Parteitag der Demokraten in den USA

Das große Tabu: Kerrys Vergangenheit als Kriegsgegner

Die Demokratische Partei, die auf ihrem soeben zu Ende gegangenen Parteitag in Boston Senator John Kerry auf ihren Schild hob, unterschlug die beste moralische Leistung im Werdegang ihres Präsidentschaftskandidaten: seine offene Opposition gegen den Vietnamkrieg zu Beginn der 1970er Jahre.

Abgesehen von einem kurzen Hinweis in einem biographischen Video, das am Donnerstag Abend vorgeführt wurde und sich auf seine militärische Laufbahn konzentrierte, wurden Kerrys Antikriegsaktivitäten während des viertägigen Kongresses praktisch nicht erwähnt.

Dieses Verschweigen hatte es Absurdes an sich. Jeder Funktionär der Demokratischen Partei, jeder Delegierte und jeder Medienvertreter kennt Kerrys Vergangenheit, aber niemand erwähnt sie - die Vergangenheit des Kandidaten muss nach Ansicht des politischen und des Medien-Establishments "aufpoliert" werden. Was lehrt uns diese Geschichtsfälschung - das Leugnen einer früheren Opposition gegen eines der größten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts - im Hinblick auf die Demokratische Partei als Ganze?

Die Lobreden, die während des Parteitags auf Kerry gehalten wurden, übersprangen einfach die Zeit, in der er öffentlich gegen den Vietnamkrieg auftrat.

Die prominentesten Redner bezogen sich mehrfach auf Kerrys Militärdienst in Vietnam, der ihm diverse Medaillen einbrachte. Al Gore, der ehemalige Vizepräsident, hob seinen "ungewöhnlichen Heroismus auf dem Schlachtfeld Vietnam" hervor. Der ehemalige Präsident Jimmy Carter stellte fest: "Für den Fall, dass unsere nationale Sicherheit militärische Maßnahmen erfordert, hat John Kerry bereits in Vietnam bewiesen, dass er ohne Zögern handeln wird." Senatorin Hillary Clinton (New York) erklärte: "Wir müssen uns um unsere Männer und Frauen in Uniform kümmern, die, wie einst John Kerry, ihr Leben aufs Spiel setzen."

Ihr Ehemann, Ex-Präsident Bill Clinton, ließ sich in seiner unbeholfenen Art ebenfalls über Kerrys Vergangenheit aus: "Während des Vietnamkriegs sind viele junge Männer, darunter der heutige Präsident, der heutige Vizepräsident und auch ich, nicht nach Vietnam gegangen, obwohl sie es gekonnt hätten. John Kerry kam aus einer privilegierten Familie. Auch er hätte dem Dienst ausweichen können, stattdessen sagte er: Schickt mich."

Am zweiten Tag des Parteitags ging es munter so weiter. Senator Edward Kennedy (Massachusetts) bezeichnete Kerry als "Kriegsheld". Der Abgeordnete Dick Gephardt (Missouri) beteuerte: "John Kerry verteidigte unsere Freiheit im Angesicht eines Gewehrlaufs." Barack Obama, der im Bundesstaat Illinois für den US-Senat kandidiert, pries Kerrys "heldenhaften Dienst in Vietnam". Teresa Heinz Kerry, die Ehefrau des Kandidaten, erklärte den Versammelten unumwunden, ihr Mann habe "seine Medaillen auf altmodische Weise verdient, indem er nämlich sein Leben für sein Land aufs Spiel setzte".

Kerrys Eintreffen am Tagungsort wurde so gestaltet, dass er in Gesellschaft eines Dutzend Besatzungsmitgliedern eben jenes Schnellboots der US-Marine, das er während des Vietnamkriegs befehligt hatte, per Schiff im Hafen von Boston eintraf. Auch dieser Auftritt sollte die Öffentlichkeit an Kerrys Vergangenheit in Vietnam erinnern und seine Person in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Armee verknüpfen.

