Putin kündigt weitere Angriffe auf Lebensbedingungen der Bevölkerung an

In seiner alljährlichen Botschaft vor der Föderalen Versammlung, den beiden Kammern des russischen Parlaments, kündigte Präsident Wladimir Putin am 26. Mai eine neue Runde der Schocktherapie an - des sozialen Krieges der herrschenden Eliten gegen die Mehrheit der Bewohner des Landes.

Seine Rede war voller liberaler Rhetorik und schwülstigen Passagen über die Wachstumserfolge der russischen Wirtschaft. Doch im Mittelpunkt stand die Vorstellung von geplanten oder bereits in Angriff genommenen Maßnahmen, die die verbliebenen sozialen Garantien beseitigen und das Lebensniveau der Bevölkerung weiter absenken.

Putin sprach im Namen der großen transnationalen Konzerne, die Russland als Quelle von Rohstoffen und billiger Arbeitskraft betrachten und die Beseitigung aller Hindernisse fordern, die ihrer unbegrenzten Ausbeutung im Wege stehen. Und er sprach für jenes Russland, das ein luxuriöses Leben hinter den Zäunen der Vorortvillen führt, über moderne Büros verfügt und das reale Leben der Mehrheit der Bevölkerung aus komfortablen Autos oder am Bildschirm beobachtet.

Das von Putin gezeichnete Bild stand im Widerspruch zum Alltagsleben der einfachen Bürger oder gab nur einen Teil der Wahrheit wieder. Es sollte die wachsende Anhäufung von Reichtum in privater Hand und die Stärkung des autoritären polizeistaatlichen Regimes rechtfertigen.

"Erstmals seit langem", erklärte Putin, "ist Russland ein politisch und wirtschaftlich freies Land geworden." Was meint er damit? Wie kann er von "politischer und wirtschaftlicher Freiheit" sprechen, wenn Dutzende Millionen von Minimallöhnen leben, ihre Interessen systematisch mit Füßen getreten werden und ihr politischer Wille ständig von großangelegten Lügenkampagnen verfälscht wird? Putins Erklärung ist Bestandteil einer pausenlosen, auch von den Medien verbreiteten Propagandakampagne, die den Bürgern das Gegenteil von dem weismachen will, was sie tagtäglich in bitteren Erfahrungen erleben.

Selbst loyale Anhänger des Regimes bezeichnen die Maßnahmen im Sozialbereich, die Putin nach seiner Wiederwahl angekündigt und die Regierung Michael Fratkow mittlerweile eingeleitet hat, als beispiellosen Angriff auf die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung. Dazu zählen folgende Maßnahmen:

· Die Regierung hat die Einheitliche Sozialsteuer, die automatisch von jeder Gehaltszahlung abgezogen wird, von 33 auf 26 Prozent gekürzt. Der entsprechende Rückgang der Einnahmen dient ihr als Vorwand, die Mittel für Sozialprogramme einzufrieren oder zu streichen.

· Veränderungen im Wohnungsgesetz ermöglichen es seit dem 1. April, Wohnungen zu räumen, wenn die Bewohner kommunale Dienstleistungen wie Telefon, Gas, Elektrizität usw. nicht bezahlen. Viele russische Wohnungen gelten formal als Eigentum der Bewohner, diese müssen aber für die kommunalen Dienstleistungen bezahlen. Die Regierung plant außerdem Privatisierungen im Wohnungsbereich, was zu einem starken Anstieg der Unterhaltskosten führen und Familien mit einer kaum zu tragenden Bürde belasten wird.

· Alle gegenwärtig existierenden sozialen Hilfen sollen in Geldform umgewandelt werden. Das wird dazu führen, dass ein Großteil der 103 Millionen Menschen, die zur Zeit solche Hilfen beziehen, selbst von dieser minimalen Unterstützung ausgeschlossen werden.

· Die bereits im vergangenen Jahr verabschiedeten neuen Arbeitsgesetze nehmen den Arbeitnehmern de facto die Möglichkeit, sich gegen Angriffe seitens der Arbeitgeber zu verteidigen. Die Gewerkschaften sind völlig von den Arbeitgebern abhängig und die Organisation von Streiks ist nahezu unmöglich.

· Schon vor längerer Zeit hat die Regierung mit der Absenkung der Einkommenssteuer auf 13 Prozent der im Luxus schwimmenden reichen Minderheit ein kolossales Geschenk gemacht.

Die soziale Ungleichheit in Russland gehört zu den höchsten der Welt. In den Händen der reichsten zehn Prozent (14,4 Millionen) konzentrieren sich 35 Prozent des Einkommens, während sich die unteren zehn Prozent mit 2,5 Prozent begnügen müssen. Der offiziellen Statistik zufolge leben 30 Millionen Russen (20 Prozent der Bevölkerung) in Armut, d. h. sie verfügen über weniger als 2143 Rubel (ca. 62 Euro) im Monat.

