Die EU-Osterweiterung und ihre Folgen

Mit einem großen Festakt auf dem Schloss in der irischen Hauptstadt Dublin werden an diesem 1. Mai 2004 die europäischen Regierungschefs die Osterweiterung der Europäischen Union feiern. In ihren Festreden werden sie viel über die "historische Stunde" schwärmen, in der Europa "größer, einiger und friedlicher" (Die Zeit) werde.

Die Arbeiterklasse darf sich durch die hochtrabenden Reden, glänzenden Propagandabroschüren und Feuerwerke nicht blenden lassen. Die Erweiterung ist nicht zu ihrem Nutzen und nicht in ihrem Interesse. Ganz im Gegenteil! Die Ausdehnung der EU nach Osten wird alle sozialen und politischen Probleme Europas verschärfen.

Durch die Erweiterung wird das Gefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern Europas gewaltig zunehmen, ohne dass nennenswerte Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen sind, wie dies bei früheren Erweiterungsrunden der Fall war. Und die extrem niedrigen Löhne in Osteuropa werden als Hebel eingesetzt werden, um auch in den reicheren Ländern die sozialen Standards weiter nach unten zu treiben.

Alleine schon die Tatsache, dass die Vereinigung von der Brüsseler EU-Bürokratie vollständig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg vorbereitet und durchgesetzt wurde, macht deutlich, dass es sich um ein Projekt der Finanz- und Wirtschaftselite der reichsten europäischen Länder handelt.

Nicht eine einzige Partei, die in einem der 25 Länder an den Verhandlungen über die Erweiterung beteiligt war, vertrat die Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Die sozialen Probleme, die sich in den zehn Beitrittsländern in den letzten Jahren und Monaten gravierend verschlimmerten, werden nur von extrem rechten Parteien angesprochen, die versuchen, die Empörung der Bevölkerung in reaktionäre, nationalistische und rassistische Bahnen zu lenken.

Die Arbeiterklasse kann sich weder auf die Seite der europäischen Regierungen stellen, die im Dubliner Schloss die Sektkorken knallen lassen, noch darf sie den rechten Rattenfängern nachgeben, die gegen die Brüsseler Bürokratie wettern, aber völlig egoistische und rückwärtsgewandte Ziele vertreten. Sie muss ihren eigenen, unabhängigen politischen Standpunkt einnehmen und der Europäischen Union, d. h. dem Europa der Konzerne und Banken, die Vereinigung Europas von unten, durch das solidarische Handeln der Bevölkerung, und die Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa entgegenstellen.

Um als eigenständige politische Kraft handeln zu können, braucht die arbeitende Bevölkerung eine neue Partei. Sie kann sich weder auf die sozialdemokratischen Bürokratien, noch auf die gewendeten Stalinisten in den osteuropäischen Ländern stützten. Darin besteht die große politische Bedeutung der Wahlinitiative der Vierten Internationale, die mit Kandidaten der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) am Europawahlkampf teilnimmt.

Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben, um ein selbstbewusstes Handeln der Bevölkerung zu ermöglichen, besteht darin, eine schonungslose Bilanz des bisherigen Einigungsprozesses durchzuführen. Gestützt auf das Wahlmanifest der PSG lässt sich diese Entwicklung folgendermaßen zusammenfassen:

Durch die Erweiterung erhöht sich die Bevölkerungszahl der EU um knapp 20 Prozent auf 451 Millionen. Die Fläche des Binnenmarktes erweitert sich um 23 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt steigt dagegen nur um knapp 5 Prozent. Zusammen genommen entspricht das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Beitrittsländer ungefähr dem Hollands, obwohl die Bevölkerungszahl fünfmal größer ist. Das BIP pro Kopf erreicht noch nicht einmal die Hälfte des Werts der alten Mitglieder.

Im Gegensatz zu den Brüsseler Propagandabroschüren, die den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung im Osten ankündigen, sprechen die Zahlen eine ganz andere Sprache. In den kommenden zwei Jahren will die EU die neuen Mitglieder mit jährlich 20 Milliarden Euro fördern. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise ist dies nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das zeigt ein Vergleich mit den Kosten der deutschen Wiedervereinigung. Seit 1991 flossen aus der Bundeskasse Jahr für Jahr 50 Milliarden Euro in den deutschen Osten, dessen Einwohnerzahl mit 17 Millionen wesentlich geringer ist, als die 75 Millionen der osteuropäischen Beitrittsländer. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands doppelt so hoch wie im Westen.

