen" in Deutschland.

Gleichzeitig waren Sommers Kommentare zur Regierungspolitik verhalten und vage. Er erwähnte den deutschen Kanzler nur ein einziges Mal: "Der Kanzler und die Unionsparteien, Wirtschaftsführer und Manager, also die Ewig-Gestrigen aus dem Unternehmerlager müssen wissen: Wenn diese asoziale Politik nicht aufhört, dann kommen wir wieder!" Er griff bestimmte Aspekte der Agenda 2010 an, so z.B. die Forderung, dass Arbeitslose jede Art von Arbeit annehmen müssen. Doch während Sommer in allgemeinen Worten erklärte, dass die Gewerkschaften in der Frage der Agenda 2010 der Regierung ihre Solidarität verweigern würden, bot er gleichzeitig keine Perspektive an, wie man sich den in der Agenda 2010 formulierten Maßnahmen effektiv widersetzen und sie bekämpfen kann.

Sommer sprach sich zwar für ein "soziales Europa" aus, ging aber auf keine konkrete Entwicklung in Europa ein und verlor kein Wort über die jüngsten Wahlen in Frankreich und Spanien, bei denen große Teile der Bevölkerung, insbesondere junge Wähler, einer Orientierung nach links Ausdruck gegeben hatten. Die konservativen Regierungen in beiden Ländern bekamen die Ablehnung der Bevölkerung zu spüren, die sich gegen die spanische Unterstützung des Irakkriegs und gegen die antisoziale Politik in beiden Ländern richtete.

Sommers Warnung an die Regierung wurde auch von einem Gastredner auf der Berliner Kundgebung, dem Generalsekretär des französischen Gewerkschaftverbandes CGT Bernard Thibault aufgegriffen. Thibault bestärkte, dass unübersehbare Anzeichen von Unmut in der Bevölkerung den Regierenden als "Warnung" dienen müssen.

Unterstützer der WSWS nahmen an allen drei Demonstrationen in Deutschland teil und verteilten unter anderem Hunderte Exemplare des Wahlprogramms der Partei für Soziale Gleichheit zu den Europaparlamentswahlen.

Die WSWS führte auch zahlreiche Diskussionen und Interviews mit Demonstrationsteilnehmern.

Berlin

Heidi L. ist eine Bahnarbeiterin, die aus Sachsen-Anhalt zu der Demonstration in Berlin angereist war. Sie sagte den WSWS-Reportern: "Auf meiner Arbeit ist die Atmosphäre sehr angespannt und es gibt viele Diskussionen unter den Kollegen über die Auswirkungen der EU-Osterweiterung. Uns ist direkt angedroht worden, dass unsere Arbeitsplätze in osteuropäische Länder wie Polen oder Tschechien verlegt werden. Ältere Arbeiter so wie ich haben keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt, wenn wir arbeitslos werden. Es sieht so aus, als würden wir im Moment von allen Seiten geschlagen."

"Uns wird gesagt, dass unsere Arbeitsplätze gefährdet sind, und die Gewerkschaften sagen, dass sie nichts dagegen machen können. Gleichzeitig wird das Arbeitslosengeld gekürzt und jemand wie ich ist mit zehnjähriger Armut konfrontiert, bevor ich in Rente gehen kann. Dann haben wir noch die Aussicht, dass unsere Renten zusammengestrichen werden. Arbeiter wie ich haben über jahrzehnte hinweg ihre Beiträge bezahlt und nach einem Leben voller Arbeit haben wir nicht erwartet, dass wir in unseren alten Tagen jeden Pfennig umdrehen müssen. Ich bin noch in der Gewerkschaft, aber ich kenne einige Kollegen und Freunde, die herausgegangen sind und sagen, dass es die Mitgliedgebühr nicht wert ist. Wir sind nicht hierher gekommen, um leere Versprechungen zu hören. Wir wollen klare Alternativvorschläge und nicht nur heiße Luft von unseren Spitzen."

Köln

Mehr als 100.000 Demonstranten zogen vom Stadtteil Deutz über den Rhein in die Kölner Innenstadt. Viele Teilnehmer nutzen die von den Gewerkschaften verteilten Rasseln und Trillerpfeifen, um ihre Wut über die Sozialpolitik der Regierung und ihre Ablehnung der Agenda 2010 lautstark zum Ausdruck zu bringen.

Viele Transparente verlangten die sofortige Rücknahme aller Sozialkürzungen. Selbst hergestellte Transparente forderten auch den Rücktritt der von Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) geführten Regierung.

Während die Demonstranten ihre Wut und ihren Protest direkt gegen die rot-grüne Regierung richteten, war der Hauptsprecher auf der Kölner Kundgebung, IG-Metall-Chef Jürgen Peters bemüht, die Unzufriedenheit der Demonstrationsteilnehmer auf die CDU/CSU, FDP und die Arbeitgeberverbände zu lenken.