Am Abend ließ man das Militär erneut nach Kräften hochleben. Unerwartet wurden zwölf pensionierte Generäle und Admirale auf die Bühne geholt, unter ihnen zwei ehemalige Generalstabschefs (General John. M. Shalikashvili und Admiral William J. Crowe), ein ehemaliger Oberkommandierender der NATO (General Wesley Clark) und ein ehemaliger CIA-Direktor (Admiral Stansfield Turner). Shalikashvili durfte seine Ansprache zur besten Sendezeit halten.

Am selben Abend nahm der Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Senator John Edwards (North Carolina) seine Nominierung an, indem er erneut Kerrys Vergangenheit in der Armee hervorhob: "Wer wissen möchte, was für eine Art Führer er sein wird, den möchte ich etwa dreißig Jahre in die Vergangenheit zurück führen. Als John Kerry vom College abging, meldete er sich freiwillig zum Militärdienst, ging freiwillig nach Vietnam, übernahm freiwillig das Kommando über ein Schnellboot - einer der gefährlichsten Posten, die man in Vietnam übernehmen konnte. So wurde er verwundet und für seine Tapferkeit geehrt."

Wie der Nachrichtendienst Bloomberg berichtet, umgab sich Kerry während der Ausarbeitung seiner Parteitagsrede für den 29. Juli mit seinen früheren Kameraden und Vietnamkriegsveteranen, "um zu unterstreichen, dass er qualifiziert ist, den Kampf gegen den Terrorismus zu führen und den Krieg im Irak in den Griff zu bekommen".

Die Politik und die politische Atmosphäre, welche die Demokratische Partei auf dieser nationalen Veranstaltung erzeugt hat, birgt eine objektive Logik. Viele Kriegsgegner und "linke" Liberale, die nach wie vor die Demokraten wählen, mögen sich einreden, dass diese flaggenselige Verherrlichung des Militarismus mit Kerrys eventuellem Amtsantritt aufhören würde und dass sie lediglich wahltaktischen Zwecken diene, um den Republikanern keine Angriffsfläche zu bieten, usw. Doch sie machen sich etwas vor. Der Parteitag bereitete die tatsächliche politische Physiognomie einer kommenden Regierung der Demokraten vor: kriegsbegeistert, militaristisch und imperialistisch.

Die Demokraten haben die Haltung, die Kerry vor drei Jahrzehnten einnahm, nicht öffentlich widerrufen, denn gelegentlich leistet sie ihnen noch gute Dienste. Während der Vorwahlen zu Jahresbeginn beispielsweise wurden Kerrys Proteste gegen den Vietnamkrieg in die Welt posaunt, um sein Image zu verbessern und die Bewerbung von Howard Dean zu untergraben.

Das Stillschweigen des jüngsten Parteitags über Kerrys Vergangenheit entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Im Vorfeld der Veranstaltung hatten Sprecher der Demokraten gegenüber der Presse wiederholt erklärt, man wolle erreichen, dass die amerikanischen Bevölkerung Kerry kennen lerne, und zwar "als Mensch". Und doch haben sie ihren heutigen, reaktionären politischen Zwecken zuliebe seinen ehrenhaftesten, "menschlichsten" Lebensabschnitt unterschlagen. "Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, das Gute wird mit ihnen oft begraben", sagt Marcus Antonius bei Shakespeare. Die Demokraten können es besser - sie haben das "Gute" an Kerry schon vor seinem Tod begraben.

John Kerry diente von Dezember 1967 bis April 1969 als Marineleutnant in Vietnam und wurde mit vier Medaillen geehrt. Bei seiner Rückkehr in die USA gab er sich jedoch als beredter Kriegsgegner zu erkennen. "Ich war wütend über das, was dort geschah, ich war eindeutig der Ansicht, dass es völlig falsch war", erklärte er in einem Interview. Im Jahr 1970 schloss er sich den Vietnam Veterans Against the War (VVAW) an. Im Januar 1971 sprach er auf einer Antikriegskundgebung der Vietnamveteranen in Washington.