Die Osterweiterung geht außerdem zu Lasten der ärmeren Regionen Westeuropas, die entsprechend weniger Fördergelder aus dem Regionalfonds erhalten.

Die EU-Kommission hat bereits im Vorfeld der Erweiterung für die Vertiefung der sozialen Gegensätze in den Beitrittsländern gesorgt. Durch eine Unzahl von Kriterien, Bedingungen und Vorschriften stellt sie sicher, dass in den ehemaligen Ostblockstaaten ein "wettbewerbsfreundliches" Klima entsteht. Konkret bedeutet dies massive Einschnitte bei den staatlichen Sozialleistungen, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Stillegung großer Bereiche von Industrie und Landwirtschaft, die als unrentabel gelten.

Für die Masse der Bevölkerung hat dies verheerende Folgen. Während in einigen Städten aufgrund von ausländischen Investitionen und EU-Subventionen kleine, prosperierende Zentren entstehen, die einer schmalen Oberschicht ein verhältnismäßig gutes Einkommen sichern, versinken die restlichen Gebiete in Elend und Hoffnungslosigkeit.

Polen

Besonders deutlich ist dies in Polen, das mit 39 Millionen mehr Einwohner zählt, als die übrigen neun Beitrittsländer zusammen. Dort hatte schon Ende der achtziger Jahre eine so genannte "Schocktherapie" große Teile der Schwerindustrie (Stahl und Werften) sowie des Bergbau- und Energiesektors in den Bankrott getrieben. Von 1988 bis 1992 ging die Industrieproduktion des Landes um fast die Hälfte zurück. Ein Lohnstopp für die Beschäftigten staatlicher Betriebe führte im selben Zeitraum zu einem Reallohnverlust von 25 Prozent. Die EU-Kommission drängt nun auf eine Beschleunigung der Privatisierung und fordert, dass weitere unrentabel Betriebe stillgelegt werden.

Nicht minder explosiv ist der soziale Sprengstoff auf dem Lande. Fast 20 Prozent der polnischen Erwerbstätigen sind in der Landwirtschaft beschäftigt, deren Produktivität aber äußerst gering ist. Nach Berechnungen der EU werden von den gegenwärtig zwei Millionen polnischen Bauernhöfen lediglich hunderttausend die EU-Mitgliedschaft überleben. Polnischen Bauern stehen nach dem Beitritt nur 40 Prozent der Agrarhilfen zu, welche die EU an westliche Bauern zahlt. Diese fließen in der Regel an reichere Bauern oder an die Agrarkonzerne, die schon an der Grenze bereit stehen, um polnisches Land mit industriellen Methoden zu bearbeiten. Hinzu kommt die Konkurrenz billiger westlicher Lebensmittelimporte, wenn die Grenzen einmal geöffnet sind. Ein massenhaftes Bauernsterben ist daher vorprogrammiert.

Vor allem die deutsche Wirtschaft hat großes Interesse an der Osterweiterung. Schon bisher nutzte sie Osteuropa als Absatzmarkt und Reservoir billiger, aber gut qualifizierter Arbeitskräfte. Der Anteil der osteuropäischen Beitrittskandidaten am deutschen Außenhandel ist mittlerweile fast so hoch wie der Anteil der USA - knapp zehn Prozent. Deutschland wiederum wickelt rund 40 Prozent des gesamten EU-Handels mit diesen Staaten ab. Deutsche Konzerne haben massiv in Osteuropa investiert. In Polen, Tschechien und Ungarn sind 350.000 Beschäftigte in deutschen Unternehmen tätig. Allein der Siemens-Konzern verfügt über 95 Tochtergesellschaften mit 25.000 Beschäftigten. Volkswagen hat 1991 den tschechischen Autohersteller Skoda übernommen.

Die Arbeitskosten eines Facharbeiters betragen in den Beitrittsländern nur etwa ein Achtel der entsprechenden Kosten in Deutschland. Mit einer Angleichung der Löhne ist nicht so schnell zu rechnen. Dafür sorgt neben der hohen Arbeitslosigkeit eine Regelung, wonach für Arbeiter aus Osteuropa die Freizügigkeit erst sieben Jahre nach dem Beitritt in Kraft tritt.

Slowakei

Die Slowakei, so wird prognostiziert, wird in wenigen Jahren gemessen an der Bevölkerungszahl zum größten Automobilhersteller der Welt werden. Die außerordentlich brutalen Sozialkürzungen der dortigen Regierung ziehen darüber hinaus auch Dienstleistungsunternehmen an. Call Center, einfache Buchhaltungsarbeiten und ganze IT-Bereiche werden mittlerweile in die Slowakei verlagert.