In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung behauptete Putin, dass das Lebensniveau der Bevölkerung zwar langsam, aber doch ansteige. Er stützt sich dabei auf das Anwachsen der Gesamtsumme aller Einkommen, das zu 99 Prozent auf den Einkommenszuwachs der dünnen Schicht der Reichen und Oligarchen zurückgeht.

Der Präsident kündigte neue soziale Projekte in drei Bereichen an: der Wohnraumversorgung, der Modernisierung des Gesundheitssystems und der Entwicklung der Ausbildung.

Er versprach, dass bis zum Jahr 2010 ein Drittel der Bevölkerung über eine eigene Wohnung verfügen werde. Gegenwärtig sind es nach Putins Angaben nur zehn Prozent. Zu diesem Zweck will er ein Hypothekensystem entwickeln, das gleichzeitig das Wirtschaftswachstum stützen soll. Angesichts der allgemein geringen Einkommen ist es aber kaum wahrscheinlich, dass außerhalb der schmalen Oberschicht jemand eine Hypothek aufnehmen kann.

Gleichzeitig sprach Putin von der Notwendigkeit, im Bereich der Sozialwohnungen Ordnung zu schaffen. Der Sinn dieser Bemerkung besteht laut Iswestija darin, dass "nur noch völlig Arme eine Sozialwohnung bekommen werden".

In ihrer Gesamtheit bedeuten Putins Vorschläge, dass sich der Staat sämtlicher sozialen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern entledigt. Das Recht auf eine eigene Wohnung, auf medizinische Versorgung oder auf Bildung wird nicht mehr garantiert.

Unter "Modernisierung" des Gesundheitssystems versteht Putin die Senkung der öffentlichen Ausgaben für die Versorgung der Bevölkerung mit einer kostenlosen oder relativ günstigen medizinischen Behandlung und mit Medikamenten.

Das Studium soll zukünftig von den Studenten selbst bezahlt werden. Zur Zeit erhalten noch etwa die Hälfte aller Studenten der Universitäten, Fachhoch- und Fachschulen eine kostenlose Ausbildung.

Hinzu kommt, dass die Absolventen der Hochschulen keine Arbeit in ihrem Beruf finden. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor äußerst beschränkt und viele Berufe, wie der des Arztes oder des Lehrers, haben ihr hohes Ansehen wegen der geringen staatlichen Bezahlung verloren. Studenten streben eher danach, Manager, Jurist oder Ökonom zu werden, weil diese Berufe noch gewisse Zukunftsaussichten verheißen. Viele finden keine Anstellung entsprechend ihrem Diplom.

Putin schlägt vor, dass Studenten, die kostenlos studieren, einen Vertrag unterzeichnen, der sie verpflichtet, entweder für eine bestimmte Zeit in ihrem Ausbildungsberuf zu arbeiten oder die für das Studium aufgewandten Gelder zurückzuzahlen. Weil es keinen Mechanismus gibt, der die Hochschulabsolventen mit ihrer Ausbildung entsprechenden Berufen versorgen könnte, bedeutet dies faktisch, dass die Studenten sich gegenüber dem Staat hoch verschulden müssen.

Putin hielt seine Rede vor der versammelten Führungsschicht des Landes - Ministern, Gouverneuren, Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden der politischen Parteien (einschließlich der Kommunistischen). Niemand äußerte danach prinzipielle Einwände gegen die Linie des fortgesetzten gesellschaftlichen Selbstmords, die der Präsident verkündet hatte. Wenn Kritik geäußert wurde, beschränkte sie sich darauf, dass dieser oder jener Bereich mehr Berücksichtigung finden, die vorgeschlagenen Maßnahmen genauer erläutert werden sollten usw. Kein Vertreter der politischen Elite stellte die vorgeschlagenen Maßnahmen grundsätzlich in Frage.

Zwischen allen führenden Kräften der Machtelite besteht Übereinstimmung, dass die kapitalistischen Reformen in Russland auf Kosten der Lebensbedingungen und sozialen und zivilen Grundrechte der Bevölkerung fortgeführt werden müssen. Dieser Kurs, der von weitreichenden polizeistaatlichen Unterdrückungsmaßnahmen begleitet wird, hat auch die volle Unterstützung der westlichen Politiker und Medien. Sie sind seit langem zum Schluss gelangt, dass der beste Weg, ihre Interessen in Russland (und den anderen Ländern des Ostblocks) durchzusetzen, in der Unterstützung eines autoritären Regimes und "starken Staats" besteht. Darum dosieren sie ihre Kritik an Putin und rechtfertigen die Grundlinien seiner Innenpolitik.

Siehe auch:
Putin konsolidiert das Regime der "gelenkten Demokratie"
(20. Dezember 2003)
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