Diese Protestaktion mit rund 1100 Teilnehmern fand am 20. April statt. Am 22. April 1971 trat Kerry als Vertreter der VVAW vor dem Außenpolitischen Ausschuss des Senats auf.

Er berichtete in dieser Funktion von den Befunden einer VVAW-Konferenz über Kriegsgräuel. In einem oft zitierten Absatz erklärte er vor dem Senatsausschuss: "Sie [Vietnamkriegsveteranen] berichteten davon, wie sie selbst Vergewaltigungen verübt hatten, wie sie Ohren abgeschnitten und Köpfe abgeschlagen hatten, wie sie Drähte von tragbaren Telefonen an menschlichen Genitalien befestigt und dann unter Strom gesetzt hatten, wie sie Gliedmaßen abgetrennt, menschliche Körper in die Luft gejagt und willkürlich auf Zivilisten geschossen hatten, wie sie im Stile von Dschinghis Khan Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, Vieh und Hunde zum Spaß erschossen hatten, wie sie Nahrungsmittelvorräte vergiftet und überhaupt ganz Südvietnam verwüstet hatten, über die normale Verwüstung des Krieges hinaus, und zusätzlich zu der üblichen und ganz typischen Verwüstung, die durch die Bombardierung dieses Landes angerichtet wurde."

Kerry fuhr fort: "Wir rechtfertigten die Vernichtung von Dörfern damit, dass sie gerettet werden müssten. Wir erlebten, wie Amerika seinen Sinn für Moral einbüßte, als es My Lai ungerührt hinnahm und sich weigerte, das Image des amerikanischen Soldaten aufzugeben, der Schokolade und Kaugummi verteilt. Wir lernten, was Free Fire Zones sind - man schießt dort auf alles, was sich bewegt - und wir sahen untätig zu, wie Amerika das Leben von Orientalen für wohlfeil erklärte."

Kerry schloss mit den Worten: "Könnte nur ein gnädiger Gott unsere Erinnerung an diesen Dienst mit der selben Leichtigkeit auslöschen, mit der diese Regierung uns vergessen hat. Doch mit ihrem Leugnen steigert sie nur unsere Entschlossenheit, eine letzte Mission zu erfüllen: die Spuren dieses barbarischen Krieges lückenlos aufzudecken, wieder zur Ruhe zu kommen, den Hass und die Angst zu besiegen, die unser Land seit mehr als zehn Jahren antreiben, und wenn dann, in dreißig Jahren, ein kleiner Junge fragt, weshalb manchen Mitmenschen auf der Straße ein Bein, ein Arm oder ein Teil des Gesichts fehlt, dann werden wir sagen können: ‚Vietnam', und wir werden damit keine Wüste, keine schmutzige, abscheuliche Erinnerung meinen, sondern den Ort, an dem sich Amerika endlich besann und an dem Soldaten wie wir zu seinem Wandel beitrugen."

Am 30. Juni 2004 diskutierte Kerry im Rahmen einer Talkshow mit einem anderen Veteranen der Marine in Vietnam, der die Propaganda der Nixon-Regierung vertrat.

Während diesem Streitgespräch kam Kerry erneut auf die Kriegsverbrechen der USA zu sprechen: "Ich glaube nicht, dass irgendein Rückkehrer aus bloßem Jux bekennt, dass er eine Vergewaltigung beging, ein Dorf niederbrannte oder willkürlich die Ernte vernichtete. Denn er setzt sich damit der Gefahr von Strafen aus, er macht sich angreifbar und muss mit diesen seelischen Verletzungen weiterleben, er läuft Gefahr, seine Familie und seine Freunde zu verlieren. Er tut es aus der tiefen Überzeugung heraus, dass die Menschen hier von den Gräueln dieses Krieges erfahren müssen.

Wir dachten, wir seien ein moralisches Land, ja, aber nun führen wir die schlimmste Bombardierung in der Geschichte der Menschheit durch. Seit dem Amtsantritt von Präsident Nixon haben wir 2.700.000 Tonnen Bomben auf Laos geworfen. Das ist mehr, als wir während des gesamten Zweiten Weltkriegs über den Schlachtfeldern auf atlantischer und pazifischer Seite abwarfen."