Ähnliches findet auch in den größeren Ländern Osteuropas statt. Das Logistikunternehmen DHL beispielsweise plant ein Projekt in Tschechien mit einem Volumen von 500 Mio. Euro. Im Gegenzug sollen Standorte in Großbritannien abgebaut werden. Die Anzahl von Call-Centern soll in Tschechien in den nächsten Jahren um 70 Prozent steigen.

Die wirtschaftsfreundlichen Bedingungen von heute wurden in den 90er Jahren geschaffen - zumeist von den ehemaligen stalinistischen Bürokraten, die sich zu skrupellosen Verfechtern des Kapitalismus mauserten und die Bevölkerung ihrer Länder hemmungslos ausplündern.

Ungarn

Ein gutes Beispiel dafür ist die Politik der sozial-liberalen Regierung in Ungarn Mitte der 90er Jahre. Das "Bokros-Paket", benannt nach dem damaligen Finanzminister, sorgte durch drastische Kürzungen bei Renten, Gesundheit und Bildung und einer radikalen Abwertung der Währung für einen Reallohnverlust von zehn Prozent. Parallel dazu wurde im Rekordtempo die staatliche Industrie privatisiert und ein Heer von Arbeitslosen geschaffen.

Ein ehemaliger Produktionsdirektor des Phillips-Konzern erinnerte sich gegenüber einem Industriellenmagazin zufrieden an diese Jahre zurück. "Wir wollten das zuerst gar nicht glauben", schwärmte er, "wir haben gerechnet und gerechnet. Plötzlich waren wir wieder mit asiatischen Standorten konkurrenzfähig."

Phillips verlegte in den 90er Jahren die Produktion immer mehr nach Ungarn, wo die Löhne etwa fünf Mal niedriger sind als in westeuropäischen Ländern. Seit 2001 lässt der Konzern noch weiter östlich, in der Ukraine, zu noch geringeren Kosten produzieren. Dasselbe taten viele Unternehmen in Westeuropa, wie z. B. Siemens, das vor kurzem die Verlagerung von 5.000 bis 10.000 Stellen in osteuropäische Billiglohnländer ankündigte.

Um internationales Kapital anzuziehen, hat bereits ein regelrechter Wettkampf um die niedrigsten Steuern begonnen, in den sich nun auch westeuropäische Länder eingeschaltet haben. Österreich, das ohnehin schon seit Jahren die niedrigsten Steuern auf Vermögen in der EU erhebt, hat für 2005 eine Steuerreform beschlossen, bei der die Körperschaftssteuer von 34 auf 25 Prozent sinkt und bei der noch weitere Erleichterungen für Investoren zum Tragen kommen. Die daraus entstehenden Steuerausfälle sollen durch einen noch radikaleren Sparkurs ausgeglichen werden.

Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa

In ihrem Aufruf zu den Europawahlen erklärt die PSG: "Wir lehnen die Europäische Union, ihre Institutionen und geplante Verfassung sowie den Erweiterungsprozess unter EU-Regie entschieden ab." Aber unsere Ablehnung hat nichts gemein mit der Haltung derer, die die europäischen Grenzen nach Osten abschotten und die nationalen Staaten verteidigen wollen.

Die Überwindung der europäischen Grenzen und die gemeinsame Nutzung der enormen technischen und kulturellen Ressourcen und materiellen Reichtümer des Kontinents würde die Voraussetzungen schaffen, um die Probleme von Armut und Rückständigkeit in kurzer Zeit zu überwinden und das allgemeine Lebensniveau in ganz Europa anzuheben. Das ist allerdings nicht möglich, solange der Einigungsprozess von den Profitinteressen der Wirtschaft bestimmt wird. In seiner jetzigen Form garantiert er dem Kapital volle Bewegungsfreiheit, während die Bevölkerung durch gravierende Unterschiede der Löhne und des Lebensstandards, die Diskriminierung von Immigranten sowie die Unterdrückung demokratischer Rechte gespalten wird.

Eine fortschrittliche Einigung Europas ist nur in Form Vereinigter Sozialistischer Staaten möglich. Sie setzt voraus, dass sich die europäische Arbeiterklasse politisch zusammenschließt. Das ist nur möglich durch den Aufbau einer neuen Partei, die sich nicht länger den Absichten und Zielen der Wirtschaftsverbände unterordnet, sondern die Lebensinteressen der Bevölkerung an die erste Stelle setzt.

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