Peters beklagte, dass "die Managergehälter explodieren, auch wenn die Betriebe am Boden liegen". Die Manager und Unternehmer würden "Wasser predigen und selbst den Wein saufen". "Nicht mit uns!" rief der Mann aus, der gemeinsam mit dem ehemaligen IG-Metall-Funktionär Hasso Düvel erst im vergangenen Jahr einen Villenkauf im Wert von 660.000 Euro getätigt hatte.

"Wir brauchen mehr Beschäftigung, wir brauchen mehr Arbeitsplätze!" forderte er und fügte hinzu, die Gewerkschaften erwarteten von der Regierung "Arbeitsplätze mit Einkommen, die zum Leben reichen". Ungeschützte Dienstbotenjobs mit Minilöhnen, ohne tariflichen und sozialen Schutz seien der falsche Weg.

Dann wandte sich Peters in seiner Rede allerdings den jüngsten Vorschlägen von CDU/CSU, FDP und Arbeitsgebern zu und erklärte, diese würden einen "Amoklauf" veranstalten. Peters wollte damit betonen, dass die konservative Opposition gegenüber der Regierung das größere Übel darstellen würde. Damit folgte er dem Ratschlag, den SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter den Gewerkschaften am gleichen Tag auf den Weg gab. Die Gewerkschaften müssten erkennen, "wo der wahre Gegner steht".

Stuttgart

Etwa 150.000 Menschen nahmen an der zentralen Kundgebung in Süddeutschland teil. Sie trafen in 1.100 Bussen und 19 Sonderzügen in Stuttgart ein. Örtliche Gewerkschaftsführer hatten zuvor von 50.000 Menschen als maximaler Teilnehmerzahl gesprochen.

Transparente auf der Demonstration richteten sich unmissverständlich gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung. "Schreddert Schröders Agenda", "Entlasst Schröder", "Wer hat uns verraten? - Sozialdemokraten; Wer ist mit dabei? - Die Grüne Partei!" usw.

Die Sprecher auf der Kundgebung gaben sich ihrerseits große Mühe, um jede Art eines an die Regierung gerichteten Ultimatums zu vermeiden. Der DGB-Landesvorsitzende Rainer Bliesener erklärte: "Diesem Aktionstag werden so lange weitere folgen,... bis sich die Politik geändert hat." Das sei "praktizierte Demokratie." Das Motto der Demonstrationen in Stuttgart und den anderen Städten "Aufstehen, damit es besser wird" war ebenso vage und nichtssagend.

Der Hauptsprecher bei der Stuttgarter Kundgebung war der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske. Ebenso wie in Köln konzentrierte Bsirske seine Attacken auf die jüngsten reaktionären Vorschläge, die aus den Reihen der rechten Oppositionsparteien kommen. Er stellte es so dar, als ob gegen die Agenda 2010 nicht wirklich etwas unternommen werden könne und die Hauptaufgabe darin bestehe, den Oppositionsparteien und Arbeitergebern etwas entgegenzusetzen, denen die Agenda nicht weit genug geht. Bsirske beschränkte sich auf freundliche Ratschläge an die Schröder-Regierung, forderte sie auf, die staatlichen Investitionen und die öffentlichen Ausgaben auszuweiten, und warnte den Kanzler, dass er sich von der normalen Mitgliedschaft seiner Partei entfremde.

DGB-Vertreter zwangen mit Hilfe der Polizei WSWS-Unterstützer, einen Stand mit Literatur wieder abzubauen. Trotz den Beleidigung der Gewerkschaftsbürokraten verteilten die Unterstützer der WSWS weiterhin Material und das Wahlprogramm der PSG unter den Demonstrationsteilnehmern.

Der radikale Ton und die Kritik an der Regierung, die auf allen drei Demonstrationen in Deutschland von eben jenen Gewerkschaftsbürokraten zu hören waren, die ansonsten für ihre enge Zusammenarbeit und ihre Verbindungen zu SPD-Führern bekannt sind, sind ein unmissverständliches Zeichen für die Angst der Gewerkschaftsführer, sie könnten die Kontrolle über die wütenden und unzufriedenen normalen Gewerkschaftsmitglieder und Arbeiter verlieren. Nach einer Reihe von Wahlniederlagen der SPD und einem starken Mitgliederschwund bei SPD und Gewerkschaften nutzte die Bürokratie am Samstag die Kundgebungsbühnen, um eine deutliche Warnung auszusprechen, dass die rot-grüne Politik unerträgliche und kaum noch im Zaum zu haltende soziale Spannungen erzeugt, die die Zukunft der Regierung und der SPD selbst in Frage stellen können.

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