In dieser Talkshow verurteilte Kerry den geheimen, illegalen Charakter des Krieges der Nixon-Regierung und prangerte seine anti-demokratischen Implikationen an: "Doch das amerikanische Volk, das in diesem Land angeblich das Sagen hat, wusste nicht Bescheid, und das amerikanische Volk durfte nicht über diesen Krieg entscheiden. Es gab einige wenige Gelegenheiten, eine Abstimmung in die Wege zu leiten. Erst dieses Jahr gab es endlich eine solche Abstimmung im Kongress, und dennoch können wir den Kongress noch nicht dazu bringen, den kleinen Leuten in unserem Land zu entsprechen."

Kerrys Opposition gegen den Krieg ging nie darüber hinaus, dass er ihn als einen schrecklichen und tragischen politischen "Fehler" bezeichnete, der berichtigt werden müsse. Obwohl ihm bereits damals einige Kritiker vorwarfen, er setze sich mit seinen Antikriegsaktivitäten auch selbst in Szene, besteht kein Grund, an der Aufrichtigkeit seiner damaligen Äußerungen zu zweifeln.

Heute vertritt er das genaue Gegenteil. Er verspricht, "Kurs zu halten" in einem himmelschreiend illegalen und verbrecherischen Krieg. Die Bedeutung dieser Kehrtwende um 180 Grad geht über die Person des heutigen Senatsabgeordneten für Massachusetts hinaus.

Erstens ist sie ein Ausdruck der Rechtsentwicklung der Demokratischen Partei und der Fäulnis des amerikanischen Liberalismus. Das "Begräbnis" von Kerrys Opposition gegen den Vietnamkrieg ist eine besonders eindringliche Illustration einer allgemeinen Tendenz: der Rechtswendung eines ganzen sozialen Milieus. Die Demokratische Partei des Jahres 2004 hat sich zu einer kriegsbegeisterten, die "nationale Sicherheit" hoch haltenden Organisation gemausert, die den "Krieg gegen den Terror", sprich das Streben des US-Imperialismus nach globaler Vorherrschaft, unbesehen übernimmt.

Mit ihrem Hinweggehen über Kerrys frühere Kriegsgegnerschaft versuchen die Demokraten zweitens stillschweigend, den Vietnamkrieg in den Augen der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Ein imperialistischer Krieg, der Millionen Einwohner Südostasiens und Zehntausende Amerikaner das Leben kostete, und den einst breite Schichten der Bevölkerung in den USA als moralische Abscheulichkeit und als Angriff auf demokratische Rechte auffassten, wird jetzt in ein respektables und ehrwürdiges Licht getaucht.

Diese Fragen sind von brennender Aktualität. Indem die Führung der Demokraten auf ihrem Parteitag ein patriotisches Fieber erzeugt und die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus in Vietnam rechtfertigt, versucht sie bewusst, jeder Kritik und Opposition gegenüber allen künftigen US-Militärinterventionen die Legitimität abzusprechen.

Diese offene Unterstützung des Militarismus verheißt nichts Gutes. Der Parteitag der Demokraten hat gezeigt, dass es im Hinblick auf grundlegende Strategiefragen keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Demokraten und den Republikanern gibt. Beide treten für eine Politik der aggressiven Eroberung und des Militarismus im Interesse einer globalen Hegemonie der USA ein. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen - ernster, aber rein taktischer Natur - drehen sich um die Durchführung dieser Politik. Die Demokraten versuchen die Nachkriegsbündnisse des US-Imperialismus zu erhalten und aufzufrischen.

Eine Regierung Kerry würden den Krieg im Irak fortsetzen und weitere Interventionen vorbereiten. Kerrys Partei steht für einen Teil der amerikanischen Plutokratie, die vor nichts zurückschrecken wird, um ihre gesellschaftliche Stellung zu verteidigen - sei es unter den Republikanern oder den Demokraten.

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