Türkei: Sieg der AKP bei Kommunalwahlen verdeckt soziale Spannungen

Die gemäßigt islamistische AKP von Premierminister Recep Tayip Erdogan hat die türkischen Kommunalwahlen am 28. März klar gewonnen. Die traditionellen Parteien des türkischen Establishments verloren weiter an Boden und insbesondere die linken und kurdischen Parteien befinden sich in einer schweren Krise.

Mit knapp 43 Prozent aller Stimmen landesweit erhöhte die regierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) ihren Stimmenanteil von 34 Prozent bei den Parlamentswahlen vom November 2002 um neun Prozent. Die einzige noch im Parlament vertretene Oppositionspartei, die linkskemalistische CHP (Republikanische Volkspartei), kam auf 18 Prozent und verlor gegenüber den Parlamentswahlen vom November 2002 zwei Prozent.

Lediglich in den wohlhabendsten Provinzbezirken an der Westküste konnte sich die CHP noch einigermaßen behaupten. Von den vier größten Städten konnte sie nur noch Izmir für sich gewinnen, dagegen gingen Istanbul, Adana und auch die Hauptstadt Ankara an die AKP, ebenso wie die Touristenmetropole Antalya, wo CHP-Chef Deniz Baykal selbst angetreten war.

Die AKP hat sich bemüht, als staatstragend und moderat aufzutreten. In der Regel vermieden es ihre Kandidaten sorgfältig, das kemalistische Establishment herauszufordern, obwohl nach Schätzungen etwa zwei Drittel von ihnen aus den Reihen der fundamentalistischen Milli Görüs (Nationale Sicht) kommen. Teilweise ließen sie sich demonstrativ öffentlich die islamischen Bärte abrasieren.

Der Hauptgrund für den Erfolg der AKP war jedoch, dass sie mit einer wirtschaftlichen Erholung und Demokratisierung des Landes identifiziert wird. Die Türkei hatte 2001 eine verheerende Finanzkrise durchgemacht, die zahlreiche Existenzen in den Mittelschichten und der Arbeiterklasse vernichtete. Seither hat sich die Lage wieder stabilisiert. Die Wirtschaft ist gewachsen und die Inflationsrate deutlich gesunken. Die einfache Bevölkerung hat dies der Partei Erdogans hoch angerechnet, obwohl sich ihre Lage kaum zum Besseren geändert hat.

Der IWF hatte der Türkei nämlich in Folge der Finanzkrise ein "Reformprogramm" aufgezwungen, das die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit nochmals verschlimmerte. Entgegen ihren Wahlversprechen hat die AKP seit ihrem Regierungsantritt das IWF-Programm von Privatisierungen, Deregulierung, Preis- und Steuererhöhungen für die Verbraucher und Subventionskürzungen für die Bauern praktisch unverändert weitergeführt und durchgesetzt.

Gleichzeitig führte sie im politischen Bereich eine gewisse Liberalisierung durch, wie eine Verschärfung der Strafen für Folter, die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung von kurdischen Privatschulen. Der praktische Erfolg dieser Maßnahmen ist zwar eher symbolischer Natur, dennoch haben sie bei der Bevölkerung Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Landes und bei der Wirtschaft auf Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft geweckt.

Die relative wirtschaftliche Erholung steht allerdings auf wackligen Füßen. Sie ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Türkei von IWF und Weltbank mit Millionenkrediten versorgt worden ist. Dafür haben vor allem die USA gesorgt, die aufgrund der strategischen Lage des Landes ein hohes Interesse an seiner Stabilität und Westanbindung haben. Und während die hohen Börsenkurse die Stabilität bedingen, sind sie selbst auch von ihr abhängig, ein Zirkel, der jederzeit von politischen Ereignissen durchbrochen werden kann.

Bruchstellen dafür gibt es genug. Während Erdogan keine Gelegenheit auslässt, sich den USA anzubiedern, beruht die Popularität seiner Partei zu einem guten Teil darauf, dass die Parlamentsabgeordneten es den USA verwehrt hatten, die Türkei als Ausgangsbasis für den Irakkrieg zu benutzen. Hysterische Beschimpfungen der Türkei in der amerikanischen Presse und ein offener Appell des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Wolfowitz an das türkische Militär waren die Folge.

Auf die jüngste Zuspitzung der Lage im Irak hat Außenminister Abdullah Gül mit der Erklärung reagiert, eine Entsendung türkischer Truppen komme "nicht in Frage". Außer Frage steht allerdings, dass sich die USA damit im Ernstfall nicht abfinden werden. Berichte, wonach das türkische Militär praktisch die gesamte türkische Bevölkerung als potenzielle Staatsfeinde bespitzeln lässt, hat der Generalstab bestätigt, während die Regierung trotz einem Aufschrei in der Öffentlichkeit und der Presse schwieg. Dies zeigt, welcher Machtfaktor und welche Gefahr für die Demokratie die Armee immer noch darstellt.

Auf der anderen Seite haben Terroranschläge auf britische Einrichtungen und eine Freimaurerloge deutlich gemacht, dass in der Türkei, genährt von sozialem Elend und anti-imperialistischen Stimmungen, ein Potenzial an islamistischem Terrorismus existiert.

Die EU-Mitgliedschaft, die wesentliche Trumpfkarte der AKP-Regierung, ist auch ihre Achillesferse. Gegen die Aufnahme von Verhandlungen gibt es innerhalb der EU beträchtliche Widerstände. Nach ihrer Niederlage bei den jüngsten Regionalwahlen hat die französische Regierungspartei UMP erstmals deutliche Vorbehalte angemeldet, während in Deutschland die oppositionelle CDU/CSU seit langem dagegen Stimmung macht. Sollten sich alle Zugeständnisse der AKP - etwa in der Zypern- oder der Kurden-Frage - als vergeblich erweisen, wäre es mit ihr unter Umständen schnell vorbei.

Bei den Lokalwahlen hat vor allem die extreme Rechte von der Opposition gegen die AKP profitiert. Die faschistischen "Grauen Wölfe" der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und die ehemalige Regierungspartei DYP (Partei des Wahren Weges), die unter ihrem neuen Vorsitzenden Mehmet Agar zum Rechtsextremismus konvertierte, haben jeweils mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten, während die CHP Stimmen einbüßte.

Die CHP hat diesen Kräften den Weg bereitet, indem sie die Regierung von einem rechten, nationalistischen Standpunkt attackierte - und darin von Teilen der Gewerkschaftsbürokratie, stalinistischen Gruppen und einem Großteil der linken Intellektuellen unterstützt wurde.

Einige führende Mitglieder und Abgeordnete der CHP reagierten auf die Niederlage, indem sie den bisherigen Kurs der Partei heftig angegriffen und in der Presse eine Kampagne für eine "Erneuerung" und "Liberalisierung" starteten.

Typisch war ein Kommentar in der konservativen Zaman vom 6. April: "Der Kampf zwischen den (reformbereiten und liberalen) Erneuerern und den (den Status Quo verteidigenden und unbeweglichen) Traditionalisten zieht sich innerhalb der CHP seit langem hin. Der reformbereite Flügel tritt für eine Synthese von Sozialdemokratie und einer modernen Version des Kemalismus ein; er will die Begriffe des Säkularismus und Nationalismus sowie die Wirtschaftsphilosophie der Partei liberalisieren. Der traditionelle Flügel will dagegen zu den Standpunkten aus der Zeit der Einparteienherrschaft der CHP zurückkehren."

Die Erneuerer befürworten also eine "liberale Sozialdemokratie" nach dem Vorbild von Tony Blairs "New Labour" und Gerhard Schröders "Neuer Mitte", und dies zu einem Zeitpunkt, wo diese weitgehend diskreditiert sind.

Während ein Teil der linken Organisationen im Namen des Antiimperialismus den türkischen Nationalismus und die Armee unterstützte, stellte sich ein anderer Teil hinter den kurdischen Nationalismus. Die DEHAP, die einzige legale kurdische Partei, hatte sich mit einer Reihe radikaler und linker Gruppen sowie bekannten kemalistischen Intellektuellen zur SHP (Sozialdemokratische Volkspartei) zusammengeschlossen - und im kurdischen Südosten gegenüber der AKP verloren. DEHAP steht politisch der mittlerweile in Kongra-Gel umbenannten PKK (Kurdische Arbeiterpartei) nahe.

Die DEHAP wollte sich sowohl dem kemalistischen Establishment als auch den USA andienern. Führende Vertreter haben öffentlich die amerikanische Besetzung des Nachbarlandes Irak unterstützt. Auch für den Beitritt zur EU und die damit einhergehende Umsetzung der EU-Kriterien hat die DEHAP sich ausgesprochen, was besonders für die bitterarme und rückständige Landwirtschaft in der kurdischen Südosttürkei verheerende Folgen haben würde. All das hat die linken Gruppen nicht abgehalten, diese Partei zu unterstützen.

Jetzt könnte das Bündnis jedoch aufbrechen, weil kurdische Nationalisten es für das schlechte Abschneiden der DEHAP verantwortlich machen. Die DEHAP konnte zwar die Bürgermeisterposten in Diyarbakir, Hakkari und Tunceli, verteidigen. An die AKP verlor sie aber die Bürgermeister der mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzhauptstädte von Bingöl, Siirt, Agri und Van. Das Bündnis SHP/Dehap erreichte landesweit nur 4,8 Prozent der Stimmen und damit erheblich weniger, als ihm zugetraut worden war.

Typisch war ein Kommentar von Mutlu Civiroglu, ehemals Verantwortlicher für internationale Beziehungen der DEHAP-Vorgängerpartei HADEP, der noch vor den Wahlen auf einer kurdisch-nationalistischen Website erschien. Civiroglu schrieb: "Anstatt sich auf eine nutzlose Zusammenarbeit mit ohnmächtigen türkischen Parteien einzulassen, um das ‚brüderliche Verhältnis von Türken und Kurden' zu beweisen, sollte sich die DEHAP für die Einheit der Kurden einsetzen und versuchen, alle Kurden in der Türkei zu erreichen." Jetzt dürften sich solche Stimmen mehren.

Siehe auch:
Vernichtende Niederlage der etablierten Parteien in der Türkei
(7. November 2002)
AKP-Führer Erdogan gewinnt Nachwahl in Siirt
( 12. März 2003)
Türkei: Sinkende Inflation und fallende Löhne
( 30. Januar 2004)
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